den Kopf.
»Wenn – wenn Sie mir nur erklären wollen, wo ich die Straßenbahn nach der Achten Straße finde. Ich komme nicht oft in diese Gegend.«
Er sagte ihr, wo die Straßenbahn war, und wo sie umzusteigen hatte, und sie war erstaunt, wie weit sie gegangen war.
»Danke«, sagte sie. »Auf Wiedersehen!«
»Und Sie sind ganz sicher, dass ich nichts für Sie tun kann?«
»Ganz sicher.«
»Nun ja, auf Wiedersehen denn!« Er lächelte gutmütig. »Und sagen Sie Ihrem Mann, er soll sehen, dass er in Form bleibt. Er wird seine Kräfte brauchen, wenn wir beide aufeinander losgehen.«
»Aber Sie dürfen nicht mit ihm kämpfen«, warnte sie ihn. »Sie dürfen es nicht tun. Sie haben nicht die geringste Chance.«
»So hab’ ich es gern«, sagte er bewundernd. »So müssen Frauen an ihre Männer glauben! Eine gewöhnliche Frau würde fürchten, dass ihr Mann Prügel bekäme –«
»Ja, ich fürchte mich nicht – seinetwegen. Nur Ihretwegen. Er ist ein glänzender Boxer. Sie hätten nicht die geringste Chance – es wäre wie – wie –«
»Wie wenn man einem Säugling den Schnuller stähle?« beendete Blanchard den Satz für sie.
»Ja«, nickte sie. »Genau so würde er sagen. Und deshalb sage ich, nehmen Sie sich in acht. Aber jetzt muss ich gehen. Auf Wiedersehen, und nochmals vielen Dank.«
Sie ging den Bürgersteig entlang, während sein freundliches »Auf Wiedersehen« ihr noch in den Ohren klang. Er war gut – das gestand sie sich ganz ehrlich – und doch war er einer der klugen Leute, einer der Großen, die nach Billys Meinung verantwortlich waren für all das Böse, das den Arbeitern widerfuhr, für die Leiden der Frauen und die Strafen, die die Männer ertrugen, die in ihrer gestreiften Gefängnistracht in San Quentin herumgingen oder in der Todeszelle darauf warteten, das Schafott zu besteigen. Und doch war er freundlich, liebenswürdig, rein und gut. Sie konnte ihm den Charakter vom Gesicht ablesen. Wie aber konnte das sein, wenn er für das viele Böse verantwortlich war? Sie schüttelte müde den Kopf. Es gab keine Erklärung, nichts, das ihr zum Verständnis einer Welt verhelfen konnte, die kleine Kinder vernichtete und Frauenbrüste misshandelte.
Es erstaunte sie nicht, dass sie sich zwischen all diese feinen Häuser verirrt hatte, das entsprach gut all den anderen seltsamen Dingen, die sie tat. Sie tat so vieles, ohne es zu wissen. Aber sie musste vorsichtig sein. Es war besser, bei den Sümpfen und dem Rock Wall zu bleiben.
Namentlich den Rock Wall liebte sie. Hier draußen war es frei, weit und groß, und das versuchte sie instinktiv einzuatmen, indem sie die Arme ausbreitete, um es zu umfassen und zu einem Teil ihrer selbst zu machen. Es war eine natürlichere Welt, eine vernünftigere Welt. Sie verstand sie – verstand die grünen Krabben mit den verblichenen Klauen, die wegeilten, wenn man sich näherte, und die sie bei Ebbe auf Felsstücken mit grünen Seegrasweiden sehen konnte. Wenn auch der große Deich sicher von Menschenhänden verfertigt war, so schien doch nichts Künstliches daran zu sein. Es gab keine Menschen hier, kein Gesetz, keinen Kampf zwischen Menschen. Das Meer stieg und sank, je nachdem Flut oder Ebbe war. Die Sonne ging auf und unter; regelmäßig jeden Nachmittag kam der starke Westwind durch das Goldene Tor hereingetanzt, verdunkelte das Wasser, setzte Schaumwipfel auf die winzigen Wellen und ließ die Segelboote über das Wasser fliegen. Alles war frei. Hier lag Brennholz, das man nur aufzulesen brauchte. Kleine Knaben fischten mit Ruten von den Felsen aus, denn niemand verjagte sie, und sie fingen Fische, wie Billy als Knabe Fische gefangen hatte.
Und hier war Nahrung, Nahrung, die jeder nehmen konnte. Sie sah die kleinen Knaben eines Tages bei Ebbe Muscheln auf den Felsen sammeln und sie an der Glut eines Feuers braten, das sie auf dem Deich anzündeten. Sie schmeckten glänzend. Saxon lernte, die kleinen Austern von den Felsblöcken brechen, und einmal fand sie ein kleines Bündel frischgefangener Fische, das ein Knabe vergessen hatte.
Aber auch hier trieben Zeugnisse von den bösen Taten der Menschen an Land – aus den fernen Städten. Eines Tages bei Hochwasser war der ganze Wasserspiegel von Melonen bedeckt. Tausende und aber Tausende von Melonen hüpften und tanzten im Delta. Wenn sie an die Felsen trieben, konnte sie sie auffischen. Aber alle wie eine – und sie versuchte es geduldig mit Dutzenden – waren durch einen tiefen Schnitt, in den das Salzwasser hineindrang, verdorben. Sie konnte es nicht verstehen und fragte eine alte Portugiesin, die Treibholz auffischte.
»Das tun die Leute, die zu viel haben«, erklärte die alte Frau und reckte ihren Rücken, der steif von der Arbeit war, mit solcher Mühe, dass Saxon ihn fast knirschen hörte. Die schwarzen Augen der alten Frau leuchteten zornig, und ihre runzligen Lippen, die sich straff über den zahnlosen Gaumen spannten, waren vor Zorn ganz verzerrt. »Die Leute, die zu viel haben. Um die Preise hochzuhalten. Sie werfen sie in San Franzisko ins Wasser.«
»Aber warum geben sie sie denn nicht den Armen?« fragte Saxon.
»Sie müssen die Preise halten.«
»Aber die Armen können sie ja doch nicht kaufen«, wandte Saxon ein. »Das könnte doch den Preisen nichts schaden.«
Die alte Frau zuckte die Achseln.
»Ich weiß es nicht. So machen sie es nun einmal. Sie zerschneiden jede Melone, sodass die Armen sie nicht auffischen und essen können. Ebenso machen sie es mit Apfelsinen und Äpfeln. Auch mit Fischen. Ja, es ist ein Trust. Wenn die Boote zu viele Fische fangen, wirft der Trust sie beim Fischerkai ins Wasser. Boot auf Boot voll von all den herrlichen Fischen. Die herrlichen Fische sinken und verschwinden. Niemand bekommt sie. Ja, und das, obwohl sie tot sind und nur zum Essen taugen.«
Und Saxon konnte eine Welt nicht verstehen, die derlei tat – eine Welt, wo einige Menschen so viel zu essen hatten, dass sie es wegwarfen, Leute bezahlten, um es zu vernichten, ehe sie es wegwarfen. Während in derselben Welt so viele Menschen waren, die nicht genug zu essen hatten, deren Kinder starben, weil die Milch ihrer Mütter nicht nahrhaft genug war, deren junge Männer kämpften und einander totschlugen, um Arbeit zu bekommen, deren alte Männer und Frauen ins Armenhaus wandern mussten, weil es nicht genug in den elenden kleinen Löchern zu essen gab, die sie weinend verließen. Und so war es in der ganzen Welt. Hatte Mercedes nicht zehntausend Familien im fernen Indien verhungern sehen, obwohl, wie sie selbst gesagt hatte, die Juwelen, die sie trug, sie alle vom Hungertode hätte erretten können?
Eine Weile saß Saxon zerschmettert, hilflos da. Dann aber begann in ihr ein Drang nach Protest, nach Aufruhr zu schwelen. Sie fragte sich vergebens, warum Gott so mit ihr umgesprungen