den sie nicht kannte, und sie erinnerte sich dessen, was Mary ihr von Bert erzählt hatte. Auch er hatte geflucht und die Fäuste geballt und nachts wieder die Kämpfe des Tages ausgefochten. Aber eines sah Saxon ganz deutlich. Es war nicht Billys Schuld, dass er sich zu diesem anderen, wenig ansprechenden Billy entwickelte. Wäre kein Streik, kein Zank und Streit um die Arbeit gewesen, so würde es nur den alten Billy gegeben haben, den sie so voll und ganz geliebt hatte. Dies Schreckliche, das auf dem Grunde seines Wesens schlummerte, würde weitergeschlummert haben. Wenn aber der Streik andauerte, so fürchtete sie, und das mit gutem Grunde, dass dieses zweite unheimliche Ich Billys stark werden und abschreckendere Formen annehmen würde. Und das, wusste sie, war gleichbedeutend mit dem Untergang ihres Liebeslebens. Einen solchen Billy konnte sie nicht lieben, und ein solcher Billy war seinem Wesen zufolge weder imstande, Liebe zu gewinnen noch zu geben. Und bei dem Gedanken, dass Kinder kommen konnten, wurde sie von einer furchtbaren Angst gepackt. Das wäre zu schrecklich gewesen.
Auch Billy hatte seine Probleme – Fragen, die er nicht beantworten konnte.
»Warum wollen die Bauhandwerker nicht streiken?« lautete eine der Fragen, die er erbittert in die Dunkelheit hinausschleuderte, die die Wege der Menschen und des Lebens verhüllte. »Aber nein, O’Brien will nicht mitstreiken, und er beherrscht die Bauhandwerker vollkommen. Und der Teufel holt den Zusammenschluss der Arbeiter! Du meine Güte – es ist eine Ewigkeit her, dass ich weder eine ordentliche Zigarre noch eine Tasse anständigen Kaffee bekommen habe. Ich habe vergessen, was gutes Essen heißt. Ich ließ mich gestern wiegen. Fünfzehn Pfund abgenommen, seit der Streik begann. Wenn es noch lange dauert, kann ich bald als Mittelgewicht kämpfen. Und das ist alles, was ich davon habe, dass ich die ganzen Jahre meine Gewerkschaftsbeiträge bezahlt habe. Ich kann kein ordentliches Essen kriegen, und meine Frau muss einem fremden Mann das Bett machen. Das macht mich toll. Eines Tages laufe ich rüber und schmeiße den Zimmerherrn raus.«
»Aber es ist doch nicht seine Schuld, Billy«, wandte Saxon ein.
»Wer sagt, dass es seine Schuld sei?« fragte Billy gereizt. »Aber deshalb macht es mich doch toll. Welchen Zweck haben die Gewerkschaften, wenn man nicht zusammenhält? Ich möchte am liebsten die ganze Geschichte an den Nagel hängen und zu den Arbeitgebern übergehen. Aber den Triumph sollen sie doch nicht erleben, die verfluchten Schurken! Wenn sie glauben, sie könnten uns in die Knie zwingen, so lass sie nur ihr Glück versuchen – mehr kann ich nicht sagen. Aber begreifen kann ich es doch nicht. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Es ist kein Sinn mehr darin. Was nützt es, eine Gewerkschaft zu unterstützen, die keinen Streik gewinnen kann? Was nützt es, Streikbrechern die Köpfe zu zerschlagen, wenn immer wieder neue kommen?«
Ein solcher Ausbruch Billys war indessen sehr selten, und es war das erstemal, dass Saxon ihn hörte. Er war immer mürrisch, eigensinnig und zähe, und der Whisky trug dazu bei, die Würmer der Selbstsicherheit in seinem Gehirn zu wimmelndem Leben zu erwecken.
Eines Abends kam Billy erst nach zwölf Uhr heim. Saxons Angst stieg, weil sie ein Gerücht gehört hatte, dass es eine Prügelei zwischen Polizei und Streikenden gegeben hätte. Als Billy kam, sah sie gleich, dass das Gerücht die Wahrheit gesprochen hatte. Die Rockärmel waren ihm halb abgerissen, die Krawatte war verschwunden und alle Hemdknöpfe auf der Brust waren abgerissen. Als er den Hut abnahm, sah Saxon zu ihrem Schrecken, dass er eine Beule von der Größe eines Apfels am Kopfe hatte.
»Weißt du, wer das getan hat? Der verfluchte Deutsche Hermanmann, und zwar mit einem Knüppel. Aber ich will ihn lehren und so, dass er es nicht wieder vergisst. Und auch einen anderen Burschen habe ich mir gemerkt und werde ihn mir kaufen, wenn der Streik vorbei ist und wir ein bisschen zur Ruhe gekommen sind. Er heißt Blanchard, Roy Blanchard.«
»Doch nicht von der Firma Blanchard, Perkins & Co.?« fragte Saxon, die Billys Wunde auswusch und wie gewöhnlich alles, was in ihrer Macht stand, tat, um ihn zu beruhigen.
»Eben – nur dass er der Sohn des Alten ist! Was tut er, der nie etwas anderes getan hat, als mit dem Geld des Alten um sich zu schmeißen? Spielt den Streikbrecher! Jawohl. Sein Name kommt in die Zeitung, und alle Unterröcke, denen er nachrennt, werden Feuer und Flamme und sagen: ›Gott, der Roy Blanchard, das ist ein Kerl, ein richtiger Kerl!‹ Ein Kerl – der Schwachkopf! Eines Tages werde ich ihn schon zu fassen kriegen. Noch nie haben mich die Finger so nach etwas gejuckt.
Und – ja, den deutschen Polypen werde ich mir auch vornehmen. Er hat übrigens sein Fett abgekriegt. Einer schlug ihm ein Stück Kohle, so groß wie ein Wassereimer, auf den Kopf. Sie wagten nicht, das Militär zu rufen. Und sie fürchteten sich zu schießen. Ja, wir haben mit der Polizei aufgeräumt, und Kranken- und Patrouillenwagen mussten Überstunden machen. Weißt du – wir stoppten die ganze Prozession auf der Vierzehnten und dem Broadway, direkt vor dem Rathaus, griffen sie am hinteren Ende an, zerschnitten den Pferden an fünf Wagen die Stränge und gaben im Vorbeifahren den Bengeln von der Universität ein paar zärtliche Klapse.«
»Aber was tat Blanchard denn?« kam Saxon wieder auf ihre Frage zurück.
»Er führte die Prozession an und lenkte mein Gespann. Alle Gespanne waren aus meinem Stall. Er hatte eine ganze Schar von diesen Universitätsidioten gesammelt – Lümmel, die aus der Tasche ihres Vaters leben. Sie kamen mit großen Kremsern in die Ställe gefahren und zogen die Wagen heraus, und die halbe Polizei von Oakland half ihnen. Ja, das war eine Vorstellung! Es regnete direkt Pflastersteine, und du hättest hören sollen, wie die Knüppel auf unsere Häupter schlugen – ratatata, ratatata! Acht von unseren Leuten wurden festgenommen und dazu zehn Kutscher aus San Franzisko, die uns zu Hilfe gekommen waren. Das sind die reinen Teufel, diese San Franziskoer Kutscher. Es sah aus, als sei die halbe Arbeiterbevölkerung von Oakland uns zu Hilfe gekommen, und ein ganzes Heer von ihnen muss in den Gefängnissen sitzen. Unsere Rechtsanwälte müssen sich ihrer annehmen.
Aber darauf kannst du dich verlassen, es ist das letztemal, dass Roy Blanchard und seinesgleichen sich in unsere Sachen eingemischt haben. Blanchard fuhr im ersten Wagen, und er wurde einmal vom Bock heruntergeworfen, aber er hielt doch stand.«
»Er muss ein mutiger Mann sein«, warf Saxon ein.
»Mutig?« rief Billy hitzig. »Mit der Polizei und dem Heer und der Flotte hinter sich? Schließlich nimmst du auch noch seine Partei! Mutig? Nimmt unsern Frauen und Kindern das Brot aus dem Munde!«
Am Morgen las Saxon in der Zeitung von dem fruchtlosen Versuch, den Fuhrleutestreik zu beenden. Roy Blanchard wurde als Held und Vorbild aller reichen Bürger