Lebensplan bezogen werden können. Aber auch andere Aussprüche verdienen unsere Aufmerksamkeit. So der: dass das Ansehen "derer Newtons und Leibnize vor nichts" zu achten sei, wenn es sich der Entdeckung der Wahrheit entgegensetze (I). Die Wissenschaft kennt kein Ansehen der Person, auch keinen beschränkten Nationalismus, dem etwa "die Ehre des Herrn von Leibniz vor die Ehre von ganz Deutschland" gilt (§ 113): obschon er sich in einein Briefe an einen Unbekannten (vom 23. August 1749) als zu seiner Schrift gerade durch die Wahrnehmung mitbestimmt bekennt, dass bezüglich des von ihm behandelten Problems "die Bemühung der Deutschen … eingeschlafen zu seyn scheint". Kein besseres Lob kann man vortrefflichen Gelehrten erteilen, als dass man auch ihre Ansichten ungescheut tadelt. Welche innere Reife, welche geistige Überlegenheit spricht ferner aus den Sätzen des 22 jährigen vom Vorurteil des großen Haufens, der nach dem Ansehen großer Leute redet und Bücher unbekannter Verfasser verurteilt, ohne sie gelesen zu haben! (III.)
Pessimistisch genug für einen Jüngling von dem Alter Kants klingt der dann folgende Ausspruch: das Vorurteil werde so lange dauern als die Eitelkeit der Menschen, d. i., es werde niemals aufhören (IV). Vor dem Richterstuhl der Wissenschaft jedoch entscheidet nicht die Zahl (III, Schluß). Darum bekennt sich der junge Gelehrte freimütig zu der "Einbildung": es sei "zuweilen nicht unnütze, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kräfte zu setzen"; denn eine solche Zuversicht gebe seinen Bemühungen einen "Schwung, der der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist". Die Möglichkeit, selbst einen Herrn von Leibniz auf Fehlern zu ertappen, reize; und ein Irrweg belehrt unter Umständen mehr als das Einhalten der "Heeresstraße" (VII). Gleichwohl ist er keineswegs eingebildet: ein Zwerg an Gelehrsamkeit kann eben in diesem oder jenem Teile der Erkenntnis einen im übrigen weit hervorragenderen Denker übertreffen (V) und ein großer Mann kann seine Aufmerksamkeit nicht deich stark nach allen Seiten richten (IX). Bei allem Freimut der Polemik zeigt er deshalb Ehrerbietung gegen seine Gegner bis zum Schluß. Und, was wichtiger ist, Selbstkritik. Er weiß wohl: "das Urteil eines Menschen gilt nirgends weniger als in seiner eigenen Sache" (XIII). Auch erklärt er sich bereit, seine Gedanken "wieder zu verwerfen, sobald ein reiferes Urteil mir die Schwäche derselben aufdecken wird" (§ 11). Man muß selbst in seine vermeintlich sicherste Überzeugung ein "weises Mißtrauen" setzen (§ 113a). Er will auch nichts von Sektenoder "Parteien"-Eifer wissen (§§ 107, 163).
So ergeben sich aus dieser Jugendschrift eine ganze Anzahl Charakterzüge, die auch dem späteren Kant eigen geblieben sind. Aber nicht bloß das. Auch seine spätere philosophische Stellung deutet sich bereits in mancherlei Keimen an. So wagt er sich schon hier an eine Kritik der zeitgenössischen Metaphysik. Er wendet sich gegen Sätze, die man "in den Hörsälen der Weltweisheit immer lehret" (§ 8) und spricht das bedeutsame Wort aus: "Unsere Metaphysik ist, wie viele andere Wissenschaften, in der Tat nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erkenntnis; Gott weiß, wenn man sie selbige wird überschreiten sehen." Das rührt daher, dass die meisten eine "große" und "weitläuftige" Weltweisheit einer gründlichen vorziehen (§ 19). Die Metaphysik muß daher aus allen ihren Schlupfwinkeln, in die sie sich immer wieder zurückzuziehen weiß, herausgejagt werden (§ 91, vgl. 109). Trotzdem rechnet er sich augenscheinlich nicht zu den reinen Empirikern, "denen alles verdächtig ist, was nur den Schein einer Metaphysik an sich hat" (§ 127). Die letzten Voraussetzungen oder, was dasselbe heißt, "die allerersten Quellen von den Wirkungen der Natur" bleiben auch nach ihm durchaus Gegenstand der Metaphysik: das hält er dem "Geschmack der itzigen Naturlehrer" entgegen. Er sucht vielmehr, ganz wie später in seiner kritischen Zeit, eine gewisse Mittelstellung zwischen den Parteien einzunehmen, die der "Logik der Wahrscheinlichkeiten" am gemäßesten sei (§ 20), und in der das Wahre von beiden Seiten zusammenfällt" (§ 163).
Gewiß bewegt er sich, wie nicht anders zu erwarten, zum Teil noch in den Geleisen der Zeitphilosophie, so z. B., wenn er meint: was einfach sei, sei schon deshalb nicht bloß schön, sondern auch der Natur gemäß, die eben stets einfach sei, nur einen einzigen Weg gehe (§ 51). Er redet auch in naturwissenschaftlichen Dingen im Geiste von Leibniz und Wolff von Gottes Allmacht, von Gottes "Absichten" und vor allem von seiner Weisheit. Aber er erkennt doch bereits, dass die bloße Berufung auf letztere oft nur eine Ausflucht – ein Grundsatz der "faulen" Vernunft, wie er später gesagt haben würde – sei, zu der man nur greift, wenn die Waffen der Mathematik versagen (§ 98). Auch das ist ein Grundzug seines späteren Kritizismus, dass er auf reinliche Scheidung der einzelnen Wissenschaftsgebiete, so der Mathematik von der Naturwissenschaft (§§ 98, 114 f., 163), der Mathematik von der Metaphysik (§§ 78, 90 u. ö.), der Naturwissenschaft und der Metaphysik dringt. Und er betont auch hier schon die Wichtigkeit der Methode. Man muß eine Methode haben, die auf der Erwägung der Grund- oder Vordersätze und ihrer Vergleichung mit den aus ihnen gezogenen Folgerungen beruht (§§ 88, 90). Er "untersteht sich zu sagen", dass "die Tyrannei der Irrtümer über den menschlichen Verstand, die zuweilen ganze Jahrhunderte hindurch gewähret hat", vornehmlich von dem Mangel einer richtigen Methode herrührt (§ 89), die den gordischen Knoten zerhaut (§91). Auf den modus cognoscendi kommt es an (§ 50): Die von ihm gefundene Methode ist ihm "die Hauptquelle dieser ganzen Abhandlung " (§ 88, 2).
Die physikalische Streitfrage selbst will Kant durch einen Kompromiß entscheiden, indem er das Leibnizsche Kräftemaß den sogenannten "lebendigen", d. i. in "freie" Bewegung übergehenden, dasjenige des Descartes den "toten" Kräften oder "unfreien" Bewegungen zuspricht. Er glaubte damit eine neue Dynamik (§§ 106, 125, 131), ja ein neues "Lehrgebäude" (§ 130) der Naturphilosophie begründet zu haben, während der berühmte d'Alembert in seinem von Kant anscheinend übersehenen Traité de dynamique schon 1743 gezeigt hatte, dass die analytische Mechanik jenen Streit als einen Wortstreit beiseite lassen könne. Aber darauf kommt es hier nicht an. Gewiß wird der junge Philosoph auch manches von dem, was er bringt, aus seines Lehrers Knutzen Vorlesungen, Schriften, Gesprächen mit ihm empfangen haben, so vor allem wohl die Anregung zu dem Thema selbst, ferner den Hinweis auf Newton (der, um einen Irrtum Kuno Fischers, G. d. n. Ph. V, 160 f., zu berichtigen, einmal mit Namen genannt wird), auch die äußere, der mathematischen Darstellung sich angleichende Form u. a. m. Allein in der Hauptsache ist Kant ganz er selbst. Das gibt ihm jenes starke Gefühl der eigenen Kraft, das wir manchmal fast überschäumen sehen, und das doch schon weiteren Kreisen aufgefallen sein muß, wenn der junge Lessing (Juli 1751) das bekannte spöttische Epigramm gegen ihn schmieden konnte:
"Kant unternimmt ein schwer Geschäfte
Der Welt zum Unterricht.
Er schätzet die lebend'gen Kräfte,
Nur seine schätzt er nicht".
das er indes schon in der ersten Ausgabe seiner "Sinngedichte" zwei Jahre später (1753) unterdrückt hat.
Abschluß der Universitätszeit
Wann Immanuel aus dem Verband der Universität auch formell ausgeschieden ist, und wann er die Vaterstadt verlassen hat, läßt sich bei dem Mangel zuverlässiger Nachrichten nicht feststellen; letzteres vermutlich nicht vor Mitte 1747, wo sein Vorgänger in Judtschen (s. folgendes Kapitel) aus seiner Stelle schied. Vorher hatte er noch den Schmerz, seinen Vater zu verHeren, der am Nachmittag des 24. März 1746 in seinem Beisein verschied, nachdem er schon lange schwerleidend gewesen: er starb, wie der Sohn im Hausbuch vermerkt, "an einer gänzlichen Entkräftung, die auf den Schlag, der ihn anderthalb Jahr vorher befiel, erfolgte". Da kein Vermögen vorhanden war, so wurde Riemermeister Kant am 30. März "still", d. h. ohne Leichenkondukt, und "arm", d. h. auf öffentliche Kosten begraben; wahrscheinlich von dem alten Wohnhause aus, denn im Kirchenbuche steht die gleiche Notiz wie beim Tode seiner Frau: Mstr. Kant aus der vord. Vorstadt. Gut muß es in dem Häuschen an der Sattlergasse in den letzten Jahren nicht mehr gegangen sein, denn die eigenhändige Bemerkung des Sohnes in dem "Hausbuch" lautet weiter: "Gott, der ihm in diesem Leben nicht viel Freude genießen lassen, lasse ihm davor die ewige Freude zu Teil werden."
So fesselte den nunmehr 23 jährigen auch der Gedanke an den etwa verlassen und krank zurückbleibenden Vater nicht mehr an Königsberg. Allzuviel Neues hatten ihm die Universitätsjahre nicht gebracht. Der einzige wirklich anregende Lehrer, Martin Knutzen, war ihm in der Hauptsache doch nur der Führer zu einem Größeren, zu Newton, gewesen. An seinem geselligen Leben ist bezeichnend, dass er sich nicht nach den anderen richtet, sondern dass bereits hier er