Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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gesagt, ist dies die einzige Stelle des Lehrplans, wo einmal von "Naturlehre" die Rede ist. Erst nach Kants Schulzeit wurde eine besondere "physikalische" Klasse eingerichtet. Doch war schon 1718 auf dem Dache des Schulgebäudes ein kleiner (freilich 1765 schon ganz baufällig gewordener) hölzerner Turm als "Observatorium" angebracht, das erste seiner Art in Königsberg.

      Die Anfänge des realen Elements im Unterricht sind überhaupt erst der pietistischen Richtung zu verdanken. So hatte Gehr (S. 23) zuerst in Königsberg Erdkunde und Geschichte als Lehrgegenstände eingeführt. In der Geographie gab es eine "Vorbereitungsklasse", in die Kant als Quartaner mit zehn Jahren, und eine "ordentliche", in die er 2½ Jahre später als Sekundaner eintrat; in Prima wurde dann anscheinend in der Geschichtsstunde das Ganze noch einmal wiederholt. Das für die Anstalt geltende Lehrbuch zeigt uns, worauf Wert gelegt wurde. Am eingehendsten ist die heimatliche Provinz behandelt. Die politische Geographie überwiegt durchaus, es werden zahlreiche Städtenamen, aber kein übersichtliches Bild eines Landes gegeben. Die Flüsse erfahren eine äußerst stiefmütterliche Behandlung; Gebirge werden außer den Alpen und dem Jura überhaupt nicht genannt. Die außereuropäischen Erdteile werden nur ganz oberflächlich beschrieben. Begreiflich genug, dass Kant später als Dozent eine so minderwertige gymnasiale Ausbildung durch seine geographischen Vorlesungen zu ergänzen suchte. Selbst der erdkundliche Lehrstoff wurde übrigens im Friedrichskollegium zum Lateinsprechen benutzt! Anzuerkennen dagegen ist, dass die Lehrpläne Veranschaulichung des Gelesenen oder Gehörten durch die Wandkarte, ja auch gelegentliche eigene Kartenzeichnungen der Schüler empfehlen. Auch die Hauptlehren der mathematischen Geographie werden nicht vergessen.

      Geschichte, Mathematik, Französisch

      Der Geschichtsunterricht begann erst in Sekunda, da man vorher – an sich ja ein ganz gesunder Gedanke – erst in der Geographie "etwas gelernt" haben sollte. In jeder der beiden Klassen nahm man aber – auf der Sekunda in einem, auf Prima in 1½ Jahren – die ganze "Universalhistorie" durch. Und das wollte etwas heißen bei einem Lehrbuch von 865 Seiten allein für den Oberkurs! Die gesamte Weltgeschichte war eingeteilt in diejenige – des Alten und des Neuen Testaments, zwischen denen Christi Geburt die Grenze bildete, und zerfiel in 5 Abschnitte: 1. biblische Regenten- und römische Kaiserhistorie, 2. politische Völkerhistorie, im wesentlichen eine Aufzählung der übrigen geschichtlichen Reiche und ihrer Herrscher, 3. Kirchenhistorie, 4. Gelehrtenhistorie und 5. chronologische Wiederholung. Und das nannte man Weltgeschichte! Ob unter solchen Umständen der Vortrag des Lehrers, wie es gewünscht wurde, dem öden systematischen Gerippe Fleisch und Blut geben konnte?

      Was die Mathematik betrifft, so war obligatorisch nur der in vier Nachmittags-Wochenstunden erteilte Unterricht im Rechnen, der bis zur Regeldetri und Bruchrechnung einschließlich führte und von Befähigteren wie Kant 3 bis 4 Jahre lang besucht zu werden pflegte. Dann hörte der offizielle Mathematikunterricht auf. Dagegen war für die Weiterstrebenden – zuerst 1732/33 von Schiffert – ein Mittwoch- und Samstag-Nachmittag von 1 bis 3 gegebener privater Unterricht in der "Mathesis" eingerichtet worden, in der nach Christian Wolffs "Auszug aus den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaft" die Elemente der Geometrie und Trigonometrie von – Theologiestudenten ihren unglücklichen Opfern beigebracht wurden.

      Für das ebenfalls dem Privatunterricht der beiden sonst schulfreien Nachmittage überlassene Französisch bestanden zu Kants Zeit drei Klassen, in denen die Schüler dahin gebracht werden sollten, "einen französischen Autorem ziemlich exponieren (d. i. übersetzen) zu können". Indes sind uns gerade über die Unterrichtsweise während Kants Schulzeit keine näheren Mitteilungen erhalten. – Ebensowenig über den in zwei Abteilungen erteilten und von dem kleinen Immanuel nur drei Jahre lang mitgemachten Gesangunterricht. Daneben sorgte die Anstalt auf Wunsch – in erster Linie doch wohl für die Internen – für Unterweisung in Klavier- und Flötenspiel. Polnisch und Litauisch wurden nur gegeben, wenn genügende Anmeldungen erfolgten und geeignete Lehrer aufzutreiben waren. Kant hat daran, soviel bekannt, nicht teilgenommen.

      Der pietistische Charakter

      Den Mittelpunkt des Unterrichts, um den sich die übrigen Fächer nur lose herumgruppierten, bildeten also durchaus das Lateinische und die Religion; neben ihnen bedeuteten die Muttersprache, das Französische, Mathematik und Naturwissenschaft nichts oder so gut wie nichts. Das aber, was das Fridericianum von den anderen Lateinschulen der Stadt – dem Altstädtischen und dem Kneiphöfsehen oder Domgymnasium – unterschied, war der pietistische Charakter, der das ganze Leben der Anstalt beseelte. Bestand doch deren Zweck ausgesprochenermaßen darin, dass "einesteils die Untergebenen aus ihrem geistlichen Verderben errettet und das rechtschaffene Christentum ihren Herzen von Jugend auf eingepflanzt, andernteils aber auch ihr zeitliches Wohlsein befördert werden möge". Und lautete doch die grundlegende Bestimmung der Schulgesetze: "Wer die Zeit seiner Jugend wohl anwenden und den Grund seines Glückes auf Erden in der Schule legen will, muß zuvörderst bei allen seinen Handlungen das Andenken an Gott, der überall gegenwärtig ist und vor dem allein ein rechtschaffenes Herz gilt, zu erwecken und zu unterhalten suchen." Deshalb begann und schloß auch, abgesehen von der halbstündigen Frühandacht der in der Anstalt selbst wohnenden Zöglinge, jede Stunde mit einem "erwecklichen und kurtzen" Gebet. Dazu kamen allwöchentlich außer zwei weiteren Erbauungs- und Betstunden für die Pensionäre, noch an einem besonders festzusetzenden Tage vorgenommene Katechisationen durch den Direktor und die regelmäßige einstündige Samstags-Andacht, in der außer Gebet und Gesang eine Ermahnung des Inspektors "sowohl was die Studien als gute Ordnung anlanget, als was sonst nötig ist und die Woche über bemerkt worden", erfolgte, die übrige Zeit aber "zur Erweckung gegen den Sonntag angewandt wird". Dieser Sonntag war natürlich erst recht dem Heile der Seele geweiht. Da wurde von 8—9 in der Schulkirche katechisiert, die Vormittags- wie die Nachmittagspredigt angehört und der Inhalt beider sofort abgefragt. Zum Überfluß fand abends eine nochmalige "Wiederholung" beider Predigten statt, wobei man "auf den Seelenzustand der Jugend sieht, die gehörte Wahrheiten auf sie deutet und ihr Hebreich andringt". Zu diesem regelmäßigen Andachtsbetrieb kamen noch die außerordentlichen religiösen Übungen, wie die bereits vier Wochen vorher beginnenden "Vorbereitungen" auf den Genuß des hl. Abendmahls, mit schriftlichen Gebeten (eins ist noch in den Akten erhalten) und Berichten der Schüler über ihren Seelenzustand und mit ihren besonderen Ermahnungs-, Selbstprüfungs- und "Erweckungs"-Stunden. Kein Wunder, dass das Fridericianum im Volksmunde einfach die "Pietisten"-Schule hieß, kein Wunder auch, dass selbständigeren Naturen wie Kant durch solche Überfütterung auch die an sich durchaus berechtigte Gefühlsseite der Religion vollständig verleidet wurde.

      Lehrer, Schulzucht, Prüfungen

      Ein weiterer Übelstand war, dass die etwa 30 Lehrer der Anstalt fast durchweg Studierende oder Kandidaten der Theologie vom fünften Semester ab, zum größeren Teil frühere Zöglinge der Schule, waren. Bei so großer Zahl wurde der einzelne zwar nicht mit Unterrichtsstunden überlastet – die Älteren erteilten bis zu vier, die Jüngeren 1 bis 3 Stunden täglich —, aber die Entlohnung war auch kärglich. Sie betrug bloß 10 Taler jährlich für jede Wochenstunde, weitere Zulagen waren von der Zahl der Schüler abhängig. Die meisten hatten freilich freie Wohnung und Kost im Collegium, mußten aber dafür auch dessen Pensionäre beaufsichtigen, und ein eigenes Zimmer besaß nur der erste Lateinlehrer. Der Hauptnachteil war doch, dass den jungen Leuten, wenn sie so früh – Kants Freund Cunde z. B. im Alter von 18 bis 19 Jahren – ihre Tätigkeit begannen, jede Lebens- und Unterrichtserfahrung fehlte. Daran konnten schließlich auch die Anweisungen, Ratschläge und Wochenkonferenzen, die der erste Inspektor mit ihnen abhielt, wenig ändern. Und so vermochten denn viele, auch wenn sie älter geworden, trotz aller Anläufe zur Strenge, keine Disziplin zu halten. Im allgemeinen erscheint das von Schiffert in seiner "Nachricht" empfohlene Verfahren für die damalige Zeit verständig und milde. Schimpfwörter, sogar die Anrede mit "Du", waren verpönt. Mit väterlichen Ermahnungen sollte der Präzeptor zunächst auszukommen suchen; falls diese nichts fruchteten, sollte er seinen Unterricht nicht lange durch die Strafvollziehung unterbrechen, sondern die Sache dem Inspektor melden, der ihnen dann die Strafe – körperliche nur bei Bosheit oder offenbarer Faulheit – zu diktieren werde; helfe auch das nicht, so müsse man den Eltern die Entfernung aus der Schule empfehlen, "maßen