es zu einer unumstößlichen Tatsache, sodass sie nur zitternd, in kalten Schweiß gebadet und mit einem lauten Schrei aufwachen konnte. Ihr Schlaf wurde immer unruhiger und immer mehr von bösen Träumen gestört. Zuweilen war sie überzeugt, dass sie gar nicht schlief, sie wusste, dass sie an Schlaflosigkeit litt, und an Schlaflosigkeit war ihre Mutter gestorben.
Eines Tages kam sie in Doktor Hentleys Sprechzimmer zu sich. Er sah sie an, als wüsste er nicht recht, was er glauben sollte.
»Bekommen Sie auch genug zu essen?« fragte er.
Sie nickte.
»Bedrückt etwas Ernsthaftes Sie?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist nichts, Herr Doktor – außer –«
»Nun, was denn?« sagte er ermutigend.
Und jetzt wusste sie, warum sie gekommen war. Klar und offen erzählte sie ihm alles. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Das geht nicht, mein Kind«, sagte er.
»Doch, es geht!« rief sie. »Ich weiß, dass es geht.«
»Ach, das meine ich nicht«, antwortete er. »Ich meine nur, dass ich es Ihnen nicht sagen kann. Ich darf es nicht. Es ist ungesetzlich. Ein Arzt sitzt deswegen im Leavenworth-Gefängnis.«
Sie bestürmte ihn vergeblich mit ihren Bitten. Er erzählte, dass er selbst Frau und Kinder hätte und sich ihretwegen nicht in Gefahr bringen dürfte.
»Außerdem besteht augenblicklich keine Wahrscheinlichkeit dafür«, sagte er.
»Aber es kommt, es kommt ganz sicher«, beharrte sie eindringlich.
Aber er schüttelte nur traurig den Kopf.
»Warum wollen Sie es wissen?« fragte er schließlich. Saxon schüttete ihm ihr Herz aus. Sie erzählte ihm von dem ersten glücklichen Jahr mit Billy, von den schweren Zeiten, die infolge der Arbeiterunruhen gekommen waren, von der mit Billy vorgegangenen Veränderung und von ihrer eigenen wahnsinnigen Angst. Nicht, wenn es sterben sollte, schloss sie. Das könnte sie noch einmal ertragen. Aber wenn es leben sollte! Billy würde bald aus dem Gefängnis kommen, und dann sei die Gefahr da. Es seien ja nur ein paar Worte. Sie wolle es keinem Menschen erzählen. Wilde Pferde sollten es nicht aus ihr herausziehen können.
Aber Doktor Hentley schüttelte nur weiter den Kopf.
»Ich kann es Ihnen nicht sagen, mein Kind. Es ist eine Schande, aber ich wage es nicht. Mir sind die Hände gebunden. Es ist ein Fehler in unsern Gesetzen. Ich muss an die denken, die mir teuer sind.«
Erst als sie aufstand, um zu gehen, wurde sein Entschluss wankend.
»Kommen Sie«, sagte er. »Setzen Sie sich dicht zu mir.«
Er wollte ihr etwas zuflüstern, aber in übertriebener Vorsicht stand er plötzlich auf, schritt an das andere Ende der Stube, öffnete die Tür und sah hinaus. Als er sich wieder setzte, zog er seinen Stuhl so dicht an den ihren, dass ihre Arme sich berührten, und als er flüsterte, kitzelte sein Bart ihr Ohr.
»Nein, nein«, sagte er abwehrend, als sie ihre Dankbarkeit auszudrücken versuchte. »Ich habe Ihnen nichts erzählt. Sie sind bei mir gewesen, um mich wegen Ihrer Gesundheit im Allgemeinen zu konsultieren. Sie sind sehr herunter, sind nicht recht bei sich –«
Im Sprechen begleitete er sie zur Tür. Als er sie öffnete, stand ein Patient im Vorzimmer. Doktor Hentley hob die Stimme.
»Sie brauchen das stärkende Mittel, das ich Ihnen aufgeschrieben habe, vergessen Sie das nicht! Und überfüllen Sie nicht Ihren Magen, wenn Sie wieder Appetit bekommen. Aber essen Sie etwas Gutes, Nahrhaftes. Auf Wiedersehen!«
*
Manchmal wurde es ganz unerträglich für Saxon in dem stillen Haus, und dann warf sie sich einen Shawl1 über den Kopf und ging nach der Oakländer Mole oder über das Eisenbahngelände und durch die Sümpfe nach Sandy Beach, wo Billy, wie er ihr erzählt hatte, zu baden pflegte. Oder sie ging nach der Fährstelle, indem sie auf einer unsicheren eisernen Leiter über Holzstapel kletterte, und wenn sie dann über einen Berg von Brennholz kroch, konnte sie zum Rock Wall gelangen, der sich weit in die Bucht hinaus erstreckte und die Schlickfläche von dem in das Oakländer Delta mündenden Kanal trennte. Hier wehte der frische Seewind und Oakland schwand zu einem Rauchfleck hinter ihr, während sie jenseits der Bucht den Rauchfleck sah, der San Franzisko bedeutete. Ozeandampfer fuhren im Delta ein und aus, und Segelschiffe mit hohen Masten wurden von Schleppern mit roten Schornsteinen gezogen.
Sie sah die Seeleute auf den Schiffen und dachte an die langen Reisen, die sie machten, und die fernen Länder, die sie besuchten, und das freie Leben, das sie führen mochten. Oder waren sie vielleicht von einer Welt umgeben, die ebenso unbarmherzig und böse war wie die, welche Oakland mit seinen Bewohnern umgab? Es sah nicht so aus, und manchmal wünschte sie, auf einem der ausfahrenden Schiffe zu sein – und zu fahren, einerlei wohin, nur weit fort von der Welt, der sie ihr Bestes gegeben und die sie dafür mit Füßen getreten hatte.
Sie wusste es nicht immer, wann sie ausging oder wo ihre Füße sie hintrugen. Einmal kam sie zu sich in einer Gegend von Oakland, die sie gar nicht kannte. Die Straße war breit, und zu beiden Seiten waren Reihen schattiger Bäume und sammetweiche Rasenflächen, die nur von zementierten Bürgersteigen unterbrochen wurden, die Häuser lagen etwas auseinander und waren groß – sie bezeichnete sie in Gedanken als Paläste. Was sie wieder ins Bewusstsein riss, war ein junger Mann auf dem Führersitz eines großen Tourenautomobils, das vor einem der Häuser hielt. Er sah sie neugierig an, und sie erkannte ihn. Es war Roy Blanchard, der junge Mann, dem Billy vor dem Forum Prügel angedroht hatte. Neben dem Automobil stand barhaupt ein anderer junger Mann. Auch seiner erinnerte sie sich. Es war der, der – an dem Sonntag, als sie Billy das erstemal getroffen – dem Läufer den Stock zwischen die Beine gesteckt und dadurch das allgemeine Handgemenge verursacht hatte. Wie Blanchard, sah auch er sie neugierig an, und ihr wurde plötzlich klar, dass sie Selbstgespräche geführt hatte. Ihre eigene unzusammenhängende Rede klang ihr noch im Ohr. Sie wurde heiß vor Scham und beschleunigte ihren Gang. Blanchard sprang vom Auto herunter und ging ihr entgegen.
»Ist Ihnen etwas?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, und obwohl sie stehen blieb, gab sie doch deutlich zu erkennen, dass sie weiterzugehen wünschte.
»Ich kenne Sie gut«, sagte er und sah ihr forschend ins Gesicht. »Sie waren mit dem streikenden Arbeiter zusammen, der mir eine Tracht Prügel versprach.«
»Das