Lidern konnte Saxon sehen, dass er zu viel getrunken hatte. Er warf Harmon einen gereizten Blick zu und stellte sich, ohne ihn oder Saxon zu begrüßen, an die Wand.
Harmon fühlte das Drückende der Situation und versuchte zu tun, als bemerke er nichts.
»Ich erzählte Ihrer Frau gerade –«, begann er, aber Billy unterbrach ihn wütend.
»Es ist mir gleichgültig, was Sie ihr erzählten. Aber ich will Ihnen etwas sagen. Meine Frau hat Ihnen Ihr Bett viel öfter gemacht, als mir gefällt.«
»Billy!« rief Saxon, von Zorn und Kränkung flammend.
Billy tat, als hörte er sie gar nicht. Harmon sagte:
»Ich verstehe nicht –«
»Nun ja, ich kann Ihre Fratze nicht ausstehen«, erklärte Billy. »Machen Sie, dass Sie wegkommen! Hinaus! Verstanden?«
»Ich weiß nicht, was mit ihm ist«, sagte Saxon schnell und atemlos zu dem Heizer. »Er ist nicht bei Sinnen. Ach, wie ich mich schäme, ach, wie ich mich schäme.«
Billy wandte sich zu ihr.
»Willst du gefälligst das Maul halten! Es geht dich gar nichts an.«
»Aber Billy!« wandte sie ein.
»Und dann mach, dass du wegkommst! Geh nach drinnen.«
»Hören Sie«, sagte Harmon. »Das ist kein Benehmen.«
»Ich habe Ihnen schon zu viel Freiheit gelassen«, lautete Billys Antwort.
»Ich habe wohl meine Miete regelmäßig bezahlt, nicht wahr?«
»Und ich sollte Ihnen den Kopf zerschlagen. Ja, und ich kann eigentlich nicht einsehen, warum ich es nicht tun sollte.«
»Wenn du das versuchst, Billy –«, begann Saxon.
»Bist du noch da? Wenn du nicht nach drinnen gehst, dann helfe ich dir.«
Seine Hand umpresste ihren Arm. Einen Augenblick versuchte sie, Widerstand zu leisten, und in dem Augenblick, als ihr Fleisch von seinen Fingern zerquetscht wurde, wurde sie sich seiner unermesslichen Kraft bewusst.
Im Vorderzimmer konnte sie sich nur weinend in den großen Sessel werfen und hören, was in der Küche vorging.
»Ich bleibe jedenfalls bis Ende der Woche«, sagte der Heizer. »Ich habe vorausbezahlt.«
»Dass du dich nur nicht irrst«, ertönte Billys Stimme, so langsam, dass sie schleppend wirkte, und doch zitterte sie vor Wut. »Wenn dir deine Gesundheit lieb ist, kannst du nicht schnell genug wegkommen – mit Sack und Pack. Ich kann jeden Augenblick platzen.«
»Ja, ich weiß, dass Sie ein Raufbold sind –«, begann der Heizer.
Dann hörte Saxon einen Schlag – ein Irrtum war nicht möglich; eine Scheibe wurde zerschlagen. Dann wurde an der Hintertür gerungen und endlich ein schwerer Körper die Treppe hinabgeworfen. Danach hörte sie Billy in die Küche zurückkommen und umhergehen – sie wusste, dass er die Glasscherben zusammenfegte. Dann wusch er sich am Ausguss und begann zu pfeifen, während er sich Gesicht und Hände abtrocknete, und kam dann ins Vorderzimmer. Sie sah ihn nicht an – dazu war sie zu elend und traurig. Er blieb unentschlossen stehen, als könnte er nicht recht mit sich einig werden.
»Ich muss in die Stadt«, sagte er schließlich. »Wir haben Versammlung in der Gewerkschaft. Wenn ich nicht wiederkomme, hat der Schwachkopf mich bei der Polizei angezeigt.«
Er öffnete die Hintertür, blieb aber wieder stehen. Sie wusste, dass er sie ansah. Dann schloss sich die Tür, und sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen.
Saxon war vollkommen betäubt. Sie konnte nicht denken. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Alles war so unfassbar, so unglaublich. Sie lehnte sich mit geschlossenen Augen im Sessel zurück, ohne einen einzigen klaren Gedanken im Kopf, und zu Boden gedrückt von dem bleischweren Gefühl, dass jetzt alles aus war.
Die Kinder, die auf der Straße spielten, riefen sie in die Wirklichkeit zurück. Es war Abend geworden. Sie suchte tastend nach einer Lampe und zündete sie schließlich an. In der Küche blieb sie stehen und starrte mit bebenden Lippen auf das karge, halbzubereitete Essen. Das Feuer war ausgegangen, das Wasser von den Kartoffeln verkocht. Als sie den Deckel abnahm, stieg ein brenzliger Geruch aus dem Topf auf. Methodisch wie immer, reinigte und wusch sie den Topf, brachte alles in Ordnung und schnitt die Kartoffeln in Scheiben, sodass sie sie am nächsten Tage braten konnte. Und ebenso methodisch entkleidete sie sich und ging zu Bett. Ihre vollkommene Ruhe war unnatürlich, so unnatürlich, dass sie sofort die Augen schloss und fast im selben Augenblick eingeschlafen war.
Es war seit ihrer Verheiratung die erste Nacht, die sie ohne Billy verbrachte. Sie war ganz verblüfft, dass sie nicht wach gelegen und sich um ihn geängstigt hatte. Mit weit offenen Augen, fast ohne Gedanken in ihrem Hirn, blieb sie liegen, bis sie bemerkte, dass ihr Arm schmerzte. Dort hatte Billy sie gepackt. Als sie die schmerzende Stelle untersuchte, sah sie, dass sie ganz schwarz und blau war. Sie war überrascht, nicht darüber, dass der Mensch, den sie über alles auf der Welt liebte, ihr diesen Schaden zugefügt hatte, sondern über das rein Physische, dass ein Druck, der nur einen Augenblick dauerte, solchen Schaden anrichten konnte. Die Kraft eines Mannes war etwas Fürchterliches. Sie ertappte sich dabei, wie sie, ganz unpersönlich, darüber nachdachte, ob Charley Long wohl ebenso stark wie Billy sei.
Erst als sie sich angekleidet und Feuer gemacht hatte, begann sie, an Näherliegendes zu denken. Billy war nicht wiedergekommen – also war er verhaftet worden. Was sollte sie tun? Ihn im Gefängnis lassen, ihrer Wege gehen und ein neues Leben beginnen? Selbstverständlich war es unmöglich, weiter mit einem Mann zusammenzuleben, der sich so wie er benommen hatte. Dann aber tauchte ein anderer Gedanke auf – war es wirklich unmöglich? Trotz allem war er ja ihr Mann. In guten und schlechten Tagen – den Satz wiederholte sie sich immer wieder, als monotone Begleitung zu ihren Gedanken, im Hintergrund ihres Bewusstseins. Ihn zu verlassen, hieß, alles aufzugeben. Sie brachte die Sache vor den Richterstuhl der Erinnerung an ihre Mutter. Nein, Daisy hätte nie aufgegeben. Daisy hatte Kampfblut in den Adern. Also musste auch sie, Saxon, kämpfen. Und zudem – das gab sie willig, wenn auch kalt und tot, zu – zudem war Billy besser als die meisten Ehemänner. Und sie erinnerte sich seines Feingefühls und Taktes bei so vielen früheren Gelegenheiten und namentlich seines ewigen Kehrreims: Nichts ist zu gut für uns.
Um elf Uhr kam Besuch. Es war Bud Stroters, Billys Kamerad bei der Streikwache. Er erzählte ihr, dass Billy sich geweigert hätte, Kaution zu stellen, sich geweigert hätte, einen Rechtsanwalt zu nehmen,