Джек Лондон

Gesammelte Werke


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der Kon­ser­ven­fa­brik. Sie hat­te zu den best­be­zahl­ten We­be­rin­nen ge­hört, als die Ju­te­fa­brik schloss. Und sie hat­te sich brav ge­hal­ten. Und dann war Bil­ly ge­kom­men – ihre Be­loh­nung. Sie hat­te all ihre Zeit ihm, sei­nem Haus, al­lem, was sei­ner Lie­be Nah­rung ge­ben konn­te, ge­op­fert, und jetzt soll­ten sie und Bil­ly in die­sem sinn­lo­sen Wir­bel von Elend und Verzweif­lung ver­sin­ken? Nein, Gott war ver­ant­wort­lich da­für. Sie hät­te selbst eine bes­se­re Welt schaf­fen kön­nen – eine schö­ne­re, ge­rech­te­re Welt. Wenn es aber so war, dann gab es kei­nen Gott. Gott konn­te ein sol­ches Pfusch­werk nicht ma­chen. Die Vor­ste­he­rin hat­te un­recht ge­habt, ihre Mut­ter hat­te un­recht ge­habt. Aber dann gab es kei­ne Uns­terb­lich­keit, und Bert, der wil­de, tol­le Bert, der mit sei­nem furcht­ba­ren To­des­schrei vor ih­rer Gar­ten­pfor­te nie­der­ge­stürzt war, hat­te recht ge­habt. Wenn man tot war, war man tot.

      Und wie Sa­xon das Le­ben so al­les Her­kömm­li­chen und Über­sinn­li­chen be­raubt be­trach­te­te, war es, als ge­rie­te sie in einen Sumpf des Pes­si­mis­mus, wo sie kei­nen Grund fin­den konn­te. Es gab nichts im Uni­ver­sum, das die For­de­rung recht­fer­tig­te, dass man sich gut auf­füh­ren soll­te, kei­ne ehr­li­che Chan­ce für sie, die die Be­loh­nung ver­dient hat­te, für die Mil­lio­nen, die wie Tie­re ar­bei­te­ten, wie Tie­re star­ben und für alle Ewig­keit tot wa­ren. Wie die Heer­scha­ren ge­lehr­ter Den­ker vor ihr kam sie zu dem Er­geb­nis, dass das Uni­ver­sum ohne Moral und ohne In­ter­es­se an den Men­schen war.

      Jetzt aber saß sie hier, ge­lähmt von ei­ner noch grö­ße­ren Hilf­lo­sig­keit als der, die sie ge­fühlt hat­te, als sie noch Got­tes Platz in der großen Un­ge­rech­tig­keit an­er­kann­te. So­lan­ge Gott exis­tier­te, gab es im­mer die Mög­lich­keit ei­nes Wun­ders, ei­nes Da­zwi­schen­tre­tens auf über­na­tür­li­che Wei­se, ei­ner Be­loh­nung mit un­be­schreib­li­cher Se­lig­keit. Wenn es aber kei­nen Gott gab, dann war die Welt wie eine Fal­le. Das Le­ben war eine Fal­le. Sie war wie ein Hänf­ling, den klei­ne Kna­ben ge­fan­gen und in einen Kä­fig ge­setzt hat­ten. Es kam da­her, weil der Hänf­ling dumm war. Aber sie em­pör­te sich. Sie flat­ter­te und schlug ihre See­le ge­gen die har­te Wirk­lich­keit, wie der Hänf­ling sei­ne Flü­gel ge­gen das Draht­git­ter schlug. Sie war nicht dumm, und sie ge­hör­te nicht in die Fal­le. Sie woll­te her­aus aus der Fal­le. Es muss­te einen Weg ge­ben. Wenn Schiffs­jun­gen und Holz­ha­cker, die Ge­rings­ten der Dum­men und Ge­rin­gen, einen Weg hin­auf­fan­den, Prä­si­den­ten der gan­zen Na­ti­on wer­den und all die klu­gen Leu­te in den Au­to­mo­bi­len be­herr­schen konn­ten, dann muss­te auch sie einen Weg nach oben fin­den und die win­zi­ge Be­loh­nung ge­win­nen kön­nen, nach der sie trach­te­te: Bil­ly, ein klein we­nig Lie­be, ein klein we­nig Glück.

      Wie woll­te sie für die­ses Glück ar­bei­ten! Aber wo ging der Weg? Sie sah ihn nicht. Ihre Au­gen sa­hen nur den dunklen Fleck, der San Fran­zis­ko war, den dunklen Fleck, der Oa­k­land war, wo Män­ner ein­an­der die Köp­fe zer­schlu­gen und tö­te­ten, wo klei­ne Kin­der, ge­bo­re­ne und un­ge­bo­re­ne, star­ben, und wo Frau­en mit miss­han­del­ten Brüs­ten wein­ten.

      Ihr va­ges, un­wirk­li­ches Da­sein ging wei­ter. Ihr war, als sei es ein frü­he­res Le­ben, in dem Bil­ly sie ver­las­sen, und als kön­ne noch ein gan­zes Le­ben ver­ge­hen, ehe er wie­der­kehr­te. Sie litt im­mer noch an Schlaf­lo­sig­keit. Es ver­gin­gen vie­le Näch­te, eine nach der an­de­ren, in de­nen sie nicht ein ein­zi­ges Mal die Au­gen schloss. Dann wie­der schlief sie lan­ge Schwä­che­pe­ri­oden hin­durch, er­wach­te be­täubt und ge­lähmt, kaum im­stan­de, die schlaf­schwe­ren Au­gen zu öff­nen und die mü­den Glie­der zu be­we­gen. Der Druck des ei­ser­nen Rei­fens um ih­ren Kopf schwand nicht einen Au­gen­blick. Sie war un­ter­er­nährt und hat­te nicht einen Pfen­nig. Oft be­kam sie den gan­zen Tag lang nichts zu es­sen. Ein­mal ver­gin­gen zwei­und­sieb­zig Stun­den, ohne dass sie das ge­rings­te zu es­sen hat­te. Sie such­te Schal­tie­re im Sumpf, lös­te die win­zi­gen Aus­tern von den Fels­blö­cken und sam­mel­te Mu­scheln.

      Als aber Bud Stro­ters kam, um nach ihr zu se­hen, ver­si­cher­te sie ihm doch, dass es ihr aus­ge­zeich­net gin­ge. Ei­nes Abends nach der Ar­beits­zeit kam Tom und zwang sie, zwei Dol­lar zu neh­men. Er war schreck­lich be­sorgt und hät­te ihr gern mehr ge­hol­fen, aber Sa­rah er­war­te­te in der nächs­ten Zeit ein Kind. Es wa­ren schlech­te Zei­ten für sei­nen ei­ge­nen Be­ruf, weil in so vie­len an­de­ren Be­ru­fen ge­streikt wur­de. Er konn­te nicht be­grei­fen, was mit dem gan­zen Land los war. Und doch war al­les so ein­fach. Man brauch­te nur die Din­ge so zu se­hen, wie er sie sah, und so zu stim­men, wie er stimm­te. Dann gab es Ge­rech­tig­keit für alle. Chris­tus selbst war So­zia­list, er­zähl­te er ihr.

      »Aber Chris­tus starb vor zwei­tau­send Jah­ren«, sag­te Sa­xon.

      »Ja, und wenn schon?« frag­te Tom, der nicht ver­stand, wo sie hin­aus­woll­te.

      »Denk nur«, sag­te sie, »denk nur an alle die Män­ner und Frau­en, die in den zwei­tau­send Jah­ren ge­stor­ben sind, und der So­zia­lis­mus ist noch im­mer nicht ge­kom­men. Und wenn noch zwei­tau­send Jah­re ver­gan­gen sind, ist er viel­leicht fer­ner als je. Tom, dein So­zia­lis­mus hat dir nicht im ge­rings­ten genützt. Er ist ein Traum.«

      Ein trau­ri­ger Aus­druck trat in das müde Ge­sicht ih­res Bru­ders, er nick­te und seufz­te:

      »Ja, ja, Sa­xon, aber wenn es ein Traum ist, dann ist es ein schö­ner Traum.«

      »Aber ich will nicht träu­men«, ant­wor­te­te sie. »Ich will, dass al­les Wirk­lich­keit wird. Ich will es jetzt ha­ben.«

      Für die zwei Dol­lar kauf­te sie sich einen Sack Mehl und einen hal­b­en Sack Kar­tof­feln und er­ziel­te da­durch ei­ni­ge Ab­wechs­lung in ih­rer ein­för­mi­gen Kost, die sonst aus­schließ­lich aus Mu­scheln und Schal­tie­ren be­stand. Wie die ita­lie­ni­schen und por­tu­gie­si­schen Frau­en sam­mel­te sie Treib­holz und trug es heim, wenn sie es auch im­mer als eine De­mü­ti­gung ih­res Stol­zes emp­fand und es so ein­rich­te­te, dass sie erst nach Ein­tritt der Dun­kel­heit heim­kam. Ei­nes Ta­ges war ein ita­lie­ni­sches Fi­scher­boot vom Bag­ger im Kanal auf den Sand ge­zo­gen wor­den und lag auf der dem Sumpf zu­ge­kehr­ten Sei­te des Rock Walls. Sa­xon saß auf dem Deich und sah auf die Män­ner hin­ab, die sich um das Koh­len­be­cken ver­sam­melt hat­ten und har­tes ita­lie­ni­sches Brot nebst ei­nem Ge­richt aus ge­stov­tem Ge­mü­se und Fleisch aßen, das sie mit dün­nem ro­ten Wein hin­ab­spül­ten. Spä­ter zo­gen sie ein Grund­netz durch das schlam­mi­ge Was­ser über den Sand und be­ka­men eine Men­ge Fi­sche, wo­bei sie sich für ih­ren ei­ge­nen Ge­brauch die größ­ten aus­wähl­ten. Vie­le Tau­sen­de klei­ner Fi­sche von Sar­di­nen­grö­ße lie­ßen sie ster­bend auf dem San­de lie­gen, als sie fort­se­gel­ten. Sa­xon be­kam einen gan­zen Sack voll und muss­te sie in zwei­mal heim­schlep­pen, wor­auf sie sie in ei­nem Holz­zu­ber ein­salz­te.

      Aber im­mer noch gab es Zei­ten, da sie nicht bei vol­lem Be­wusst­sein war. Das merk­wür­digs­te von al­lem, was sie in die­sen Pe­ri­oden un­ter­nahm, war, wie sie an ei­nem stür­mi­schen Nach­mit­tag in ei­nem selbst­ge­gra­be­nen Loch, mit Sä­cken be­deckt, auf­wach­te. Sie hat­te sich so­gar eine Art pri­mi­ti­ven Da­ches aus Treib­holz und Schilf über dem Kopf ver­fer­tigt. Und das Schilf hat­te sie mit Sand be­schwert.

      Ein an­der­mal kam sie zu sich, wie sie mit ei­nem Bün­del Treib­holz auf dem Rücken, das durch ein Tau­en­de