Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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ihn denn auch wirklich "ein". Ein Jahr später kam es zwischen den beiden zum Ehebunde. Selbst vor seinen besten Freunden hatte der Münzmeister die Sache geheim gehalten. "Die ganze Stadt spricht: Göschen werde die J. heiraten, nur Kant und ich sprechen nichts davon, weil er uns keine Silbe von dieser seiner Absicht anvertraut hat" (Hippel an Scheffner, 12. August 1769). Dass während der Scheidungssache gegen Kant (!) und Hippel "manches unverdiente Wort" von dem Publikum gerichtet wurde, hatte letzterer schon früher erwähnt. Frau Maria Charlotta trotzte also dem Urteil der öffentlichen Meinung, verkaufte ihr schönes Haus in der Junker- und bezog ein weit einfacheres in der Landhofmeisterstraße. Am 23. Oktober fand, nach nur einmaligem (statt des gewöhnlichen dreimaligen) Aufgebot in einer Vorstadtkirche, die Trauung im Hause, nicht in der Kirche, statt. Kant hatte sich entschieden auf die Seite des verlassenen Ehemanns gestellt und blieb der Hochzeit fern. "Herr M. Kant, der ein recht guter Junge (!) und mein recht sehr guter Freund ist und bleibt," schreibt Hippel, "hat soviel Wunderliches von der jetzigen Frau Münzmeisterin, weiland Frau Geheimde Rätin, zu ihrem Gemahl gesagt und sich wider diese Heirat so empört, dass er Bedenklichkeiten findet, sich bei ihr zu zeigen." Es muß doch noch allerlei dahinter gesteckt haben; denn vorher heißt es in demselben Briefe und in derselben Sache von Kant: "Sie wollen mich eben nach dem Herrn Magister Kant fragen? Das ist ein Lustspiel, bestehend in fünf Aufzügen, das ich heute unmöglich geben kann." Schade drum!

      Lange hat, im Unterschied von Hippel u. a., Kant sich von dem einstigen guten Freunde Göschen infolge dieser Eheaffäre ferngehalten. Jachmann, um 1784/85 Kants Zuhörer, berichtet darüber: "M(ünz) D(irektor) G(öschen) .... machte (sc. nach seiner Heirat) ein angenehmes Haus in Königsberg, das von sehr vielen Fremden besucht wurde. Kant wurde sehr häufig und sehr dringend hier eingeladen, aber er betrat nie die Schwelle dieses Hauses, aus Achtung für den ersten Mann, mit welchem er fortwährend in einem freundschaftlichen Umgange lebte. Er hielt es für unerlaubt und für unschicklich, mit beiden Männern zugleich in einem freundschaftlichen Verhältnisse zu leben, glaubte den ersteren dadurch zu beleidigen und dem anderen den Glauben beizubringen, als wenn er sein tadelhaftes Benehmen gut hieße. Mir ist es bekannt, dass ihn jetzt, so wie er handelte, beide Männer schätzten und verehrten." Ob nach Jacobis Tod (August 1774) dieser Grund wegfiel? Jedenfalls erzählt Hamann am 21. November 1786 von einer Mittagsgesellschaft, an der Kant und Göschen teilnahmen. Von 1790 ab ist die Wiederherstellung der alten Freundschaft bezeugt. Denn am 1. April 1790 schickt de la Garde, der Verleger von Kants Kritik der Urteilskraft und zugleich ein guter Bekannter der Göschens, in einem Bücherpaket an Kant unter Einschluß auch ein "Päckchen" an den inzwischen Münzdirektor gewordenen Göschen mit. Am 8. Juni 1795 bestellt Kiesewetter durch Kant brieflich viele herzliche Empfehlungen an den Münzdirektor, dem er bessere Gesundheit wünscht, und Familie. Zudem erzählte einem Urenkel des Ehepaares Göschen, dem gegenwärtig in Merseburg lebenden Amtsgerichtsrat Herrn Reinhold G., ein bejahrter Oheim, Enkel des Münzdirektors, dass er als Knabe Kant oft im Hause des Großvaters, auch in Gesellschaften, gesehen habe. Am 19. September 1795 schrieb der Philosoph dem einzigen, damals 17 jährigen Sohne des Paares, späterem Professor der Rechte und erstem Doktor der neugegründeten Berliner Universität J. F. L. Goeschen, einen seiner Lieblingsverse ins Stammbuch: Ad poenitendum properat, cito qui iudicat. Der Münzdirektor selbst aber machte bis zum Tode seiner Frau nicht bloß eins der gastlichsten Häuser in Königsberg, sondern stand auch bei vornehm und gering, wie auch bei seinen vorgesetzten Behörden, in bestem Ruf und Ansehen. Mag man über die Scheidung von dem ersten Manne denken wie man will – nach unserer Meinung war der Fehler durch die Heirat der noch nicht 13 jährigen gemacht worden —, jedenfalls hat Frau Maria Charlotta durch ihre langjährige und nach allem, was wir wissen, glückliche und mit vier Kindern gesegnete zweite Ehe gesühnt, was sie etwa verbrochen hat. Sie starb am 4. Januar 1795, überlebt von ihrem seitdem kränkelnden Manne († 7. Mai 1798) und von dem Freunde ihrer jungen Jahre, dem Magister Kant.

      Äußere Lebensweise

      Kehren wir von diesem Exkurs zu des Philosophen äußerem Leben während der 60er Jahre zurück. Wie wir sahen, wählte er seinen Umgang am liebsten unter Nicht-Fachgenossen. Denn er haßte die Gelehrten-Pedanterie ebensosehr wie das Cliquenwesen, das sich so leicht in abgeschlossenen Berufskreisen bildet. Er hat sich auch Zeit seines Lebens nie an offizielle Gelehrte Gesellschaften, deren mehrere in Königsberg bestanden, oder an Geheimbünde, wie der Freimaurer-Orden, angeschlossen, obwohl eine Anzahl seiner nächsten Bekannten dazu gehörten. Er verkehrte vielmehr mit gebildeten Männern und Jünglingen der verschiedensten Stände. Auch darf man sich die äußere Lebensweise des Magisters Kant keineswegs so streng nach der Uhr geregelt vorstellen, wie die des späteren Professors. Nachdem er seine Vormittag-Vorlesungen beendet, ging er gern in ein Kaffeehaus, um eine Tasse Tee zu trinken, unterhielt sich dabei über die Ereignisse des Tages oder spielte sein beliebtes Billardspiel. Mittags speiste er in einem guten Gasthaus an offener Tafel, falls er nicht, was oft genug vorkam, von privater Seite zu Tisch geladen war; er vermied dabei alle gelehrte Unterhaltung. Auch die Abende verbrachte er damals noch häufig im Gasthaus oder in Privatgesellschaften in angenehmem Gespräch oder nicht ungern beim L'Hombre, das er, wie wir uns erinnern, schon von seiner Studentenzeit her gut spielte, und das er für eine nützliche Übung nicht bloß des Verstandes, sondern auch in der Selbstbeherrschung und zugleich als das "einzige sichere Mittel, den Kopf von angestrengtem Denken abzuziehen und zu beruhigen" erklärte. Später gab er es auf, weil ihm die Mitspieler zu langsam spielten und er auch die Unterhaltung und den Verkehr mit Männern wie Green jenem bloßem "Notbehelf" vorzog. Ja, der heute von vielen als rigoristisch verschriene Denker konnte sogar – und in gewissem Sinne gilt dies für ihn bis in sein Alter hinein – recht seßhaft und trinkfest sein! Abegg hörte 1798 in großer Abendgesellschaft zu Königsberg den Kriegsrat Deutsch in dieser Beziehung ein nettes Stückchen erzählen, das uns den großen Philosophen auch einmal mit einer menschlichen Schwäche behaftet zeigt: "Kant konnte (nach Tisch) bis abends 7—8 Uhr sitzen bleiben und unterhalten, wenn nur jemand bei ihm blieb. Er war überaus munter, trank gerne Wein, so wie unser einer, und erzählte gar lustig, wie er einmal — das Loch in die Magistergasse nicht haben finden können" [mit dem "Loch" war vermutlich einer der engen Zugänge in diese heute noch ziemlich gut erhaltene Gasse vom Pregel aus gemeint; da er sie in der ersten Hälfte der 60er Jahre bewohnte, so muß die kleine Extravaganz in diese Jahre fallen]. Auch dem Besuch von Konzert und Schauspiel – seit 1755 besaß Königsberg ein ständiges Theater – war er in jener Zeit noch nicht abhold: so dass er manchmal erst um die mitternächtige Stunde nach Hause kam, während er seinen Grundsatz regelmäßigen Frühaufstehens trotzdem durchführte.

      Ausflüge; Freude an der Natur

      Ebenso ist es ein Irrtum, anzunehmen, was in fast allen Darstellungen zu lesen steht, dass Kant so gut wie gar nicht aus den Toren Königsbergs hinausgekommen sei. Das trifft – ganz abgesehen von seinen Hauslehrerjahren, die ihn in zwei entgegengesetzte Ecken der Provinz verschneite – wenigstens für die Magisterzeit durchaus nicht zu. Schon die wenigen Zufallsnachrichten, die uns über diese an sich ziemlich unerheblichen Dinge erhalten sind, zeigen, dass Kant in seinen jüngeren Jahren jedenfalls kein grundsätzlicher Gegner des Reisens gewesen ist. Er hat sogar einmal vorgehabt, England zu besuchen, und Ruhnken und Wielkes laden ihn nach Holland ein (W. an Kant, 18. März 1771); Frau Jacobi rechnet auf seine Begleiterschaft von Berlin nach Königsberg. Und, wenn er auch zu diesen großen Reisen nicht gekommen ist, so ist doch, außer den kleineren Landreisen mit Göschen und Hippel und dem Besuch bei General von Lossow (1765) in dem ziemlich entfernten Goldap in Masuren, auch eine Reise mit Freund Motherby nach Braunsberg zu einer Familie von Schorn bezeugt, die wahrscheinlich in den Anfang der 70er Jahre fällt (v. Baczkos Selbstbiographie, Bd. II, S. 13). Falls vor 1772, so wäre der Philosoph sogar über die Grenzen des damaligen Ostpreußen hinausgekommen; denn Braunsberg liegt bekanntlich in dem bis 1772 noch polnischen Ermeland. Zudem muß man bedenken, welche Anforderungen an den Beutel und – die körperliche Leistungsfähigkeit für einen ohnedies schwächlichen Mann wie Kant eine weitere Reise in damaliger Zeit stellte. Besaß doch noch zwölf Jahre nach seinem Tode die ganze Provinz Preußen erst — eine Meile Chaussee. Die Folgen waren Staub im Sommer, Morast im Winter, tiefe Löcher, Baumstümpfe, Steine überall, infolgedessen steckenbleibende Postwagen usw. Noch im August 1811 spottete der Kant befreundete Dorow, als er mit der Fahrpost von Königsberg abreiste: der Generalpostmeister habe die Lederüberzüge