Eltern
Ist uns auch nicht viel über die Eltern unseres Philosophen überliefert, so genügt das Wenige doch, uns ein einigermaßen zuverlässiges Bild von ihnen zu geben. Es war ein ähnliches Verhältnis wie bei den Eltern Herders und Schillers: der Vater ein braver, ehrenfester, streng rechtlich denkender Handwerker, der auch von seinen Kindern vor allem Fleiß, Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit verlangte; die Mutter, vielleicht infolge des süddeutschen Einschlags in ihrem Blute, eine weichere Natur. Sie führte ihr "Manelchen" oft ins Freie, machte ihn auf die Gegenstände und Erscheinungen der Natur aufmerksam, lehrte ihn nützliche Kräuter kennen und erzählte ihm von dem Bau des Himmels, soviel sie davon wußte. Sie war, wie er selbst gegenüber Wasianski, dem Pfleger seiner letzten Jahre, äußerte, "eine Frau von großem, natürlichem Verstande, einem edlen Herzen und einer echten, durchaus nicht schwärmerischen Religiosität"; daneben hatte sie auch ihre Bildung nicht vernachlässigt und schrieb orthographischer als die meisten vornehmen Frauen ihrer Zeit. So oft er von ihr sprach, war er gerührt und glänzten seine Augen.[3] Und die Erinnerung an sie ließ ihn noch in seinen 60 er Jahren gegen seinen Zuhörer und späteren Biographen R. B. Jachmann äußern: "Ich werde meine Mutter nie vergessen, denn sie pflanzte und nährte den ersten Keim des Guten in mir, sie öffnete mein Herz den Eindrücken der Natur; sie weckte und erweiterte meine Begriffe, und ihre Lehren haben einen immerwährenden, heilsamen Einfluß auf mein Leben gehabt." Um so wehmütiger empfand er es, dass er schon als Dreizehnjähriger sie verloren hatte. Körperlich wie seelisch eine zarte Frau, von der er die eigene Konstitution "bis auf die eingebogene Brust", wie auch die Gesichtszüge geerbt zu haben meinte, starb sie, erst vierzig Jahre alt, am 18. Dezember 1737. Wie der Vater im Familienbuch vermerkt, an einem "hitzigen und giftigen Flußfieber"; nach des Sohnes eigener Erzählung gegenüber Wasianski hätte sie geglaubt, sich an dem Bett einer am typhösen Fieber erkrankten vertrauten Freundin angesteckt zu haben; die Krankheit habe sich durch ihre Einbildungskraft erhöht, und nach kurzer Zeit sei sie gestorben.
Zwischen den beiden Gatten herrschte die ganze Zeit ihrer Ehe hindurch das innigste Verhältnis, die größte Eintracht, auch in Beziehung auf die Erziehung der Kinder, denen sie selber in sittlicher Hinsicht das beste Vorbild gaben. "Nie, auch nicht ein einziges Mal", äußerte Kant wiederholt zu seinem Biographen Borowski, "hab' ich von meinen Eltern irgend etwas Unanständiges anhören dürfen, nie etwas Unwürdiges gesehen". Und in dem Entwurf zu jenem Briefe an Bischof Lindblom (S. 15 Anm.) rühmte noch der Greis, dass "meine beiden Eltern (aus dem Handwerksstande) in Rechtschaffenheit, sittlicher Anständigkeit und Ordnung musterhaft, ohne ein Vermögen (aber doch auch keine Schulden) zu hinterlassen, mir eine Erziehung gegeben haben, die, von der moralischen Seite betrachtet, gar nicht besser seyn konnte, und für welche ich bei jedesmaliger Erinnerung an dieselbe mich mit dem dankbarsten Gefühle gerührt finde." Beide Eltern gehörten – den Anstoß gab wohl Frau Regina – zu der damals in Königsberg sehr verbreiteten pietistischen Richtung. Sie war jedoch bei ihnen nichts äußerlich Angewehtes, sondern gab ihrem ganzen Tun und Lassen das Gepräge. Das beste Zeugnis gibt auch hier der in religiöser Hinsicht später so anders denkende Sohn, der noch in seinem Alter einst zu seinem Amtsgenossen Rink meinte: "Man sage dem Pietismus nach, was man will. Genug! Die Leute, denen er ein Ernst war, zeichneten sich auf eine ehrwürdige Weise aus. Sie besaßen das Höchste, was der Mensch besitzen kann, jene Ruhe, jene Heiterkeit, jenen inneren Frieden, der durch keine Leidenschaft beunruhigt wurde. Keine Not, keine Verfolgung setzte sie in Mißmut, keine Streitigkeit war vermögend, sie zum Zorn und zu Feindschaft zu reizen."
Einfach genug wird es in dem elterlichen Hause hergegangen sein, das wir uns – wie die meisten Häuser der kleinen Leute in der Vorstadt – einstöckig, vielleicht auch mit aufgesetzter Dachstube, ohne Unterbau, den Flur gleich verbunden mit der nicht besonders abgeschlagenen Küche, links oder rechts eine große Stube, daneben die Schlaf kammern, zu denken haben. Einen Gesellen oder Lehrling mag Meister Kant zeitweise beschäftigt haben; mehrere schwerlich. Gab es doch noch im Jahre 1787 im Königsberger Riemergewerbe neben 13 "Herren und Meistern" nur 14 Gesellen und 9 "Lehrbursche". Und dass das Geschäft von Kants Vater schon in den 30er Jahren nicht sehr geblüht haben muß, geht aus der Tatsache hervor, dass er seine gehebte Frau 1737 "still", d. h. ohne die übliche Leichenbegleitung durch singende Schulkinder, und "arm", d. h. auf Armenkosten beerdigen lassen mußte. Die Gewerke der Riemer und Sattler waren damals noch getrennt, und jedes hielt eifersüchtig auf seine Gerechtsame; darunter hatte, bei ausgebrochenen Differenzen, auch Meister Kant erheblich zu leiden. "Dessenungeachtet wurde selbst bei der häuslichen Unterhaltung dieser Zwist mit solcher Schonung und Liebe in betreff der Gegner von meinen Eltern behandelt und mit einem solchen festen Vertrauen auf die Vorsehung, dass der Gedanke daran, obwohl ich damals ein Knabe war, mich dennoch nie verlassen wird" (Kant zu Rink).
Kinderzeit
Von der Knabenzeit im Elternhause wissen wir sonst kaum etwas, da der Philosoph später nur sehr selten davon zu erzählen pflegte. Die Sattlergasse führte, zwischen Getreidespeichern der Großhändler hindurch, nach der "Insel Venedig", einem auf allen Seiten mit Gräben umgebenen viereckigen Platze. Hier und auf den "Holzwiesen" am Pregel mag Immanuel als Knabe oft gespielt haben. Eine von den wenigen Überlieferungen aus seiner Kinderzeit bezieht sich auf die Geistesgegenwart, mit der er sich, als er einst einen solchen Graben auf einem ins Rollen geratenen Baumstamm überschreiten wollte und ins Wasser zu fallen drohte, dadurch rettete, dass er einen Gegenstand jenseits des Grabens fest ins Auge faßte und dann gerade darauf los lief. An seinen fünf Geschwistern (zwei weitere starben früh, noch ehe sie das erste Lebensjahr vollendet hatten) wird er wohl kaum Gespielen gehabt haben. Denn die älteste Schwester Regina war fünf Jahre älter, während die drei ihm folgenden Maria Elisabeth, Anna Luise und Barbara drei, bzw. sechs und siebeneinhalb Jahre jünger als er waren. Sein einziger Bruder Johann Heinrich aber erblickte das Licht der Welt erst, als Immanuel bereits im zwölften Lebensjahre stand.
Die erste Schule, die der "kleine Immanuel besuchte, war die in der Hinteren Vorstadt, etwa sieben Minuten von seinem Elternhause gelegene Elementarschule beim St. Georgen-Hospital, einem schon 1329 von den Altstädtern gegründeten Stift für alte Leute, die sich darin einkaufen mußten. Sie hatte nur einen Lehrer, zugleich Kantor und Organist an der noch aus vorrefor-matorischer Zeit stammenden Kirche, der die Kinder im Lesen, Schreiben, etwas Rechnen und "Christentum" unterrichtete; Schulgeld wurde indes auch hier, ausgenommen von den Alier-ärmsten, entrichtet. Wer weiß, wie lange Immanuel diese Schule besucht haben würde, hätte nicht ein besonderer Umstand eine glückliche Wendung herbeigeführt.
Seine Mutter besuchte als fromme Christin mit ihren älteren Kindern oft die Bet- und Bibelstunden des Doktors der Theologie Franz Albert Schultz, welcher der Sache des Pietismus einen gewaltigen Aufschwung gegeben hatte, seitdem er 1731 als Konsistorialrat und Pfarrer an die Altstädtische Kirche in Königsberg gekommen war. Dieser für die Entwicklung des religiösen und geistigen Lebens in ganz Ostpreußen bedeutsame Mann, von dem wir bald noch mehr hören werden, wurde auf seine eifrige Zuhörerin aufmerksam, besuchte öfters das Handwerkerhaus in der Sattlergasse und lernte so auch den aufgeweckten kleinen Immanuel kennen. Er redete den Eltern zu, ihn studieren zu lassen und zu dem Zweck in das erst vor wenigen Jahrzehnten begründete Gymnasium Fridericianum zu schicken, dessen Leitung er (Schultz) selbst demnächst übernehmen sollte. Der Mutter ward damit gewiß ein Lieblingswunsch erfüllt, aber auch der Vater war gern bereit, dem begabten Sohne eine bessere Ausbildung zu geben, als er selbst sie genossen hatte. So trat bald nach Ostern 1732 der achtjährige Knabe in das heute noch als "Friedrichskollegium" bestehende Collegium Fridericianum seiner Vaterstadt als Schüler ein.
Einfluß des Elternhauses
Fragen wir, ehe wir ihn in diesen neuen Lebensabschnitt begleiten, nach dem Anteil der Eltern an des Sohnes Eigenart, so müssen wir uns sicherlich hüten, zu viel Vererbtes anzunehmen. Zunächst ist natürlich alles abzuziehen, was seine philosophischen Anlagen betrifft. Dagegen verdankt er dem Elternhaus, nach Blut und Erziehung, doch offenbar eine ganze Reihe höchst wertvoller persönlicher Eigenschaften: die strenge Rechtlichkeit, die ihn unter anderem auch, selbst während der Zeiten größter Dürftigkeit, vor Schuldenmachen bewahrte, die Gewissenhaftigkeit in der Arbeit, die unbedingte Wahrhaftigkeit, die Einfachheit und Regelmäßigkeit der Lebensweise,