Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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seiner unangenehmsten Traumvorstellungen aus", wenn er sich wieder in seine Hofmeisterzeit versetzt fühle; das Geschäft eines Pädagogen sei ihm "immer eines der verdrießlichsten" erschienen (Feders lieben, Natur und Grundsätze, Leipzig 1825, S. 173). So gern wir ihm glauben wollen, dass es ihm schwer geworden ist, "sich" zu den Begriffen der Kinder "herabzustimmen", hat er doch den ältesten seiner Zöglinge so weit gebracht, dass dieser auf dem berühmten Joachimstaischen Gymnasium sofort in die Prima aufgenommen wurde. Und in einer seiner vorkritischen Schriften erzählt er selbst, er habe einmal einem "Lehrling" einen mathematisch-physikalischen Satz derart klar zu machen verstanden, dass derselbe seine ästhetische Freude daran hatte ('Einzig möglicher Beweisgrund', S. 46). Auch die tiefgegründete Liebe und Hochachtung der Hülsens zu ihm könnte man sich ohnedas kaum vorstellen.

      Erwähnenswerte Einflüsse seiner Umgebung auf seine wissenschaftliche oder auch nur geistige Entwicklung im allgemeinen sind wohl schwerlich anzunehmen: weder bei dem Bauernpastor noch bei der adligen Familie. Dagegen könnte er in letzterer wohl zu jener Gewöhnung an feinere Lebensformen den Grund gelegt haben, die er später auch in der feinsten aristokratischen Gesellschaft zeigte. Dass er darüber die Hauptsache nicht vergaß, wissen wir aus dem Munde seines Studienkameraden Heilsberg, nach dessen Zeugnis er "in allen Stücken die Rechtschaffenheit und Biederkeit im Umgange jenem Gepränge vorzog und das Komplimentieren haßte"; wie er denn auch, auf der Rückkehr von seiner Erziehertätigkeit auf Schloß Capustigall, "öfters mit inniger Rührung an die ungleich herrlichere Erziehung gedachte, die er selbst in seiner Eltern Hause genossen". Auch die schiefe Stellung des zwischen Eltern und Hofmeister stehenden Kindes hat er wohl empfunden, wenn man nach Bemerkungen darüber in seinen Vorlesungen über Pädagogik schließen darf. Wenn er gleichwohl nach Borowskis, von ihm selbst gebilligten, Bericht noch im Alter "an die Jahre seines ländlichen Aufenthalts und Fleißes mit vieler Zufriedenheit zurückdachte", so lag das eben daran, dass er diese äußerlich einförmigen Jahre zu eifriger wissenschaftlicher Arbeit benutzt hat. Es waren Jahre stillen Reifens. Er legte sich "Miszellaneen aus allen Fächern der Gelehrsamkeit" an, er bereitete die Arbeiten vor und arbeitete sie vielleicht zum Teil bereits aus, mit denen er in den Jahren nach seiner Rückkehr in die Vaterstadt (1754 ff.) in schneller Folge hervortrat.

      Wissenschaftliche Arbeiten

      Zunächst beabsichtigte er im August 1749, nach jenem ersten von ihm erhaltenen Briefe an einen Unbekannten – der 1922 erschienene 13. Band der Akademie-Ausgabe (S. 1) vermutet den berühmten Albrecht von Haller —, den er sich zum Rezensenten wünscht, zu schließen, eine Fortsetzung seiner ersten Schrift drucken zu lassen. Er hatte damals nach seinen eigenen Worten eine solche "in Bereitschaft, die nebst einer ferneren Bestätigung derselben andere ebendahin abzielende Betrachtungen in sich begreifen wird". Nach welcher Seite diese Betrachtungen gehen sollten, können wir aus der ja, wie gesagt, erst 1749 erschienenen Schrift selbst feststellen. Er behielt sich darin u. a. vor, seine Gedanken über die Möglichkeit "vieler Welten" näher auszuführen, die freilich auch vielerlei Raumesarten voraussetzten und deshalb unwahrscheinlich seien (§ 11). Er behauptet ferner, weitere Gesetze, "nach denen die Lebendigwerdung der Kraft geschieht", darlegen (§ 131), besonders aber in "einigen Abrissen" zeigen zu können, wie seine neue Theorie sich mit Leibniz' Gesetz von der Erhaltung der Kraft und seiner Regeln "der allgemeinen Harmonie und Ordnung" wohl vereinigen lasse.

      Zu den hierdurch veranlaßten physikalischen und philosophischen 'Miszellaneen' kamen sicher astronomische und geographische hinzu. Die ersteren waren zu seinem großen astronomischen Werk von 1755 notwendig, zu dessen Fixstern-Theorie ihm die Lektüre einer Anzeige in den Hamburger 'Freyen Urteilen und Nachrichten' von 1751 über ein Buch des Engländers Wright von Durham den ersten Anstoß gab, während er eine Schrift Bradleys entweder im Original aus den Philosophical Transactions von 1748 oder (wahrscheinlicher) aus dem 'Hamburgischen Magazin' von 1752 kennengelernt haben wird; denn auf dem Lande hatte er die Urschriften selbst nicht immer "bei der Hand", wie er dies z. B. von einer Abhandlung Maupertuis' in seinem Werk bemerkt. – Seine weitreichenden naturwissenschaftlichen Studien sowie der Drang, in weiteren Kreisen bekannt zu werden, mögen ihn auch zum Herangehen an die von der Berliner Akademie der Wissenschaften am 1. Juni 1752 gestellte Preisaufgabe über das Thema, ob die Achsendrehung der Erde sich verändert habe, bewogen haben; hat doch auch Rousseau durch seine Beantwortung einer akademischen Preisaufgabe seinen ersten Schriftstellerruhm erlangt. – Neben den umfangreichen Vorstudien, die, besonders bei Kants Gewissenhaftigkeit, diese Arbeiten erforderten, wird er wohl auch die zahlreichen geographischen Schriften, die er nach der Vorrede zu seinem 'Entwurf eines Collegii der Physischen Geographie' (Ostern 1757) gelesen hat, nicht alle erst kurz vorher kennengelernt haben, zumal dazu neben den großen Werken Newtons, Warens und Buffons auch eine ganze Reihe Reisebeschreibungen, die von jeher sein besonderes Interesse erregten, sowie in Zeitschriften und Akademie-Werken (von Paris und Stockholm) zerstreute Abhandlungen gehörten.[20] Der letztere Umstand freilich wird ihn mit zur früheren Rückkehr nach Königsberg bestimmt haben.

      Aus einem anderen Teil seiner 'Miscellaneen' der sich in den von Reicke veröffentlichten 'Losen Blättern aus Kants Nachlaß' (S. 294—302) bis auf unsere Tage erhalten hat, ergibt sich endlich, dass Kant sich um 1754 noch mit einer weiteren, von der Berliner Akademie im Sommer 1753 gestellten, Preisarbeit über den Optimismus von Pope und Leibniz beschäftigt hat: das nämliche Thema, das die beiden Freunde Lessing und Mendelssohn zu ihrer gemeinsam verfaßten Abhandlung: 'Pope ein Metaphysiker!' veranlaßte. Ob er seine Absicht ausgeführt und eine Arbeit zu dem bestimmten Termin (1755) abgeliefert hat? Wir wissen es nicht. Den Preis erhielt jedenfalls ein Crusianer. Kant ist aber 1759 noch einmal auf das Thema zurückgekommen (s. Buch II, Kap. 1).

      Wie wir sehen, war seine literarische Tätigkeit zuletzt ziemlich beträchtlich geworden. Auch aus diesem Grunde ist anzunehmen, dass er spätestens im Jahre 1754, nach etwa 6—7jährigem Hauslehrertum, nach Königsberg zurückgekehrt ist. Hier konnte er den Druck des großen astronomischen Werkes, das er als seine nächste Lebensaufgabe betrachtete, und das er schon im Frühsommer 1754 im wesentlichen abgeschlossen zu haben scheint, in die Wege leiten und überwachen. Hier hat er zwei Abhandlungen in den 'Wöchentlichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten' veröffentlicht. Zunächst am 8. und 15. Juni 1754 jene Arbeit 'Über die Achsendrehung der Erde', die er der Berliner Akademie nicht eingesandt hatte, weil er bescheiden meinte, dass sie mit ihrer rein physikalischen Behandlung der Sache, ohne die Geschichte des Problems zu beleuchten, doch auf einen Preis nicht rechnen könne. Und zweitens, in sechs Nummern vom 10. August bis 14. September, eine solche über: 'Die Frage, ob die Erde veralte, physikalisch erwogen'. Auf ihren Inhalt wird noch, gelegentlich der Darstellung von Kants naturwissenschaftlichen Ansichten überhaupt, kurz einzugehen sein. Hier kam es uns nur darauf an, seine eifrige wissenschaftliche Tätigkeit hervorzuheben. Mindestens in seiner Vaterstadt war er dadurch literarisch bekannter geworden.

      Promotion und Habilitation

      So standen denn seiner Promovierung zum Magister wie seiner Habilitation als Privatdozent der Philosophie an der Albertina keine Schwierigkeiten entgegen. Zum Zweck seiner Magister-, wir würden heute sagen: Doktor-Promotion, mußte er zunächst eine lateinische Dissertation – es war eine naturphilosophische Abhandlung 'Über das Feuer' – einreichen, was am 17. April 1755 geschah. Vier Wochen später folgte die mündliche Prüfung (das Rigorosum), am 12. Juni die feierliche Promotion im Auditorium maximum, einem langen, aber niedrigen, mit den Bildnissen der preußischen Landesfürsten geschmückten Saale, in dem heute ein Teil der Stadtbibliothek untergebracht ist. Vollzogen wurde sie durch denselben J. B. Hahn als Fakultätsdekan, der ihn vor 15 Jahren immatrikuliert hatte. Dieser hielt eine ausführliche Rede "Von den Ehren Tituln der alten Juden [!] bei ihren Akademischen Promotionen: Rabh, Rabbi und Rabbon", während der neue Magister den ganzen Akt mit einer Danksagung vom "oberen" Katheder beschloß.[21] Zum Thema seiner vorangehenden eigenen, natürlich auch lateinischen, Rede hatte Kant ein weit moderneres Thema: "Vom leichteren und vom gründlichen Vortrag der Philosophie" gewählt. Er muß doch schon einen geachteten und bekannten Namen gehabt haben; denn, um ihn zu hören, waren besonders viele angesehene und gelehrte Männer der Stadt zusammengeströmt, und während seiner Rede legte nach des selbst anwesenden Borowski Zeugnis "das ganze Auditorium durch ausgezeichnete