Was für Muttermal?
MÜLLER
schüttelt sie: Lüg nicht, Nutte!
CHRISTINE
Ich hab kein Muttermal! Au! Lassen Sie los! Sie reißt sich los und flieht. Ich habe kein Muttermal!
STRASSER
Sollte ich mich geirrt?
Christine hört es; hält ruckartig; begreift allmählich.
KARL
zu Strasser: Rindvieh!
Stille.
EMANUEL
faßt sich; zu Christine: Richtig! Aber natürlich! Sie haben kein Muttermal! Freilich!
Stille.
MAX
Muttermal ist ganz anders.
Stille.
STRASSER
verwirrt: Es dreht sich hier nicht um das Muttermal, es dreht sich hier darum, daß nach dem Gebote der Redlichkeit du von mir nicht verlangen – nach all dem was geschah, nicht verlangen, daß ich mein Geld, das ich gar nicht habe, für irgendein Kind –
CHRISTINE
unterbricht ihn; sie steht in einiger Entfernung mit dem Rücken zu den anderen: Es dreht sich hier nicht um Geld.
Stille.
MÜLLER
Haha!
EMANUEL
Pah!
KARL
Quatsch!
STRASSER
Ich hasse Illusionen!
MÜLLER
›Nicht um Geld‹!
MAX
zu Christine: Sondern?
Stille.
CHRISTINE
in leicht singendem Tonfall, voll unterdrückter Erregung: Wollen mich die verehrten Herren ausreden lassen?
Die verehrten Herren setzen sich.
Ich wollte alles, was ich besitze, dem Manne geben, dem ich mein Herz gab, dem Vater des Kindes, alles. Vielleicht dachte ich an frühere Zeiten. Ich wollte helfen, sonst nichts. Ich wollte das Hotel zur schönen Aussicht verbessern, vergrößern und neu möblieren –
STRASSER
scharf: Mit was denn?
CHRISTINE
Ich habe zehntausend Mark.
Die werten Herren schnellen empor.
Stille.
MAX
Ist das wahr?
MÜLLER
Zehntausend –
STRASSER
Betrag! Betrug! In den Briefen stand nichts als Jammer und Not und ins Wasser! ›Zehntausend Mark‹! Erstunken und erlogen!
CHRISTINE
Still! – Not und Jammer stand nicht nur in den Briefen, und ich wäre ins Wasser gegangen, hätte sich nichts geändert.
KARL
Hast das große Los gezogen?
CHRISTINE
Vielleicht.
EMANUEL
Pfui, wie dumm!
MÜLLER
Der typische Roman!
CHRISTINE
Im Herbst wurde ich abgebaut und ich hätte noch gestern nicht einmal das Fahrgeld nach hierher gehabt und wär noch gestern vielleicht gar ins Wasser gegangen, hätte mir nicht der liebe Gott geholfen.
STRASSER
Was verstehst du unter ›lieber Gott‹?
CHRISTINE
Zehntausend Mark.
Stille.
Ich habe dir erzählt, daß ich eine Doppelwaise bin. Mein Vater fiel bei Verdun, und meine Mutter starb in der Inflation. Aber ich hatte eine Tante in St. Gallen, die hinterließ mir zehntausend Mark, zahlbar wenn ich volljährig – Ich bin am 14. März geboren. Also wurde ich gestern einundzwanzig Jahre alt.
Stille.
STRASSER
vor den Kopf geschlagen: Warum, warum hast du mir das nicht gleich anvertraut?
CHRISTINE
Was?
STRASSER
Das mit dem lieben Gott, dem Geburtstag.
CHRISTINE
Wolltest mir gratulieren?
STRASSER
erregt; unterdrückt: Also bitte, bleiben wir nur hübsch bei der Wahrheit!
CHRISTINE
Ich hatte Angst vor der Wahrheit. Vor dem Geburtstag. Vor dem lieben Gott.
STRASSER
Ist das nun dumm oder gemein?
CHRISTINE
Minderwertig!
Stille.
STRASSER
Du! Du wolltest als Bettelkind gefreit werden, du Kitsch!
CHRISTINE
Ja, das wollte ich.
MAX
Rosarot und himmelblau!
CHRISTINE
Jetzt ist es mir, als hätte ich nie daran gedacht, diese schöne Aussicht neu zu möblieren. Jetzt lach ich mich selber aus.
STRASSER
Triumphiere nur! Ein trauriger Ruhm!
EMANUEL
Minderwertig.
CHRISTINE
Entschieden!
Stille.
STRASSER
Die Post ist zuverlässig. Ich habe alle Briefe erhalten.
Stille.
CHRISTINE
Nun muß ich fort. Sie will ab, hält aber nach einigen Schritten. Wann fährt der erste Zug?
MAX
Wohin?
CHRISTINE
Fort.
MAX
Fünf Uhr sieben.
CHRISTINE
Danke. Ab.
Die werten Herren starren ihr nach; betrachten sich gegenseitig verstohlen, weichen sich aus; gehen hin und her; kreuz und quer.
Stille.
MAX
schüttelt den Kopf: Das begreife ich nicht, das begreife ich nicht! Komisch. So ein Zufall!
STRASSER
Komisch?