Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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wie sie an anderen Lehranstalten wenigstens zur Zeit der Hundstage und des Jahrmarktes je 14 Tage lang einzutreten pflegten, gab es in der strengen Pietistenschule Überhaupt nicht. Nur am Oster-, Pfingst- und Christfest-Montag und einen Tag nach der öffentlichen Prüfung wurde der Unterricht ausgesetzt; außerdem ging man bisweilen in der heißesten Zeit des Jahres mit den Schülern oder doch den Pensionären einen halben oder ganzen Tag aufs Land. Die Vorschriften über die Schulaufsicht waren streng. Jeder Lehrer mußte den Eintritt seines Nachfolgers ins Klassenzimmer abwarten. Die Pensionäre durften sich nur von 12—1, 4—5 und im Sommer nach 8 Uhr abends unter Aufsicht auf dem Schulhof "bewegen"; Turnen gab es natürlich nicht. Von 5—7 Uhr nachmittags war, selbstverständlich ebenfalls unter Aufsicht der Stubeninspizienten, Arbeitsstunde. Die Versetzungen in eine höhere Klasse fanden, nachdem zahlreiche Wiederholungen des Gelernten nicht bloß am selben und folgenden Tage, sondern auch zu Ende der Woche, des Quartals und Semesters stattgefunden hatten, jedes halbe Jahr statt; sie wurden, nach den Vorschlägen der Lehrer und eingehenden Prüfungen in den Klassen, vom Inspektor entschieden und verkündet; als besonders schwierig galt die nach U II. Vor Schluß des Semesters wurde in der Schulkirche eine zwei volle Tage dauernde öffentliche Prüfung abgehalten, zu welcher die Zöglinge tags vorher den angesehensten Männern der Stadt sowie den Gönnern und Freunden der Schule gedruckte Einladungen überbrachten; wenn Universitätsprofessoren oder Konsistorialräte kamen, so konnten sie selber Themata stellen oder Fragen an die Schüler richten. Die Prüfung der Sekundaner und Primaner fand in lateinischer Sprache statt. Am dritten Tage hielten die Abiturienten – damals dimittendi, d. i. zu Entlassende, genannt – ihre Abschiedsreden über ein moralisches oder theologisches Thema, je nachdem mit größerem oder geringerem Schwulst. Meist lateinisch; doch kamen an manchen Anstalten auch griechische, französische, ja selbst hebräische (!) Reden vor. Im Fridericianum wurden sie dann, in sauberer Reinschrift, gebunden und in der Bibliothek aufbewahrt; leider haben sie sich nicht erhalten, sonst könnten wir sicherlich auch eine des dimittendus Kant "bewundern". Daran schlossen sich Deklamationen lateinischer und deutscher Gedichte, die Abschieds- und Dankrede eines der zurückbleibenden Primaner, die Entlassungsrede des Inspektors, zuweilen noch ein Schlußwort des Direktors.

      Kants Aufrücken

      Solcher Art also war die Anstalt, die unser Philosoph von seinem 9. bis zu seinem 17. Lebensjahre besucht hat. Vielleicht infolge des persönlichen Einflusses von Schultz, war er schon im Alter von 8 Jahren, d. h. zwei Jahre früher als üblich, in die unterste Latein-, Religions-, arithmetische und kalligraphische Klasse aufgenommen worden. Nach den alten Schullisten des Fridericianums hat Immanuel Kant – die Namensform schwankt zwischen Kant, Kandt, Cant, Cante und Candt![5] – die lateinische Quinta in 1½, IV in 1, III und U II in je 1½, O II in 1, die Prima in 2 Jahren absolviert. Wir sehen, dass er jedesmal zu Anfang, infolge der in der Klasse Sitzengebliebenen, einen tieferen Platz einnimmt, dagegen im Laufe des Kursus sich stets an die Spitze emporarbeitet, um als Primus in die nächstfolgende Klasse aufzusteigen. Nur als Abiturient war er von einem gewissen Porsch überflügelt worden, vielleicht weil dieser in höherem Grade als unser Immanuel lateinische Verse "mit wunderbarer Leichtigkeit hinzugießen verstand" (Ruhnken an Kant, 10. März 1771). Griechisch hat er schon mit 10½, Hebräisch mit 11, Französisch mit 11½ Jahren begonnen. Die unteren Klassen hat er sehr rasch erledigt; dass er in Religion und Griechisch auffallend lang in der 2. Klasse blieb, lag wohl daran, dass er für die erste noch zu jugendlich war, und dass der Unterricht in beiden Fächern – hier grammatische, dort inhaltliche Behandlung des Neuen Testaments – verwandt war, zudem damals in einer Hand lag. Aus dem Gesangunterricht ist er, vermutlich seiner schwachen Stimme halber, früh ausgeschieden. Im Schönschreiben ist der Neunjährige vorübergehend einmal in eine tiefere Klasse gekommen, hat sich dann aber rasch, sogar zur 1. Klasse, wieder emporgearbeitet. Eine saubere und feine Handschrift hat er denn auch, trotz seiner ungeheueren Gelehrtentätigkeit, bis in sein Alter behalten.

      Befreundete Mitschüler

      Die leichten Erfolge, die unser Kant auf der Schule errang, verdankte er gewiß vor allem seinem Scharfsinn und seinem bis in späte Jahre fortdauernden vorzüglichen Gedächtnis, das ihn bei dem geschilderten Memorierbetrieb besonders begünstigen mußte. Dass er aber auch "fleißig im strengsten Verstande des Wortes" war, hat Borowski von Kants Mitschülern Trümmer, Cunde und Kypke bezeugt bekommen; das brachte ja schon der Geist des Elternhauses mit sich. Er braucht darum kein Duckmäuser oder Stubenhocker gewesen zu sein. Dagegen würde seine ganze spätere Art sprechen, auch wenn nicht schon einzelne Stellen seiner Schriften und Briefe darauf hinwiesen, dass er Knabenspiele wie Kreisel, Blindekuh usw. gekannt, dass er öfters am Schusterbrunnen, einem zur Zeit seiner Kindheit leeren Wasserbecken, gespielt, dass er sich, wie wir schon sahen, auf den Wiesen und an den Gräben in der Nähe des väterlichen Hauses herumgetummelt hat. Wenn er einst Borowski gestand, "in manchen Dingen" vergeßlich gewesen zu sein, so waren dies doch solche, "die den Schulfleiß nicht affizierten"; mehr ein Vorzeichen professoraler Zerstreutheit war es, wenn er einmal auf dem Schulweg seine Bücher irgendwo niedergelegt hatte und dann ohne sie in der Klasse erschien. Von seinem guten Betragen zeugt die von ihm selber seinem Schüler Jachmann erzählte Tatsache, dass er und einige Kameraden selbst einem gebrechlichen und "possierlich gestalteten" unter ihren Lehrern stets Aufmerksamkeit, Folgsamkeit und Achtung bewiesen hätten, weil sie in seinen Lektionen viel hätten lernen können. Vielleicht war es derselbe "gute" Heydenreich, der, eben als junger Hilfslehrer in das Kollegium eingetreten, Kants Lateinlehrer in Quinta und Quarta und dann wieder in den beiden letzten Jahren der Prima war, und von dem er noch später mit ganz besonderer Achtung zu sprechen pflegte: er habe durch seine Art der Erläuterung der römischen Klassiker nicht nur die Kenntnisse seiner Primaner erweitert, sondern auch für die Richtigkeit und Bestimmtheit ihrer Begriffe gesorgt.

      Wie von dem jungen Lessing sein Rektor gesagt haben soll, er gleiche einem Pferd, das doppeltes Futter verlange, so tat sich auch Immanuel Kant mit gleichstrebenden Schulkameraden zusammen, um mit ihnen privatim solche lateinischen Schriftsteller zu lesen, die ihnen innerhalb der Schulwände nicht geboten wurden. Es waren dies zwei Pommern: der um 1 Jahr ältere David Ruhncke (später Ruhnken) und der 1 Jahr jüngere Johannes Cunde, Sohn eines armen Holzwärters, der 1737 gleich in Untersekunda aufgenommen worden war, da Schiffert bald seine "herrlichen Gaben" erkannt hatte. Dies Kleeblatt also trieb – seit Ostern 1739 waren sie in der lateinischen Prima vereinigt – regelmäßige Klassiker-Lektüre, wobei Ruhnken, der Wohlhabendste unter ihnen, gute Ausgaben, einmal z. B. die kostbare Livius-Ausgabe von Drakenborg, anschaffte. Sie träumten sich schon jetzt als dereinstige Gelehrte und entwarfen Pläne literarischer Arbeiten, wobei sie sich im Stile der Zeit mit den latinisierten Namen Cantius, Cundeus und Ruhnkenius bezeichnen wollten. Nur einer von ihnen hat diesen Jugendplan wirklich durchgeführt: David Ruhnken, der ein Semester später als Kant das Fridericianum verließ, aber, unbefriedigt von seinen Königsberger Universitätslehrern, schon zwei Jahre später nach Holland ging und dann Jahrzehnte hindurch als einer der größten Philologen seiner Zeit an der Leydener Hochschule glänzte. Der andere, jener begabte Armenschüler Cunde, rieb sich allzufrüh im Schuldienst auf. Das Friedrichskollegium preßte die schwachen Körperkräfte des jungen Gelehrten "wie eine Zitrone bis auf den letzten Safttropfen aus", so dass er, 1756 als Rektor an die Stadtschule des kleinen Rastenburg gekommen, dort bereits nach wenigen Jahren dahinwelkte.

      Schulsitten

      Von sonstigen Einzelheiten aus Kants Schulleben läßt sich nichts mehr feststellen. Auch er wird als guter Schüler wohl öfters in Zopf, Kniehosen und weißen Strümpfen das untere Katheder betreten haben, in einer Zeit, wo die "Rede-Aktus" in den Lateinschulen so überhand genommen hatten, wie im 18. Jahrhundert, wo z. B. bei der Jubelfeier der Augsburger Konfession 1730 im Altstädtischen Gymnasium 21, im Kneiphöfschen 24 Schüler redeten, während 1791 – allerdings ein halbes Jahrhundert nach Kants Schulzeit – im Fridericianum mehrere Quartaner "über das Verdienst" sich verbreiteten, ja gar ein Quintaner (!) eine Abschiedsrede "Von der Nützlichkeit des Kaufmannsstandes" hielt. Auch er wird an den Leichenbegängnissen der Groß-, Kleinbürger und königlichen Offizianten (Beamten), namentlich an den von der ganzen Schule begleiteten "General-Leichen", sowie an den bei Gelegenheit der hohen Kirchenfeste üblichen "Umgängen", die mit Absingung von Psalmen und Chorälen,