Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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fünf Wochenstunden der drei unteren Kurse war der biblischen Geschichte gewidmet, die vier übrigen dienten dem Auswendiglernen des Lutherschen Katechismus und der zugehörigen Bibelsprüche. Höchstens darin machte sich der pietistische Geist geltend, dass die Lehrer überall, besonders auf den späteren Stufen, zeigen sollten, "wie alles ins Gebet zu bringen und zum Christlichen Leben und Wandel anzuwenden sey". In Tertia schloß der Unterricht für die von hier aus ins bürgerliche Leben Tretenden mit einer eingehenden Behandlung der "Heilsordnung" ab, während die übrigen auf den etwas mehr systematischen Lehrgang der beiden obersten Klassen vorbereitet wurden. Dort wurden die dogmatischen Sätze des Lehrbuchs erörtert und mit Bibelstellen "bewiesen", die, wenigstens von den künftigen Theologen, im hebräischen bzw. griechischen Urtext zu lernen waren. Danebenher ging eine genauere Einführung in die biblischen Schriften, ihre Entstehungszeit, ihren Hauptinhalt und ihre Grundlehren, unter Hervorhebung der schwierigsten Stellen. In II wurde das Neue, in I das Alte Testament behandelt; im letzteren besonders die messianischen Prophezeiungen aufgesucht.

      Dem Religionsunterricht diente natürlich auch das Hebräische, dem in der dritten Klasse zwei, in den beiden oberen gar vier Wochenstunden gehörten. In Tertia wurden, neben der grammatischen Einführung, einige Kapitel des ersten Buches Mose Wort für Wort erklärt, in II kam der Rest des Buches hinzu, in I die übrigen Bücher Mose, abgesehen von einigen schwierigen Kapiteln, ferner die anderen historischen Schriften des Alten Testaments, sowie die Psalmen. Einzelne Jahrgänge sollen sogar das ganze Alte Testament durchübersetzt haben.

      Aber nicht bloß das Hebräische stand im Dienste der Theologie, sondern auch – das Griechische, das auf drei (vorübergehend auch vier) Klassen in je drei bis fünf Wochenstunden gelehrt wurde. Der grammatische Stoff war nicht wesentlich anders als heute verteilt, dagegen diente als Lektüre fast ausschließlich das Neue Testament, dessen reines Griechisch wegen der Inspirationslehre als Glaubenssache galt. In Tertia wurden zur Einübung der Formenlehre – mehrere Kapitel des Johannes-Evangeliums Wort für Wort erklärt! In Sekunda las man Matthäus, Markus und einige paulinische Briefe, in Prima den Rest, der ins – Lateinische übersetzt wurde. Erst kurz vor der Entlassung wurde, falls die Zeit noch reichte, mit den Vorgeschritteneren etwas aus Gesners Chrestomathie gelesen. Von den großen Rednern, Geschichtsschreibern und Philosophen, einem Plato, Thukydides, Demosthenes, ja selbst von Homer bekamen diese bedauernswürdigen Primaner, natürlich auch in den übrigen Königsberger Gymnasien, keine Ahnung. Das hat denn auch unserem Philosophen sein Leben lang nachgehangen. In allen seinen Schriften und Briefen begegnet man keinem griechischen Satze im Urtext.

      Latein, Deutsch

      Das Rückgrat des gesamten Unterrichts aber bildete das Latein mit seinen 16—20 Wochenstunden. Den Anfang der Stunde bildete auf allen Stufen das Einprägen bzw. das Abhören von Vokabeln, später Phrasen. Die Lektüre war bloßes Mittel, anstatt Zweck, des Sprachunterrichts. Jeder Satz der in Tertia mit Cornelius Nepos beginnenden Lektüre wurde Wort für Wort grammatisch erklärt, umgewandelt, erst zuletzt ins Deutsche übersetzt, nach Beendigung jedes Kapitels der Inhalt ausführlich lateinisch wiedergegeben. Erst in Untersekunda wurde der heute mit Recht zum alten Eisen geworfene Nepos zu Ende gelesen und das "Leichteste und Nützlichste" aus Ciceros Briefen begonnen. In "Groß"-, d. i. Obersekunda kam zu den letzteren Cäsar hinzu, der übrigens später zugunsten eines – Neulateiners (Muret) verschwand. In Prima bildete der letztere neben Ciceros Reden und dem anekdotenhaften Historiker Curtius den Hauptgegenständ; nur vereinzelt kam es auch zur Lektüre einiger philosophischer Schriften Ciceros. Nichts von Livius, nichts von Tacitus. Welch dürftiges Gesamtergebnis bei so gewaltigem äußeren Apparat!

      Desto mehr wurde von der untersten Stufe an auf Rede fertigkeit in der lateinischen Sprache gesehen, lateinische Gespräche auswendig gelernt, später an den Unterrichtsstoff angeschlossen. In Obersekunda und Prima sollten die Schüler überhaupt, untereinander wie mit den Lehrern, nur lateinisch sprechen! Daneben das ganze Brimborium von gelehrten Kunstausdrücken, Tropen und Figuren, Chrien usw. Man begreift Kants spätere Abneigung gegen alle Rhetorik, wenn man liest, wieviel Zeit und Mühe diese armen Schülerseelen auf solches Phrasengeklingel von sogenannten Reden verwenden mußten, die teils nur schriftlich ausgearbeitet, teils auch wirklich gehalten wurden. Galt doch ein von den Primanern nach einem selbstentworfenen Programm veranstalteter Actus oratorius als Ziel und Gipfelpunkt des auf der Schule Erreichbaren, wie für das auswärtige Publikum der feierliche Aktus der ganzen Anstalt (s. weiter unten). Schriftliche Exerzitien und Extemporalien, wie heute, wurden auch geschrieben, jedoch nicht im Übermaß; in den oberen Klassen häufig in Briefform.

      Als interessanterer Teil des Lateinunterrichts erscheint auf den ersten Blick die poetische Stunde, in besonderen "poetischen Klassen" von Tertia aufwärts gehalten. Zunächst wurde Metrik gelernt und praktisch eingeübt. Stoff genug bot die umfangreiche Sammlung von Freyers poetischem Lesebuch, das von Anfang bis zu Ende durchgearbeitet ward. Neben Stücken aus den Dichtern, die noch heute von unseren Gymnasiasten gelesen werden (Ovid, Vergil, Horaz) standen auch solche von Catull, Tibull, Martial, Juvenal und Seneka, daneben auch von Vertretern der spätlateinischen und der neuzeitlichen Schulpoesie. Das, worauf es ankam, war aber auch hier nicht der Inhalt, sondern die äußere Form. Die Versmacherei wurde geradezu systematisch betrieben, über ein gegebenes Thema par ordre de Mufti Verse gemacht, anfangs in der Klasse, später auch als Hausarbeit. Bei den Unbegabten mußte wohl auch der Stock nachhelfen. Die Begabtesten kamen bis zur Verfertigung lateinischer Oden in sapphischem oder alkäischem Maß. Kein Wunder, wenn Kant in seinen populären Vorlesungen und Reflexionen gelegentlich auch diese Versmacherei ebenso wie die Lernerei der "phrases" brandmarkt.

      Das einzige Reale in all diesem Formen- und Formelkram des lateinischen Unterrichts boten die Belehrungen über römische Altertümer, die in Unter- und Obersekunda, aber nur in einer halben oder ganzen Stunde des Sonnabend-Vormittags, gegeben wurden.

      Von besonderem deutschen Unterricht ist neben alledem kaum die Rede. Übungen in der deutschen Rechtschreibung und Interpunktion wurden, wie schon erwähnt, mit der Unterweisung in der "Kalligraphie" oder "netten Schreibart" verbunden. Im übrigen wurde die deutsche Sprache eben mit und an der lateinischen gelernt. Doch scheint wenigstens die Unterrichtssprache vorherrschend die deutsche gewesen zu sein; wie es denn auch für die damalige Zeit schon einen Fortschritt darstellt, dass die aus den Francke-Spenerschen Anstalten in Halle übernommene lateinische Grammatik von Joachim Lange in deutscher Sprache abgefaßt war. Außerdem hören wir von einzelnen deutschen "Brief- oder periodologischen" Stunden auf den mittleren Klassen, während in Obersekunda und Prima deutsche Briefe mit lateinischen als häusliche Arbeiten wöchentlich abwechselten, übrigens muß auch die deutsche Versmacherei geblüht haben, wenn uns auch über das Fridericianum speziell keine genaueren Nachrichten bekannt sind. Denn wie viele Gelegenheiten gab es, den lateinischen und den deutschen Pegasus zu besteigen! "Da waren", wie Möller, der Historiker des Königsberger Altstädtischen Gymnasiums, schreibt, "zuvörderst die unaufhörlichen Schulaktus, bei denen schon um der Abwechslung willen Latein und Deutsch, gebundene und ungebundene Rede einander ablösen mußten. … Bald starb ein alter Rektor oder Konrektor, bald feierte ein Lehrer seinen Namenstag oder gar seine Hochzeit, oder er wurde neu introduziert oder empfing den Doktorhut oder siedelte von einer Schule zur anderen oder ging in ein Kirchenamt über, und es war eine grobe Verletzung des Anstands, wenn nicht die Schüler in die Saiten gegriffen und ihren wahren oder erheuchelten Gefühlen Ausdruck gegeben hätten."

      Philosophie, Geographie

      In seinem rhetorischen Teil führte der lateinische Schulbetrieb selbst auf die Philosophie, zumal die Logik, hin. So war denn auch am Fridericianum 1730 für die Primaner eine besondere "logische" Klasse eingerichtet worden, die sich 1734 in eine "philosophische" verwandelte. In dieser wurden, neben der Logik, auch die "Historie der Weltweisheit" und "aus der Vernunft- und Naturlehre und anderen Wissenschaften (!) das Nötigste" vorgetragen. Auch sollten, in der Regel einmal im Monat, mit den Fähigeren Disputierübungen, ähnlich wie im "Theologie"-Unterricht, veranstaltet werden. Es war sogar für diesen "philosophischen" Unterricht, den Kant zwei Jahre lang genossen hat, ein besonderer Lehrer vorhanden. Was darin zu Kants Zeit geleistet wurde, muß trotzdem kläglich gewesen sein. "Diese Herren", äußerte er später einmal im Gespräch zu seinem einstigen Mitschüler (später selbst Lehrer