andere Familienstreit, nicht wahr?« sagte Saxon mit ruhigem Lächeln.
Sarah wurde so wütend, dass sie im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte.
»Und das will ich dir nur sagen«, fuhr Saxon fort. »Eine Frau muss stolz sein, wenn Männer sich um sie schlagen. Und ich bin stolz darauf, hörst du? Ich bin stolz darauf, das kannst du gern all deinen Nachbarn, allen Menschen erzählen. Ich bin keine Kuh, Männer lieben mich, Männer schlagen sich meinetwegen, Männer gehen meinetwegen ins Gefängnis. Und jetzt kannst du gehen, Sarah, und zwar sofort, und den Leuten erzählen, was du zwischen den Zeilen gelesen hast. Erzähl ihnen, dass Billy ein Zuchthauskandidat ist, und dass ich eine schlechte Frau bin, hinter der alle Männer her sind. Ruf es von den Dächern herunter, und möchtest du Freude daran haben. Und nun geh, und setze nie wieder deinen Fuß in mein Haus. Du bist eine zu achtbare Frau, um hierherzukommen. Dein guter Ruf könnte darunter leiden. Und denk an deine Kinder. Aber jetzt geh! Geh!«
Erst als die verblüffte und entsetzte Sarah zur Tür hinaus war, warf Saxon sich heftig weinend aufs Bett. Sie hatte sich bisher nur über Billys Brutalität und Ungerechtigkeit geschämt. Jetzt aber wusste sie, wie andere die Sache ansahen. Das war Saxon bisher nicht eingefallen. Sie war überzeugt, dass es auch Billy nicht eingefallen war. Sie kannte seine Haltung von Anfang an. Er war immer dagegen gewesen, einen Zimmerherrn zu nehmen, weil er zu stolz war, seine Frau arbeiten zu lassen. Nur die harte Not hatte ihm seine Einwilligung abgezwungen. Und jetzt, da sie zurücksah, dachte sie daran, wie sie ihm diese Einwilligung fast mit List abgerungen hatte.
Aber alles das konnte die Anschauung der Nachbarn und aller, die sie gekannt hatten, nicht ändern. Und das war auch Billys Schuld. Das war furchtbarer als alles, was er sonst getan. Sie konnte nie wieder einem Menschen ins Auge sehen. Maggie Donahue und Frau Olsen waren beide sehr freundlich gewesen, aber was mochten sie wohl gedacht haben, als sie mit ihr sprachen? Und was mochten sie wohl miteinander gesprochen haben? Ja, was sagten die Leute überhaupt – an Gartenpforten und auf Hintertreppen? Und die Männer an Straßenecken und in Wirtschaften?
Als sie später vom Weinen völlig erschöpft war und keine Tränen mehr hatte, wurde sie unpersönlicher und dachte an das Unglück, das so viele Frauen seit Ausbruch des Streiks betroffen hatte – Otto Franks Frau, Hendersons Witwe, die hübsche Kittie Brady, all die Frauen anderer Männer, die jetzt in ihrer Gefängniskleidung in San Quentin waren. Ihre Welt wollte zusammenstürzen. Niemand ging frei aus. Aber ihre Schande war größer als die aller anderen. Sie klammerte sich verzweifelt an die Einbildung, dass sie schliefe, dass alles ein böser Traum sei, dass der Wecker im nächsten Augenblick läuten, und dass sie aufstehen würde, um Billys Frühstück zu bereiten. Sie stand an diesem Tage gar nicht auf. Sie schlief auch nicht. Ihre Gedanken arbeiteten unaufhörlich mit rasender Schnelligkeit, verweilten zuerst ausführlich, anhaltend bei dem Unglück, das sie betroffen hatte, um dann den fantastischen Verzweigungen dessen, was sie für ihre Schande ansah, zu folgen und endlich zu den Tagen der Kindheit zurückzukehren. In Gedanken verrichtete sie in all den Berufen, die sie je gehabt hatte, die unzähligen mechanischen Bewegungen, die für jede einzelne Arbeit eigentümlich waren – das Formen und Zusammenkleben der Schachteln in der Kartonagenfabrik, die Webarbeit in der Jutefabrik, das Plätten in der Plätterei, die Behandlung von Obst in der Konservenfabrik. In Gedanken erlebte sie wieder alle die Bälle und Waldausflüge, an denen sie je teilgenommen hatte; sie durchlebte ihre Schultage und erinnerte sich jedes ihrer Klassenkameraden, wie sie aussahen, wie sie hießen und wo sie saßen; erlitt die grauen, trüben Jahre im Kinderheim, zog jede Erinnerung, jede Geschichte von der Mutter hervor und durchlebte wieder ihre Ehe mit Billy. Aber immer wieder – und das war das Quälende – wurden ihre Gedanken, wenn sie noch so weit flogen, zurückgeführt zu der Pein des Augenblicks, zu dem brennenden Gefühl in der Kehle, zu dem dumpfen Schmerz in der Brust und dem nagend-leeren Gefühl, dass alles vorbei war.
*
Die ganze Nacht lag Saxon schlaflos da, ohne sich zu entkleiden, und als sie morgens aufstand, wusch sie sich das Gesicht und machte sich das Haar. Ihr war seltsam zumute, sie war wie betäubt und hatte ein Gefühl, als sei ihr Kopf von einem schweren eisernen Reif zusammengepresst. Das war der Anfang einer Krankheit, die sie nicht bei Namen nennen konnte. Sie wusste nur, dass ihr seltsam zumute war. Es war kein Fieber. Es war keine Erkältung. Körperlich fehlte ihr nichts, und als sie ein wenig nachgedacht hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass es nur die Nerven waren – die Nerven, die nach ihrer Vorstellung und der ihrer Klasse keine Verbindung mit physischem Unwohlsein hatten.
Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie sich selbst fremd geworden war, und dass die Welt, in der sie sich bewegte, eine wie in einen Nebelschleier eingehüllte unklare Welt war, die keine scharfen Konturen hatte, und deren sonstige Klarheit verschwunden war. Ihr Gedächtnis wies große Lücken auf, und sie ertappte sich immer wieder dabei, wie sie Dinge tat, die sie gar nicht hatte tun wollen. So kam sie zu ihrem großen Erstaunen plötzlich zur Besinnung, als sie auf dem Hinterhof stand und die Wäsche der Woche zum Trocknen aufhängte. Sie erinnerte sich nicht, die Arbeit getan zu haben, und doch war es genau das, was sie tun sollte. Sie hatte Laken, Kissenbezüge und Tischwäsche gekocht; Billys Wollwäsche war in warmem Wasser gewaschen, mit selbstverfertigter Seife, deren Rezept Mercedes ihr gegeben hatte. Bei näherem Nachsehen entdeckte sie, dass sie ein Kotelette zum Frühstück gegessen hatte. Das hieß, dass sie beim Schlächter gewesen war, und doch erinnerte sie sich dessen nicht. Neugierig ging sie ins Schlafzimmer. Das Bett war gemacht und alles in Ordnung. In der Dämmerung kam sie zu sich. Sie saß im Vorderzimmer am Fenster und weinte vor überströmender Freude. Anfangs wusste sie nicht, weshalb sie sich so freute, dann aber tauchte plötzlich das Bewusstsein in ihrem Kopfe auf, dass es daher kam, weil sie ihr Kindchen verloren hatte. »Es ist ein Segen, ein Segen!« sang sie laut und rang die Hände, aber aus Freude – sie wusste, dass sie ihre Hände aus Freude rang.
Die Tage kamen und gingen. Sie hatte nur einen vagen Begriff von der Zeit. Zuweilen kam es ihr vor, als seien Jahrhunderte vergangen, seit Billy ins Gefängnis gekommen war. Dann wieder war es, als sei alles am Abend zuvor geschehen. Immer wieder aber tauchten die beiden Gedanken auf: sie durfte Billy nicht im Gefängnis besuchen, und es war ein Segen, dass sie ihr Kind verloren hatte.
Einmal kam Bud Stroters, um nach ihr zu sehen. Er saß im Vorderzimmer und sprach mit ihr, und es beschäftigte sie sehr, als sie sah, dass seine Hosen unten ausgefranst waren. Wieder eines Tages kam der Geschäftsführer der Gewerkschaft. Sie sagte ihm, wie sie Bud Stroters