Sebastian 23

Cogito, ergo dumm


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Beitrag, sondern in (fast) allen. Die Artikel dort sind ja mit verlinkten Schlagwörtern versehen. Wenn man nun bei einem Artikel auf den ersten Link im Text klickt, landet man beim nächsten Artikel. Und wenn man dort wieder wahllos auf den ersten Link klickt, geht es weiter. So hüpft man von Artikel zu Artikel – bis wohin? Nun, in 97 Prozent der Fälle landet man am Ende beim Artikel über Philosophie. Kein Wunder, dass man bis heute die Hits der Boygroup der Philosophie kennt.

      Wobei man dazusagen muss, dass bis ins 12. Jahrhundert in Mitteleuropa nur ein einziges Werk Platons bekannt war, der Timaios. Und das ist, wenn ich meine Privatmeinung mal einstreuen darf, nicht sein bestes Buch. Auch von Aristoteles wusste man im Mittelalter wenig, nur zwei logische Schriften waren überliefert und ins Lateinische übersetzt worden, das damals die Sprache der Wissenschaft war. Über Sokrates war so gut wie nichts bekannt.

      Moment mal, die drei größten Philosophen des Abendlandes waren in diesem Abendland fast in Vergessenheit geraten? Aber wie wissen wir dann heute von ihnen? Nun, liebe Leser*innen, gut, dass Sie fragen, ich will es Ihnen verraten: Unter dem abbasidischen Kalif Al-Mansur wurden Mitte des 8. Jahrhunderts erstmals Bücher aus einer fremden Sprache ins Arabische übersetzt, darunter viele altgriechische Bücher von Aristoteles. Seine Nachfolger Kalif al-Mahdi und Kalif Harun al-Raschid folgten seinem Beispiel, bis ein Großteil des Werkes von Aristoteles übersetzt war und, nebenher bemerkt, unter anderem auch Euklids Elemente, ein zentrales Werk der Mathematik. Hunain ibn Ishaq war es dann, der im 9. Jahrhundert Platons Werke ins Arabische übersetzte. Diese Menschen sind der Grund, warum diese tragenden Säulen der westlichen Kultur bis heute erhalten sind. Denn erst ab dem 12. Jahrhundert kamen westliche Denker wie Adelard von Bath und Gerhard von Cremona darauf, all diese Schriften aus dem Arabischen ins Lateinische zu übersetzen und sie so nach Europa »zurückzubringen«. Etwa zur selben Zeit entstanden in Europa die ersten Universitäten, die erste in Bologna im Jahr 1088. An den Universitäten begeisterte man sich insbesondere für Aristoteles, denn er erfand nicht nur Worte wie Ethik und Energie, sondern angeblich auch das Wort Problem. Damit hatte er der Menschheit quasi alle ihre Probleme gebracht, zumindest wusste man vorher nicht, dass man welche hatte. Und wir alle wissen: Menschen lieben Probleme.

      Nicht zuletzt deshalb gab es natürlich sofort Stress mit der Kirche. Aristoteles’ Lehre von der Ewigkeit des Universums widersprach der Idee der Schöpfung durch Gott. Zudem es bei Aristoteles ausführlich um Ursache und Wirkung geht und die Sorge der Kirche war, dass zwischen Ursache und Wirkung kein Platz mehr sei für ein Eingreifen Gottes. Außerdem, wenn alles durch Ursache und Wirkung erklärt werden könne, was würde denn dann nur aus all den Wundern? Und so wurde 1210 die aristotelische Naturphilosophie an der Universität von Paris vom dortigen bischöflichen Konzil verboten. Das Verbot wurde 1231 von Papst Gregor IX., genannt der Wurstfingerpapst, bestätigt. Okay, das mit dem Wurstfingerpapst habe ich mir möglicherweise nur ausgedacht, weil ich gerade beim Schreiben sauer auf den Mann geworden bin. Geholfen haben seine finsteren Umtriebe dann zum Glück nicht mehr, nur 25 Jahre später waren all die Bücher wieder in der Bibliothek der Universität zu finden. Auf einigen steinigen Umwegen haben Aristoteles, Platon und Sokrates also ihren Weg nach Europa und bis ins heutige Deutschland gefunden.

      Man kann allein anhand dieses einen Beispiels leicht sehen, dass die sogenannte »deutsche Leitkultur« ein Widerspruch in sich ist. Denn ihre zentralen Inhalte basieren zu großen Teilen auf kulturellem Einfluss von außen, der sich hier gegen sehr deutlichen anfänglichen Widerstand der Einheimischen durchgesetzt hat. Damals war es in erster Linie die Kirche, heute sind es selbst ernannte Patrioten, die verhindern wollen, dass sich die menschliche Kultur wie eh und je über alle Landesgrenzen hinaus in bunter und freier Art mischt und gegenseitig bereichert. Selbst wenn es stimmen würde, dass wir ohne Aristoteles keine Probleme hätten.

      Natürlich kriegen es aber seit jeher weder Kirche noch Patrioten hin, zu verhindern, dass die Menschen sich kreuz und quer über den Globus bewegen und sich im Zweifelsfall nur eingeschränkt für Grenzen interessieren. Das gilt auch und insbesondere für die Geschichte der »Entdeckung« der Welt. Kennen Sie zum Beispiel Gunnbjörn Úlfsson und Giovanni Caboto?

      Eine sehr beliebte Dummheit ist die Annahme, Kolumbus habe Amerika entdeckt. Daran ist so ziemlich alles falsch. Natürlich war Kolumbus nicht der erste Mensch auf dem amerikanischen Kontinent. Er war nicht mal der erste Europäer. Tatsächlich gab es vorher Menschen, die Amerika entdeckt haben; das geschah aber vor etwa 12 000 bis 15 000 Jahren, genauer weiß man es nicht, weil sie es damals nicht direkt auf Facebook gepostet haben. Der erste Europäer, der erwiesenermaßen um 875 auf Grönland landete und damit geografisch betrachtet auf amerikanischem Boden, hieß Gunnbjörn Úlfsson. Es ist ungewiss, ob Úlfsson auch auf dem amerikanischen Festland landete. Der erste Europäer, von dem das als gesichert gilt, war Leif Eriksson um das Jahr 1000. Das geschah also entspannte 500 Jahre vor Giovanni Caboto, der als erster Europäer der Neuzeit am 24. Juni 1497 das amerikanische Festland betrat. Richtig gelesen, es war Giovanni Caboto, nicht Kolumbus.

      Es ist nämlich so, dass Kolumbus überhaupt nie auf dem amerikanischen Festland ankam, seine »Entdeckung« war erst mal am 12. Oktober 1492 die Inselgruppe der Bahamas. Dass da bereits Menschen waren, störte ihn kaum; er ging auch nicht davon aus, einen neuen Kontinent entdeckt zu haben, sondern war schlicht und ergreifend überzeugt, in Indien gelandet zu sein. Daher nannte er die Leute, die ihn und seine Mannschaft am Strand empfingen, auch Indianer. Dass er überhaupt erst losgefahren war, um in westlicher Richtung einen Weg nach Indien zu suchen, und glaubte, es an jenem Tag erreicht zu haben, lag daran, dass er sich grob verschätzt hatte, was den vermeintlichen Erdumfang anging. Um 7600 Meilen, um genau zu sein.

      Amerika ist übrigens nicht nach Kolumbus benannt, wie den Fuchsigeren unter den Leser*innen schon aufgefallen sein wird. Das liegt eben daran, dass Kolumbus auch bei seinen späteren Expeditionen nie geblickt hat, dass er einen »neuen« Kontinent gefunden hatte. Bis zu seinem Tod stritt er diesbezügliche Vermutungen vehement ab. Das galt übrigens auch für Giovanni Caboto, der bei seiner zweiten Mission Richtung Westen extra einen Brief an den »König von China« mitgenommen hatte. Falls er jedoch diesen Brief dem Häuptling der Apachen überreicht hat, dürfte das allseits für milde Verwunderung gesorgt haben.

      So ging der Ruhm der Benennung des Kontinents an den ansonsten etwas weniger berühmten Seefahrer und Entdecker Amerigo Vespucci. Denn dieser hatte eben die richtige Vermutung, dass es sich nicht um Asien handelte, sondern einen gänzlich anderen Kontinent. Wie hat er das geschafft? Nun, ihm war aufgefallen, dass Flora und Fauna des Landes ziemlich eigentümlich waren und so gar nicht mit dem übereinstimmten, was man über Indien wusste. Vielleicht hat ihm auch der Häuptling der Apachen heimlich verraten, dass er doch nicht der König von China ist. Bewiesen wurde die These, es handele sich bei Amerika um einen eigenen Kontinent, allerdings auch erst nach Vespuccis Tod durch den spanischen Konquistador Vasco Núñez de Balboa, der von der Ostküste Panamas aus den Pazifischen Ozean erreichte. Es ging also Richtung Westen weiter – Kolumbus hatte nicht mal den halben Weg zurückgelegt, den er sich eigentlich vorgenommen hatte.

      Nun ist es allerdings so, dass mit den Entdeckungsreisen des Kolumbus die Erforschung und Besiedlung Amerikas durch die Europäer ihren Anfang nahm, leider einhergehend mit dem Tod eines Großteils der Ureinwohner, weswegen es sich natürlich trotzdem um einen Wendepunkt der Weltgeschichte handelt. Auch oder gerade weil es sich dabei um eine fortgeschrittene und umfassende Dummheit handelte. Ich will nicht bestreiten, dass Kolumbus von einem gewissen Entdeckergeist angetrieben war, immerhin nahm er hohe Risiken auf sich und wagte etwas für ihn und seine Zeitgenossen völlig Neues. Ähnliches wird auch für den berühmten Admiral Zheng He gegolten haben, der mit seinen Expeditionen zwischen 1405 und 1433 die Einflusssphäre des chinesischen Kaiserreichs stark erweiterte. Er war mit bis zu hundert Schiffen und fast 30 000 Mann Besatzung unterwegs und kam unter anderem bis nach Arabien und Ostafrika. Nach seinem Tod jedoch beschloss der Thron, solche Expeditionen einzustellen. Sie erbrachten finanzielle Defizite, und die von Zheng He herbeigebrachte Giraffe war gewiss interessant, aber sie legte leider keine Eier aus Gold, und man wollte seine Ressourcen nicht länger in der Ferne verpulvern.

      Zur selben Zeit, im Jahr 1434, also nur wenige Jahrzehnte vor Kolumbus, wagte es der portugiesische Seefahrer Gil Eanes am südmarokkanischen Kap Bojador vorbei zu segeln. Das war eine im europäischen Mittelalter eigentlich unvorstellbare Leistung, denn man vermutete,