»Wahrscheinlich nicht halb so entspannend wie deiner«, murrte der Arzt verstimmt.
»Armer schwarzer Kater!« Fee streichelte ihm über die Wange. »Sollte ich jetzt etwa Mitleid haben?«
Sie kreischte auf, als er sie mit kräftigem Griff hochhob.
»Was hast du vor?«
»Hab ich doch vorhin schon gesagt. Ich entführe dich. Und damit du nicht zu viel Theater machst, raube ich dir vorher noch den Verstand. So viel Frechheit verlangt nach einer Strafe.« Er warf seine Frau aufs Bett und kniete sich über sie. Vergessen waren Müdigkeit und Anspannung des vergangenen Tages. Und auch Fee dachte in diesem Moment nicht mehr an Neles Geschichte, die sie Daniel unbedingt hatte erzählen wollen. Im Augenblick gab es nur sie beide, und sie schloss die Augen, um sich von ihrem Raubritter in ein anderes Universum entführen zu lassen.
*
»Für heute haben Sie Ihr Pensum geschafft«, verkündete Danny Norden am Bett seiner Patientin Rebecca Salomon. »Sie sind für keine weitere Untersuchung eingeplant.«
Becky lachte. Seit sie nach Deutschland zurückgekehrt war, hatte sie eine deutliche Wandlung durchgemacht.
Die tiefen Falten auf ihrer Stirn hatten sich geglättet, und sie wirkte insgesamt entspannter. Dieser Eindruck mochte auch an dem Strahlen ihrer grauen Augen liegen, das vorher nicht dagewesen war.
»Kein Wunder!«, reagierte sie mit einem Lächeln auf die Bemerkung ihres Arztes. »Es ist ja auch schon ganz schön spät.«
Nach einem Blick auf die Uhr musste Danny ihr recht geben.
»Wenn man so eingespannt ist, vergeht die Zeit wie im Flug.« Seit sein Vater im Urlaub war, galt diese Tatsache in besonderem Maße.
»Ich kenne das aus dem Waisenhaus«, stimmte Rebecca zu. »Oft war ich rund um die Uhr im Einsatz. Tagsüber hatte ich mit Ämtern zu tun, es gab Formulare auszufüllen, Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen, Dienstpläne zu schreiben und alles Mögliche zu organisieren. Und abends, wenn man dann auf ein bisschen Ruhe hoffte, kamen die Kleinen zum Kuscheln. Wollten ein Buch vorgelesen haben oder brauchten Trost nach einem schlimmen Traum. Es war anstrengend, aber erfüllend. Ohne dass ich es gemerkt habe, sind darüber fünfzehn Jahre vergangen.« Sie lächelte versonnen.
»Ich hoffe doch sehr, dass mein Vater nicht vorhat, fünfzehn Jahre auf See zu bleiben«, lachte Danny, und seine Patientin lachte mit ihm.
»Das kann ich mir vorstellen. Und keine Sorge. Wenn Sie mir verraten haben, was Ihre Kollegen bis jetzt rausgefunden haben, entlasse ich Sie in Ihren wohlverdienten Feierabend. Ich bestehe auch nicht auf einer Gute-Nacht-Geschichte.« Becky kannte sich selbst nicht wieder. So lockere Sprüche wären ihr früher nie über die Lippen gekommen. Irgendwas hatte sich verändert. Dass das nicht zuletzt an Bernd lag, konnte und wollte sie nicht leugnen.
Ihre Frage vertrieb das Lächeln auf Dannys Gesicht.
»Im Augenblick arbeiten wir nach dem Ausschlussprinzip«, musste er zugeben. »Zumindest ist schon mal klar, dass Sie nicht an Multipler Sklerose leiden. Viel mehr wissen wir aber noch nicht.«
»Das ist doch immerhin schon etwas«, versuchte Becky, Zweckoptimismus zu verbreiten.
Dafür war Danny ihr dankbar.
»Sie haben recht. Und eines kann ich Ihnen versprechen: Wir werden nicht eher aufhören, bis wir den Übeltäter gefunden haben.« Mit diesen Worten verabschiedete sich der junge Arzt in seinen wohlverdienten Feierabend.
Doch Becky hatte keine Gelegenheit, sich einsam zu fühlen. Nicht lange, nachdem sich die Tür hinter Danny Norden geschlossen hatte, klopfte es und Bernd kam zu seinem obligatorischen Abendbesuch.
Wie jedes Mal, wenn sie ihn zu Gesicht bekam, wurde das Strahlen in ihren Augen noch tiefer.
»Wie schön, dich zu sehen«, erklärte sie, nachdem sie ihn mit einem Kuss links und rechts auf die Wange begrüßt hatte. Ihr forschender Blick ruhte auf seinem Gesicht. »Du siehst müde aus. Konntest du deinen Klienten nicht davon überzeugen, seine Anzeige zurückzuziehen?«
Bernd zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich.
»Das ist doch nicht zu fassen. Da bist du selbst krank, und trotzdem gilt dein erstes Interesse meiner Arbeit.«
»Falsch«, korrigierte Becky ihn und zwinkerte ihm zu. »Mein erstes Interesse gilt dir. Und nachdem du deine Arbeit liebst wie nichts anderes, interessiere ich mich natürlich auch dafür.«
Einen kurzen, heißen Augenblick lang war Bernd versucht, sie zu korrigieren. Doch noch war die Zeit nicht reif für solche Geständnisse. Zu groß war seine Angst, sie wieder zu vertreiben. Und dass er es kein zweites Mal verkraften würde, sie zu verlieren, war ihm inzwischen mehr als klar geworden.
»Was ist? Warum schaust du mich so an?«, fragte Rebecca, als könnte sie seine Gedanken lesen.
»Ach, nichts.« Schnell suchte Bernd nach einer Ausrede. »Ich habe gerade über Elisa nachgedacht.«
Als sie den Namen ihrer Tochter hörte, verblasste das Strahlen auf Beckys Gesicht.
»Du hast immer noch keine Spur von ihr?«
»Nein. Leider. Und allmählich gehen mir auch die Ideen aus. Ich habe keine Ahnung, wen ich noch fragen könnte.«
»Oh, Bernd.« Becky senkte den Blick. Jahrelang hatte sie sich eingebildet, nicht unter dem Verlust ihrer Tochter zu leiden. Erst seit sie sich ihrer Vergangenheit stellte, wusste sie, woher die Albträume, der schlechte Schlaf rührten. Dass es Hilferufe ihrer Seele waren, die sich nach Elisa sehnte; die die verlorene Tochter wiederfinden und in die Arme schließen, um Verzeihung bitten wollte. Erst seit sie wieder in Deutschland war, wusste sie, dass ein Teil von ihr Elisa niemals vergessen hatte. Und dass Bernd sie nicht wiederfinden konnte, belastete sie mehr als ihre Krankheit. »Was, wenn sie für immer verschwunden bleibt?«
Unwillig schüttelte Bernd den Kopf.
»Daran will ich gar nicht denken. Wir müssen sie einfach wiederfinden.«
»Aber wie?«
»Denk noch mal nach!«, verlangte er von Rebecca. Er sah sie an, als wollte er ihren Kopf mit den Augen durchleuchten. »Hast du irgendwas vergessen? Gibt es nicht doch einen Anhaltspunkt? Informationen über die Eltern, an die du dich vielleicht nicht mehr erinnerst, die du aber bekommen hast? Irgendein Detail, das dir möglicherweise gar nicht wichtig erscheint?«
Darüber hatte auch Rebecca schon nächtelang nachgedacht. Bedauernd schüttelte sie den Kopf.
»Nein, nichts. Es gibt einfach nichts.«
Eine gefühlte Ewigkeit saß Bernd einfach da und sah sie an. Irgendwann nickte er stumm. In seiner Hilflosigkeit griff er nach Beckys Händen und zog sie an seinen Mund, um sie zu küssen.
*
Mit schreckgeweiteten Augen stand Nele vor ihrer Kabinentür und starrte auf ihr Mobiltelefon. Noch immer hallten ihr Lillis Worte im Ohr.
»Wie soll ich das nur wieder Lars beibringen?«, fragte sie sich, als die Kabinentür aufgerissen wurde.
Um ein Haar hätte sie das Mobiltelefon fallen gelassen.
»Da bist du ja endlich!« Lars streckte die gesunde Hand nach ihr aus und packte sie am Arm. »Wo warst du so lange? Die Landgänger sind längst zurück. Nur du nutzt jede Gelegenheit, um dich herumzutreiben.« Er zerrte sie in die Suite, schlug die Tür zu und verriegelte sie von innen. Seine Rückenverletzung schien er vergessen zu haben. Lars bewegte sich, als wäre niemals etwas geschehen.
Nele bemerkte es und schluckte. Sie ahnte, was das bedeutete.
»Fee und ich haben die Zeit vergessen. Es war so schön am Strand.«
»Schöner als bei mir? Ist es das, was du mir sagen willst?« Er fuhr zu ihr herum. Ehe sie begriff, was er vorhatte, holte er aus und schlug zu.
Zuerst