den Unabhängigkeitssinn, der den bescheidenen Handwerker seinen Ältesten während der ganzen Schulzeit aus eigenen Mitteln unterhalten ließ. Der Erinnerung an die bei aller Einfachheit tüchtigen Eltern entstammt wohl auch der bürgerlich-demokratische Grundzug seines Wesens ("Vor dem braven Manne nehme ich den Hut ab"), der ihn von allem äußerlichen Vornehmtun, "Complimentieren" und Zeremonienwesen fernhielt, auch als er später in den vornehmsten Kreisen verkehrte und die äußeren Formen der feinen Gesellschaft beherrschte. Dass ihm neben solchen Vorzügen vom Elternhause her auch eine gewisse Kleinbürgerlichkeit, ein Mangel an freierem Sichgehenlassen in der äußeren Lebensführung, das wir gern an großen Männern wahrnehmen, haften geblieben ist, wollen wir damit nicht leugnen.
Zweites Kapitel.
Im Fridericianum (1732—1740)
Das Friedrichs-Kolleg
Der neue Geist, der mit Leibniz und seinen Nachfolgern in die deutsche Philosophie einzog, hat die Universitäten erst nach und nach, noch später, erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Gelehrtenschulen ergriffen. Zu der Zeit, während der Immanuel Kant zum Jüngling heranwuchs, beruhte die Gymnasialbildung des deutschen Protestantismus noch immer auf der durch Melanchthon begründeten eigentümlichen Verbindung von Christentum und klassischem Altertum: nur dass jenes völlig in kirchlicher Dogmatik, dieses in scholastisch-rhetorischem Betrieb erstarrt war, einem Betrieb, der nichts anderes als möglichste Fertigkeit im mündlichen und schriftlichen Gebrauch der lateinischen Gelehrtensprache im Auge hatte.
Eine Opposition gegen diese Verknöcherung ging (merkwürdig genug) zuerst aus einer Verbindung zweier so entgegengesetzter Strömungen wie des Pietismus und des Rationalismus hervor, verbunden freilich nur, um sich nach einiger Zeit wieder zu trennen. Beide waren sie einig im Kampf gegen die erstarrten Formeln des dürren und trockenen Verstandes und der Buchstabengläubigkeit, aus denen der Rationalismus die denkende Vernunft, der Pietismus das fromme Gefühl zu befreien strebte. Die nämliche Verbindung, die sich in Halle um 1723 schon gelöst hatte, – damals sah der fromme Francke in Wolffs Vertreibung eine Erhörung seiner Gebete um Erlösung von dieser großen "Macht der Finsternis" – wiederholt sich nun etwa ein Vierteljahrhundert später in Königsberg.
Auch hier war um die Wende des 18. Jahrhunderts das kirchlich-religiöse Leben in theologischer Dogmatik und trockenen Formeln fast erstickt. "Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft!", so dachte wohl auch der fromme Holzkämmerer Theodor Gehr (geb. 1633), als er, nach dem Vorbilde des Halleschen Waisenhauses und mit Unterstützung eines von dort verschriebenen Studiosen, am 11. August 1698 in seinem Hause auf dem Sackheim eine anfangs nur aus 4 Mädchen und 2 Knaben bestehende Privatschule eröffnete, die sich rasch hob und trotz zahlreicher, heftiger Anfeindungen der "Winkelschule" seitens der Vertreter des Bestehenden – der schon vorhandenen beiden Lateinschulen, des Konsistoriums und der Landstände – am 4. März 1701 von dem neugekrönten König Friedrich I. die Bestätigung als "Königliche Schule auf dem Sackheim" erhielt. Noch vor dem frühen Tode ihres Gründers (1705) hatte die neue Anstalt das Glück, in dem 35 jährigen Dr. theol. Heinrich Lysius aus Flensburg einen ebenso tatkräftigen wie wissenschaftlich tüchtigen Leiter zu bekommen, der allen Anfeindungen der Gegner und allen finanziellen Schwierigkeiten zum Trotz das Collegium Fridericianum, wie es seit 1703 hieß, in die Höhe zu bringen wußte und es, als er sich 1729, zwei Jahre vor seinem Tode, ins Privatleben zurückzog, seinem Nachfolger in blühendem Zustand hinterließ; das Porträt des energisch dreinschauenden Mannes hängt noch heute im Konferenzzimmer des Friedrichskollegs.
F. A. Schultz
Nach vierjähriger Leitung durch den früh verstorbenen Rogall (geb. 1701), unter dem zu der Latein- noch eine "Deutsche Schule" für künftige Kaufleute und Handwerker und mehrere Armenschulen hinzukamen, wurde im Jahre 1733 der schon von uns genannte Franz Albert (Albrecht) Schultz an die Spitze der Anstalt berufen. Schultz, 1692 in Pommern geboren, hatte während seiner Studienzeit in Halle neben dem Francke-Spenerschen Pietismus auch die Wolffsche Philosophie in sich aufgenommen. Mehr praktisch als theoretisch veranlagt, hatte er 1724 eine Feldpredigerstelle bei einem Reiterregiment zu Frankfurt a. O. angenommen und es als solcher durch die von ihm eingeführten Erbauungs- und Katechisationsstunden dahin gebracht, dass seine Reiter nicht bloß mit Waffen und Pferden, sondern auch in Bibel, Gesangbuch und Katechismus Bescheid wußten! Seitdem stand er bei dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. in höchster Gunst. Der ernannte ihn 1731 zum Konsistorialrat, Theologieprofessor und Pfarrer in Königsberg und übertrug ihm nach Rogalls Tode – und zwar über den Kopf der preußischen Regierung hinweg – auch noch die Leitung des Friedrichskollegs. Schlicht und unscheinbar in seiner äußeren Erscheinung, nach außen ruhigen Wesens, in seinen Predigten mehr durch Klarheit als den bei anderen beliebten rednerischen Aufputz wirkend, war er doch voll inneren Feuers und leidenschaftlicher Tatkraft: eine "geheime Cholera" bildete nach dem Zeugnis eines Zeitgenossen den Grundzug seines Temperaments. An der Universität war er bald nicht bloß die maßgebende Persönlichkeit der theologischen Fakultät, sondern bis gegen. 1750 ihr einflußreichster Lehrer überhaupt. Sein Lehrer Wolff soll von ihm gesagt haben: "Hat mich je jemand verstanden, so ist's Schultz in Königsberg," und sein Zuhörer Hippel wollte von seinen dogmatischen Vorlesungen den Eindruck gewonnen haben, "als hätten Christus und die Apostel sämtlich in Halle unter Wolff studiert." Auch seine Wirksamkeit auf dem Gebiete der Schulverwaltung war weitreichend: er ist der geistige Urheber aller im letzten Jahrzehnt Friedrich Wühelms I. ergangenen Reformerlasse in Kirchen- und Schulangelegenheiten für das "Königreich Preußen", d. h. die Provinz Ostpreußen, gewesen, zu deren Generalinspektor er dann auch 1737 ernannt wurde.
Diesen Mann mußten wir genauer kennenlernen, weil er der Anstalt, in der Immanuel Kant 8 Jahre seiner Jugendzeit verbrachte, auf lange Zeit das geistige Gepräge verliehen hat. Für die engere Leitung freilich hatte er sich, bei seiner weitverzweigten sonstigen Tätigkeit, bereits Ende 1734 einen "Adjunkten" in der Person des seit Ostern 1732 als Inspektor an der Anstalt wirkenden Christoph Schiffert (1689—1765) erbeten und erhalten, der nicht weniger als 33 Jahre seine Kraft ungeteilt dem Friedrichskollegiuni und den damit verbundenen Schulen gewidmet hat. Von ihm stammt denn auch die 1742 erschienene "Zuverlässige Nachricht von den jetzigen Anstalten des Kollegii Fridericiani", die ein anschauliches Bild von deren innerem und äußerem Betrieb entwirft.
Die einzelnen Unterrichtsfächer.
Der Stundenplan
Als Immanuel Kant im Sommer 1732 in die Lateinschule des Kollegiums eintrat, zählte dieselbe 187, die "deutsche" 292 Schüler; 36 Zöglinge, später mehr – 1734 z. B. 56 – wohnten im Anstaltsgebäude, einem einfachen Bau an der Landhofmeisterstraße, einer Seitenstraße der "Neuen Sorge".[4] Auch ein Teil der 26 an der Anstalt unterrichtenden Lehrer hatte dort seine Wohnung. Jeder Schüler bekam zu Anfang des Schulhalbjahres seinen Stundenplan, der ihm für jedes Fach die ihm zukommende Klasse zuwies. Der kleine Immanuel z. B. wurde nach Ostern 1732 in die 5. lateinische und 5. Religions-, in die 3. arithmetische und 3. kalligraphische Klasse aufgenommen. Ostern 1735 befand er sich in der 3. lateinischen und 2. arithmetischen und kam in die 2. theologische, 3. hebräische und 3. griechische Klasse. Der Unterricht begann jeden Morgen um 7 und dauerte bis 11, nachmittags von 1—4 Uhr. Die Mittwoch- und Samstag-Nachmittage wurden für den "Privatunterricht" in den nicht obligatorischen Fächern: Französisch, Mathematik (!), Musik, Polnisch u. a. freigehalten. Die erste Vormittagsstunde gehörte an fünf, in den obersten Klassen an vier Tagen der "Theologie", d. h. dem Religionsunterricht. Dann folgten täglich von 8 bis 10 zwei Lateinstunden. Auch die letzte Vormittagsstunde diente in der untersten Klasse der lateinischen Grammatik, während von IV bzw. III aufwärts an drei, später fünf Tagen Griechisch getrieben wurde. Nachmittags 1 Uhr begann für die unteren Klassen der Unterricht mit dem weniger kopfanstrengenden Schönschreiben (Kalligraphie) nebst den damit verbundenen orthographischen Übungen, für die oberen mit Geographie bzw. – Philosophie! Von 2 bis 3 lernten die Kleineren Rechnen, die Größeren Hebräisch. Den Schluß machte von 3 bis 4 Uhr wiederum eine – Lateinstunde.
In welcher Art gestaltete sich nun der Unterricht in den einzelnen Fächern?
Religion, Hebräisch, Griechisch
Der Religionsunterricht