kann ich nicht raten«, sagte Saxon. »Wie viel?«
»Sechs Dollar! Denken Sie sich – ein solches Boot für sechs Dollar! Natürlich habe ich eine Menge daran gemacht, und das Segel hat zwei Dollar gekostet, die Riemen einen Dollar vierzig und der Anstrich einen Dollar fünfundsiebzig. Aber für elf Dollar fünfzehn ist es doch billig gekauft. Und ich musste lange sparen, bis ich es kriegte. Ich trage Morgen- und Abendzeitungen aus – ein anderer Junge hat mir den Nachmittagsgang abgenommen – und ich gebe ihm dafür zehn Cent – und alle ›Extras‹, die er verkauft, gehören ihm; und ich würde das Boot schneller bekommen haben, wenn ich nicht meine Stenografiestunden hätte bezahlen müssen. Meine Mutter wollte, dass ich Gerichtsstenograf würde. Die kriegen manchmal ganze zwanzig Dollar den Tag. Nun ja, aber ich mache mir nichts daraus. Es ist Sünde und Schande, Geld für die Stunden rauszuschmeißen.«
»Woraus machst du dir denn etwas?« fragte sie, halb, um ihre Gedanken zu beschäftigen, und halb, weil sie wirklich neugierig war. Denn sie fühlte sich von diesem Jungen angezogen, der so vertrauensvoll und gleichzeitig so merkwürdig verträumt war.
»Woraus ich mir etwas mache?« wiederholte er.
Er drehte langsam den Kopf, folgte dem Horizont, sein Blick weilte einen Augenblick auf den braunen Contra-Costa-Bergen und schweifte dann weiter, hinaus auf die See, an Alcatraz und dem Goldenen Tor vorbei. In seinen Augen lag ein unsagbar träumerischer Ausdruck, der ihr ans Herz griff.
»Aus dem!« sagte er und machte eine Armbewegung, die den ganzen Erdkreis umfasste.
»Aus dem?« fragte sie.
Er sah sie an, ganz verblüfft, dass er ihr noch nicht begreiflich gemacht hatte, was er meinte.
»Kennen Sie das Gefühl gar nicht?« fragte er mit einem Versuch, ihre Sympathie für seinen Traum zu gewinnen. »Haben Sie nie das Gefühl, dass Sie sterben würden, wenn Sie nicht erführen, was jenseits der Berge und was jenseits der anderen Berge, hinter den Bergen ist? Und hinter dem Goldenen Tor! Der Stille Ozean liegt dahinter, und China und Japan und Indien und – alle Koralleninseln. Man kann durch das Goldene Tor überall hinkommen, nach Australien, nach Afrika, nach den Robbeninseln, nach dem Nordpol, nach Kap Horn. Und alles das wartet auf mich, und ich werde auch schon hinkommen und es sehen.«
Und wieder, als hätte er keine Worte, um sein allumfassendes Verlangen auszudrücken, machte er eine Armbewegung nach dem Horizont.
Auch Saxon durchbebte es. Sie hatte, mit Ausnahme ihrer frühesten Kindheit, ihr ganzes Leben in Oakland verbracht. Und dort war es gut gewesen – bis jetzt. Jetzt aber, bei allen diesen Schrecken, die wie böse Träume waren, jetzt war es ein Ort, von dem man wegkommen musste, wie ihre Vorfahren vom Osten hatten wegkommen müssen. Und warum nicht? Die große Welt riss und zerrte an ihr, und der Wunsch des Knaben hallte in ihr wider. Ihre Gedanken gingen zurück zu den Erzählungen ihrer Mutter und zu den Holzschnitten in ihrem Poesiealbum, wo ihre halbnackten Vorfahren mit dem Schwert in der Hand aus ihren schmalen, langen Booten gesprungen waren, um am blutigen Strande Englands zu kämpfen.
»Hast du je von den Angelsachsen gehört?« fragte sie.
»Und ob!« Seine Augen leuchteten, und er sah sie mit wachsendem Interesse an. »Ich bin Angelsachse durch und durch. Sehen Sie meine Augen und meine Haut – wie hell ich bin. Ich bin schrecklich weiß, wo ich nicht von der Sonne verbrannt bin. Und mein Haar war gelb, als ich klein war. Meine Mutter sagt, es würde dunkelbraun, wenn ich erwachsen wäre, und darüber ärgere ich mich. Aber deshalb bin ich doch Angelsachse. Wir sind über die Welt gewandert und haben alle anderen verprügelt.«
Saxon nickte, während er in seinen Betrachtungen fortfuhr; ihre Augen leuchteten, sie erkannte plötzlich, welche Herrlichkeit es sein musste, einen solchen Knaben zur Welt zu bringen. Ihr Körper schmerzte so, dass sie sich fast einbildete, ein ungeborenes Wesen bekäme Leben in ihr. Ein neues Geschlecht, ein gutes Geschlecht, dachte sie bei sich. Und sie dachte an sich selber und an Billy, gesunde Schößlinge desselben Geschlechts, und doch zur Kinderlosigkeit verdammt, weil die Welt, die die Menschen geschaffen, sie in eine Falle gelockt hatte, und weil sie verflucht waren, in der Schar der Dummen zu leben.
Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Knaben zu.
»Mein Vater war Soldat im Bürgerkrieg«, erzählte er ihr. »Pfadfinder und Spion. Die Aufrührer wollten ihn zweimal als Spion hängen. In der Schlacht am Wilson Creek lief er eine halbe Meile mit seinem verwundeten Kapitän auf dem Rücken. Vor dem Krieg war er Büffeljäger und Pelzjäger. Er ist fast in jedem Staat von Amerika gewesen. Als er jung war, konnte er mit jedem ringen. Als ganz junger Bursche hatte er schon das Kommando über alle Flößer von Susquehanna. Sein Vater tötete einen Mann in einer Prügelei. Mit einem Schlag seiner bloßen Faust, und das mit sechzig Jahren. Und als er vierundsiebzig war, bekam seine Frau Zwillinge. Er starb, als er ein Feld mit Ochsen pflügte, und da war er neunundsiebzig. Er konnte gerade noch die Ochsen abschirren, dann setzte er sich unter einen Baum und starb. Und mein Vater ist genau so. Er ist jetzt ziemlich alt, aber er fürchtet sich vor gar nichts. Er ist ein richtiger Angelsachse, wissen Sie.«
Er hielt atemlos inne und sah sie an.
»Ich heiße Saxon«, sagte sie.
»Mit Vornamen?«
»Es ist mein Vorname.«
»Na ja!« rief er. »Sie können froh sein! Wenn ich nur Erling hieße – Sie wissen doch, Erling der Tapfere – oder Wolf oder Swen oder Jarl!«
»Wie heißt du denn?« fragte sie.
»Nur John«, räumte er traurig ein. »Aber ich mag nicht, dass man mich John nennt. Alle müssen mich Jack nennen. Ich habe schon ein Dutzend Jungen verprügelt, die mich John oder Johnnie nannten. Würde das Sie nicht auch wütend machen? – Johnnie!«
Sie waren jetzt gegenüber dem Kohlenbunker auf dem langen Kai, und der Junge änderte den Kurs und steuerte auf San Franzisko zu. Sie waren ziemlich weit draußen in der offenen Bucht. Der Westwind hatte zugenommen, und weiße Schaumwipfel krönten überall die starke Strömung. Das Boot flog munter über die Wogen dahin. Wenn der Schaum über den Rand sprühte, dass sie nass wurden, lachte Saxon, und der Junge sah sie beifällig an. Sie kamen an einem Fährboot vorbei, dessen Passagiere sich auf dem oberen Deck an der Reling zusammendrängten, um sie zu sehen. Als die Wellen vom Kielwasser die kleine Jolle erreichten, schlug sie halb voll Wasser. Saxon hob eine leere Dose auf und sah den Jungen an.
»Richtig«, sagte er, »schöpfen Sie nur.« Und als sie fertig war, sagte er: »Wir können mit dem nächsten Schlag die Ziegeninsel