Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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Erhaschen von allerlei Nebenstellen, Halten von Pensionären u. dgl. geradezu angewiesen, zumal da auch die Kollegiengelder nicht viel einbrachten. Denn, wenn Königsberg selbst heute noch in erster Linie Provinzuniversität ist, so war dies damals erst recht der Fall, und wenn sie noch zu Rosenkranz' Zeit (um 1840) nicht mehr als drei- bis vierhundert Studenten zählte, so wurde diese Ziffer ein Jahrhundert früher schwerlich überschritten:[12] 1800 sollen es nicht viel mehr als zweihundert gewesen sein. Zudem galten die Einheimischen, bei ihrer "fast durchgehends großen Armut", mit Recht als schlechte Zahler. Etwas besser stand es mit den Musensöhnen aus dem benachbarten Kur- und Livland; aber von ihnen betrachteten gerade die Bemittelteren die Albertina meist nur als Ubergangsstation zu den berühmteren Musensitzen im "Reiche". Kein Wunder, dass unter solchen Umständen hervorragende Lehrkräfte die Königsberger Akademie mieden, und dass unfähige Dozenten die notwendigsten Vorlesungen ungebührlich, zuweilen bis zu vier Semestern, in die Länge zogen: ein Zeichen, dass "der Lehrer seine Wissenschaft sich selbst nicht eigen gemacht und docendo lernen wollte" (Hippel).

      Die philosophische Fakultät

      Unter den vier Fakultäten aber stand die philosophische nicht bloß am äußeren Ansehen, sondern auch bezüglich des wissenschaftlichen Inhalts der Vorlesungen wie des Lernbetriebs am niedrigsten, der Schule am nächsten. Sie war eigentlich nur deren verbesserte, manchmal sogar verschlechterte Auflage. Das ergibt sich schon aus der erst 5 Jahre vor Kants Immatrikulation erlassenen neuen "Lektionsordnung". Von den neun ordentlichen Professoren der Fakultät und den dazu gehörigen Extraordinarien setzten die des Griechischen und Hebräischen die Lektüre des Alten und Neuen Testaments fort, und die der Historie und der "Eloquenz" boten ebensowenig Neues wie der der Poesie, zumal da die deutsche Poesie, "als wozu nur gewisse ingenia geschickt sind", bloß alle zwei Jahre in einem Semester publice "traktiert" wurde. Auch die beiden Mathematici sollten nur über Arithmetik, Geometrie, Trigonometrie und Astronomie lesen, bzw. eine Einleitung in die beiden ersteren Fächer geben. Neues für einen gut ausgebildeten Fridericianer bieten konnten eigentlich nur der Professor Logices, der jedoch jedes zweite Semester dasselbe Thema, nämlich abwechselnd Logik und Metaphysik, und der Professor Moralium, der in der nämlichen Weise Naturrecht und Moral zu behandeln hatte, dazu ihre "außerordentlichen" Kollegen, die ihre Zuhörer zu den Vorlesungen der Ordinarii "präparieren" sollten. Endlich der Professor Physices, der jedes Jahr theoretische und "Experimental"-Physik neben- oder hintereinander las.

      Und wie sah es mit den augenblicklichen Vertretern dieser Fächer auf der Albertina aus? Als Ordinarien der Philosophie waren vorhanden der alte Aristoteliker Gregorovius und der zwischen Pietismus und Aristotelismus eklektisch einherpendelnde, zugleich auch der theologischen Fakultät angehörige Kypke, dazu seit 1735 als Außerordentlicher der vom Halleschen Pädagogium herberufene Pedant Christiani. Für einen frischen, jungen Studenten wie Kant konnte keiner von ihnen in Betracht kommen. Besser stand es mit einigen jüngeren Kräften, wie dem Extraordinarius der Mathematik Marquardt, der übrigens zugleich auch Theologe und wolffianischer Philosoph war, und dem von Hamann besonders gerühmten Physiker C. H. Rappolt, der um des Erwerbs willen auch über englische Sprache und Philosophie las, und von dem vielleicht Kants bekannte Vorliebe für Alexander Pope stammt. Im übrigen war die Mathematik durch den notorisch unbedeutenden Amnion und den Theologen Langhansen, die Physik durch den braven, aber ebenso unbedeutenden Konsistorialrat (!) Teske vertreten. Noch in Kants letzten Lebensjahren fehlten hinlängliche physikalische Instrumente, ein botanischer Garten usw.

      Kants Studienplan

      Doch wir haben uns noch gar nicht mit der Frage beschäftigt, welcher Fakultät denn überhaupt der junge Kant sich zuwandte. Im Anschluß an eine Notiz Borowskis hat Schubert einfach angenommen und der gelesenste Darsteller von Kants Leben (Kuno Fischer) es ihm nacherzählt, Kant sei durch den Einfluß von F. A. Schultz der theologischen Fakultät zugeführt worden. Allein schon der verdiente und exakte Kantforscher Emil Arnoldt hatte auf Grand aktenmäßiger Feststellungen diese angebliche Tatsache zweifelhaft gemacht, und jetzt hat Bernhard Haagen endgültig nachgewiesen, dass Kant in keinem der in den Königsberger Universitätsakten befindlichen Verzeichnisse als Angehöriger einer der drei "oberen" Fakultäten angeführt ist, und dass er selbst sich noch 1748 als studiosus philosophiae bezeichnet hat.[13] Für die Einzelheiten dieser von den Kantphilologen bis zum Überdruß behandelten Frage verweisen wir auf die betreffende Literatur und unsere zusammenfassende Darstellung in "Kants Leben". (S. 16—20.) Das, worauf es ankommt, ist nicht die ziemlich untergeordnete Frage, welcher Fakultät unser Held formell angehört hat, sondern die Richtung seiner Studien. Diese aber ist von Anfang an offenbar keine theologische gewesen. Das Genie geht früh seine eigenen Wege. Mag der künftige Predigerberuf ein Lieblingswunsch seiner frommen Mutter oder seines einstigen Direktors gewesen sein: die erstere war seit mehreren Jahren tot, und der letztere scheint bei seiner weitverzweigten Tätigkeit den früheren Schüler, falls man ihn überhaupt als solchen bezeichnen will, ziemlich aus dem Auge verloren zu haben, da er ihn einst am Schlüsse des Semesters nach beendeter Vorlesung erst nach seinem Namen, seinen Lehrern und Studienabsichten fragen mußte. Vielmehr tritt hier ein von den bisherigen Biographen viel zu wenig beachtete Charakterzug hervor, der uns bereits in der äußeren Lebensführung des Studiosus Kant begegnet ist: die frühe Selbständigkeit seines Charakters und seines Willens. Wir haben ja leider nur wenige Nachrichten über Art und Gegenstand seiner Universitätsstudien; aber sie weisen alle nach der nämlichen Seite. Er schlägt schon bald eine seinen Freunden gänzlich "unerwartete Richtung" ein. Er befolgt schon früh einen "eigenen Studienplan", der ihnen "unbekannt" bleibt. Er widmet sich nämlich zu ihrer Verwunderung keiner "positiven" Wissenschaft; denn es war offenbar mehr ein übermütiger Scherz, wenn er auf jene Frage Schultzens erklärte, "ein Medikus werden zu wollen". Er war vielmehr der Meinung und suchte sie auch seinen nächsten (juristischen) Freunden zu Gemüte zu führen: man müsse von allen Wissenschaften "Kenntnis" nehmen, auch wenn man sie nicht zum Brotstudium erwähle. So hat er mit ihnen auch eine ihn interessierende theologisch-dogmatische Vorlesung seines früheren Direktors gehört und, von diesem verwundert nach dem Grunde gefragt, die für ihn charakteristische offenherzige Antwort gegeben: "Aus Wißbegierde."

      Was aber mochte denn der Hauptgegenstand des selbst den Freunden unverständlichen "Studienplanes" dieses sonderbaren Studenten sein, der kein Brotstudium treiben wollte, obwohl nach des Soldatenkönigs Universitäts-Ordnung, die auch der Nachfolger nicht aufgehoben hatte, "wenig Hoffnung von solchen zu schöpfen" war, die "ihre Sachen so schlecht treiben". Der Theologie hatte ihn augenscheinlich die Überladung mit religiösem Stoff, die ihm auf dem Fridericianum zuteil geworden, abwendig gemacht. Aber wie war es mit den sogenannten "Humaniora", die er nach Jachmann "vorzüglich studierte", d. h. nach seiner eigenen späteren Erklärung in seinem Kolleg über Logik, demjenigen Teil der Philologie, unter dem man die "Kenntnis der Alten versteht, welche die Vereinigung der Wissenschaft mit Geschmack befördert, die Rauhigkeit abschleift und die Kommunikabilität und Urbanität, worin Humanität besteht, befördert"? Nun, seine "Alten", die griechischen und noch mehr die ihm von der Schule her vertrauteren römischen Klassiker, hat er bis in sein Alter geschätzt und geliebt. Gelten sie ihm doch noch in der Kritik der Urteilskraft (§ 60) als die Propädeutik zu aller schönen, den höchsten Grad von Vollkommenheit anstrebenden Kunst, die in ihrer glücklichen Vereinigung von höchster Kultur mit der kraftvoll-freien Natur schwerlich jemals von einem späteren Zeitalter erreicht werden könnten. Auch später empfahl er seinen Zuhörern, um wahre Popularität zu lernen, die Lektüre von Ciceros philosophischen Schriften, sowie Horaz und Vergil, neben Hume und Shaftesbury. Jedoch sein Innerstes erfüllten auch sie nicht. Schon damals wird sich in ihm der Gedanke geregt haben, dem er gelegentlich einmal in der Streitschrift gegen Eberhard Ausdruck gibt: was philosophisch richtig ist, könne keiner aus Plato oder Leibniz lernen, denn "es gibt keinen klassischen Autor der Philosophie". Ihr Probierstein vielmehr, der dem einen so nahe liegt wie dem anderen, sei die "gemeinschaftliche Menschenvernunft". Das, was er von ihnen wünschte, konnten ihm keine trockenen Vorlesungen geistloser Pedanten geben, die schon bald seinen Freund Ruhnken veranlaßten, den Staub Königsbergs von den Füßen zu schütteln; das konnte er, der geschulte Lateiner, ebenso gut, ja noch besser durch fortgesetzte Privatlektüre erreichen. So täuschte er denn die Hoffnung derer, die in