Джек Лондон

Gesammelte Werke


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kann ich nicht ra­ten«, sag­te Sa­xon. »Wie viel?«

      »Sechs Dol­lar! Den­ken Sie sich – ein sol­ches Boot für sechs Dol­lar! Na­tür­lich habe ich eine Men­ge dar­an ge­macht, und das Se­gel hat zwei Dol­lar ge­kos­tet, die Rie­men einen Dol­lar vier­zig und der An­strich einen Dol­lar fünf­und­sieb­zig. Aber für elf Dol­lar fünf­zehn ist es doch bil­lig ge­kauft. Und ich muss­te lan­ge spa­ren, bis ich es krieg­te. Ich tra­ge Mor­gen- und Abend­zei­tun­gen aus – ein an­de­rer Jun­ge hat mir den Nach­mit­tags­gang ab­ge­nom­men – und ich gebe ihm da­für zehn Cent – und alle ›Ex­tras‹, die er ver­kauft, ge­hö­ren ihm; und ich wür­de das Boot schnel­ler be­kom­men ha­ben, wenn ich nicht mei­ne Ste­no­gra­fie­stun­den hät­te be­zah­len müs­sen. Mei­ne Mut­ter woll­te, dass ich Ge­richtss­te­no­graf wür­de. Die krie­gen manch­mal gan­ze zwan­zig Dol­lar den Tag. Nun ja, aber ich ma­che mir nichts dar­aus. Es ist Sün­de und Schan­de, Geld für die Stun­den raus­zu­schmei­ßen.«

      »Woraus machst du dir denn et­was?« frag­te sie, halb, um ihre Ge­dan­ken zu be­schäf­ti­gen, und halb, weil sie wirk­lich neu­gie­rig war. Denn sie fühl­te sich von die­sem Jun­gen an­ge­zo­gen, der so ver­trau­ens­voll und gleich­zei­tig so merk­wür­dig ver­träumt war.

      »Woraus ich mir et­was ma­che?« wie­der­hol­te er.

      Er dreh­te lang­sam den Kopf, folg­te dem Ho­ri­zont, sein Blick weil­te einen Au­gen­blick auf den brau­nen Con­tra-Cos­ta-Ber­gen und schweif­te dann wei­ter, hin­aus auf die See, an Al­ca­traz und dem Gol­de­nen Tor vor­bei. In sei­nen Au­gen lag ein un­sag­bar träu­me­ri­scher Aus­druck, der ihr ans Herz griff.

      »Aus dem!« sag­te er und mach­te eine Arm­be­we­gung, die den gan­zen Erd­kreis um­fass­te.

      »Aus dem?« frag­te sie.

      Er sah sie an, ganz ver­blüfft, dass er ihr noch nicht be­greif­lich ge­macht hat­te, was er mein­te.

      »Ken­nen Sie das Ge­fühl gar nicht?« frag­te er mit ei­nem Ver­such, ihre Sym­pa­thie für sei­nen Traum zu ge­win­nen. »Ha­ben Sie nie das Ge­fühl, dass Sie ster­ben wür­den, wenn Sie nicht er­füh­ren, was jen­seits der Ber­ge und was jen­seits der an­de­ren Ber­ge, hin­ter den Ber­gen ist? Und hin­ter dem Gol­de­nen Tor! Der Stil­le Ozean liegt da­hin­ter, und Chi­na und Ja­pan und In­di­en und – alle Koral­len­in­seln. Man kann durch das Gol­de­ne Tor über­all hin­kom­men, nach Aus­tra­li­en, nach Afri­ka, nach den Rob­ben­in­seln, nach dem Nord­pol, nach Kap Horn. Und al­les das war­tet auf mich, und ich wer­de auch schon hin­kom­men und es se­hen.«

      Und wie­der, als hät­te er kei­ne Wor­te, um sein all­um­fas­sen­des Ver­lan­gen aus­zu­drücken, mach­te er eine Arm­be­we­gung nach dem Ho­ri­zont.

      Auch Sa­xon durch­beb­te es. Sie hat­te, mit Aus­nah­me ih­rer frü­he­s­ten Kind­heit, ihr gan­zes Le­ben in Oa­k­land ver­bracht. Und dort war es gut ge­we­sen – bis jetzt. Jetzt aber, bei al­len die­sen Schre­cken, die wie böse Träu­me wa­ren, jetzt war es ein Ort, von dem man weg­kom­men muss­te, wie ihre Vor­fah­ren vom Os­ten hat­ten weg­kom­men müs­sen. Und warum nicht? Die große Welt riss und zerr­te an ihr, und der Wunsch des Kna­ben hall­te in ihr wi­der. Ihre Ge­dan­ken gin­gen zu­rück zu den Er­zäh­lun­gen ih­rer Mut­ter und zu den Holz­schnit­ten in ih­rem Poe­sie­al­bum, wo ihre halb­nack­ten Vor­fah­ren mit dem Schwert in der Hand aus ih­ren schma­len, lan­gen Boo­ten ge­sprun­gen wa­ren, um am blu­ti­gen Stran­de Eng­lands zu kämp­fen.

      »Hast du je von den An­gel­sach­sen ge­hört?« frag­te sie.

      »Und ob!« Sei­ne Au­gen leuch­te­ten, und er sah sie mit wach­sen­dem In­ter­es­se an. »Ich bin An­gel­sach­se durch und durch. Se­hen Sie mei­ne Au­gen und mei­ne Haut – wie hell ich bin. Ich bin schreck­lich weiß, wo ich nicht von der Son­ne ver­brannt bin. Und mein Haar war gelb, als ich klein war. Mei­ne Mut­ter sagt, es wür­de dun­kel­braun, wenn ich er­wach­sen wäre, und dar­über är­ge­re ich mich. Aber des­halb bin ich doch An­gel­sach­se. Wir sind über die Welt ge­wan­dert und ha­ben alle an­de­ren ver­prü­gelt.«

      Sa­xon nick­te, wäh­rend er in sei­nen Be­trach­tun­gen fort­fuhr; ihre Au­gen leuch­te­ten, sie er­kann­te plötz­lich, wel­che Herr­lich­keit es sein muss­te, einen sol­chen Kna­ben zur Welt zu brin­gen. Ihr Kör­per schmerz­te so, dass sie sich fast ein­bil­de­te, ein un­ge­bo­re­nes We­sen be­käme Le­ben in ihr. Ein neu­es Ge­schlecht, ein gu­tes Ge­schlecht, dach­te sie bei sich. Und sie dach­te an sich sel­ber und an Bil­ly, ge­sun­de Schöß­lin­ge des­sel­ben Ge­schlechts, und doch zur Kin­der­lo­sig­keit ver­dammt, weil die Welt, die die Men­schen ge­schaf­fen, sie in eine Fal­le ge­lockt hat­te, und weil sie ver­flucht wa­ren, in der Schar der Dum­men zu le­ben.

      Dann wand­te sie ihre Auf­merk­sam­keit wie­der dem Kna­ben zu.

      »Mein Va­ter war Sol­dat im Bür­ger­krieg«, er­zähl­te er ihr. »Pfad­fin­der und Spi­on. Die Auf­rüh­rer woll­ten ihn zwei­mal als Spi­on hän­gen. In der Schlacht am Wil­son Creek lief er eine hal­be Mei­le mit sei­nem ver­wun­de­ten Ka­pi­tän auf dem Rücken. Vor dem Krieg war er Büf­fel­jä­ger und Pelz­jä­ger. Er ist fast in je­dem Staat von Ame­ri­ka ge­we­sen. Als er jung war, konn­te er mit je­dem rin­gen. Als ganz jun­ger Bur­sche hat­te er schon das Kom­man­do über alle Flö­ßer von Sus­que­han­na. Sein Va­ter tö­te­te einen Mann in ei­ner Prü­ge­lei. Mit ei­nem Schlag sei­ner blo­ßen Faust, und das mit sech­zig Jah­ren. Und als er vierund­sieb­zig war, be­kam sei­ne Frau Zwil­lin­ge. Er starb, als er ein Feld mit Och­sen pflüg­te, und da war er neun­und­sieb­zig. Er konn­te ge­ra­de noch die Och­sen ab­schir­ren, dann setz­te er sich un­ter einen Baum und starb. Und mein Va­ter ist ge­nau so. Er ist jetzt ziem­lich alt, aber er fürch­tet sich vor gar nichts. Er ist ein rich­ti­ger An­gel­sach­se, wis­sen Sie.«

      Er hielt atem­los inne und sah sie an.

      »Ich hei­ße Sa­xon«, sag­te sie.

      »Mit Vor­na­men?«

      »Es ist mein Vor­na­me.«

      »Na ja!« rief er. »Sie kön­nen froh sein! Wenn ich nur Er­ling hie­ße – Sie wis­sen doch, Er­ling der Tap­fe­re – oder Wolf oder Swen oder Jarl!«

      »Wie heißt du denn?« frag­te sie.

      »Nur John«, räum­te er trau­rig ein. »Aber ich mag nicht, dass man mich John nennt. Alle müs­sen mich Jack nen­nen. Ich habe schon ein Dut­zend Jun­gen ver­prü­gelt, die mich John oder John­nie nann­ten. Wür­de das Sie nicht auch wü­tend ma­chen? – John­nie!«

      Sie wa­ren jetzt ge­gen­über dem Koh­len­bun­ker auf dem lan­gen Kai, und der Jun­ge än­der­te den Kurs und steu­er­te auf San Fran­zis­ko zu. Sie wa­ren ziem­lich weit drau­ßen in der of­fe­nen Bucht. Der West­wind hat­te zu­ge­nom­men, und wei­ße Schaum­wip­fel krön­ten über­all die star­ke Strö­mung. Das Boot flog mun­ter über die Wo­gen da­hin. Wenn der Schaum über den Rand sprüh­te, dass sie nass wur­den, lach­te Sa­xon, und der Jun­ge sah sie bei­fäl­lig an. Sie ka­men an ei­nem Fähr­boot vor­bei, des­sen Pas­sa­gie­re sich auf dem obe­ren Deck an der Re­ling zu­sam­mendräng­ten, um sie zu se­hen. Als die Wel­len vom Kiel­was­ser die klei­ne Jol­le er­reich­ten, schlug sie halb voll Was­ser. Sa­xon hob eine lee­re Dose auf und sah den Jun­gen an.

      »Rich­tig«, sag­te er, »schöp­fen Sie nur.« Und als sie fer­tig war, sag­te er: »Wir kön­nen mit dem nächs­ten Schlag die Zie­gen­in­sel