Sebastian 23

Cogito, ergo dumm


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einen riesigen Fortschritt dar und prägte die Medizin über die unvorstellbar lange Zeit von mehr als eineinhalb Jahrtausenden. Zumindest in Westeuropa allerdings mit einer kleinen Unterbrechung namens Mittelalter, in der seine Schriften ein Schattendasein in den Bibliotheken einiger weniger Klöster und Domschulen fristeten.

      Bevor wir jedoch darauf zu sprechen kommen, möchte ich noch den Arzt Alexandros von Tralleis erwähnen, der im 6. Jahrhundert lebte, also genau im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Dieser hatte nämlich herausgefunden, dass Bilsenkraut nur wirksam ist, wenn man es zwischen linkem Daumen und Zeigefinger hält und der Mond im Zeichen der Fische oder des Wassermanns steht. Muss man wissen. Doch es war gewiss nicht Alexandros von Tralleis’ Schuld, dass es die formelle Medizin im Mittelalter schwer hatte. Einen großen Teil der Schuld trägt hingegen die Vorherrschaft der Religion, auch wenn man dieser Behauptung entgegenhalten kann, dass ohne Mönche das medizinische Wissen der Antike im Westen ganz verloren gegangen wäre. Und Hospitäler, so rückwärtsgewandt ihre Methoden gewesen sein mögen, entstanden auch aus der Motivation christlicher Nächstenliebe.

      Doch es gab eben auch Männer wie Bernhard von Clairvaux, der sagte, Ärzte aufzusuchen und Arzneien einzunehmen sei »wider die Religion und unlauter«. Ein gängiger Spottspruch des Mittelalters lautete: ubi tre physici, dui athei. Ja, man spottete in Latein, das war damals hip. Der Satz heißt übrigens übersetzt: »Unter drei Ärzten sind zwei Atheisten.« Die Haltung der Kirche war deutlich: Krankheiten und Seuchen sind Strafen des gerechten Gottes, und der Körper ist der Seele unterzuordnen. Daher hatte sich das Heilen kirchlichen Vorschriften unterzuordnen, wie etwa dem Laterankonzil von 1215, in dessen Folge Ärzte offiziell eine kirchliche Genehmigung zur Behandlung benötigten.

      Im Hochmittelalter jedoch begann auch ein Umdenken in der Medizin, ganz vergleichbar mit Entwicklungen, die wir in anderen Feldern noch sehen werden. Einige Gelehrte, wie Alphanus, gingen auf Reisen nach Konstantinopel und brachten das dort erhaltene Wissen der griechischen Antike mit zurück in den Westen. Und wie dringend benötigt diese Wende war, kann man vielleicht am besten daran ablesen, wie Außenstehende den Stand der Medizin im Abendland wahrgenommen haben. So forderte ein westlicher Statthalter in Muneitra im Libanongebirge eines Tages beim dortigen Emir von Cheyzar einen Arzt für einen Notfall an. Der Emir kam der Bitte nach, jedoch war der Arzt schon nach wenigen Tagen wieder da. Darüber verwundert ließ sich der Emir schildern, was geschehen war. Der Arzt hatte einen Ritter mit einem Abszess am Bein behandelt, indem er ihm einen Salbenverband auflegte. Bald schon schwoll das entzündete Bein ab, und der Arzt war optimistisch. Zumindest bis ein westlicher Mediziner dazukam und behauptete, der arabische Arzt verstünde nichts vom Heilen. Vor den entsetzten Augen des arabischen Arztes ordnete der Franke eine Amputation des Beines durch einen anderen Ritter mit einer Axt an. Der Patient starb noch während der laienhaften Durchführung, und der völlig fassungslose arabische Arzt wurde wieder nach Hause geschickt.

      Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Epoche, die wir als Mittelalter bezeichnen, war nicht überall auf der Welt gleichmäßig finster. Aber in Europa war es in vielen Bereichen so zappenduster, dass man die eigene Barbarei vor lauter Idiotie nicht sehen konnte. Wobei natürlich nicht alles barbarisch anmutet, manches ist aus heutiger Sicht einfach nur skurril. Im Mittelalter glaubte man zum Beispiel, dass man die Pest mit Hühnern behandeln könne. Dazu wurden die Hinterfedern der Hühner gerupft und das Huhn sitzend auf dem Kopf getragen. So sollte das Gift aus dem Körper gezogen werden. Eventuell gab es einfach auch sonst sehr wenig zu lachen zur Zeit des Schwarzen Todes.

      Woher kam diese Methode, die tatsächlich einige Jahrhunderte populär war? Nun, ihr Ursprung könnte bei Avicenna liegen, einem persischen Gelehrten und Arzt, der auch die westliche Medizin nachhaltig beeinflusste. Nur, falls Sie gerade geglaubt haben, ich wollte hier den Eindruck erzeugen, im Westen seien alle dumm gewesen und im Orient hätten alle vor lauter Erleuchtung einen Schwarm Motten als Stalker gehabt. Nein, Avicenna mag ein Universalgenie gewesen sein, aber die Sache mit dem nackten Hühnerhintern auf dem Kopf, die war wirklich albern.

      Aber nicht, dass Sie jetzt glauben, damit sei irgendein Tiefpunkt erreicht gewesen und von hieran ginge es bergauf. Selbst mit dem Ende des Mittelalters wurde es kein bisschen besser. Eher im Gegenteil. Ein Beispiel gefällig? Der britische König Charles II. fühlte sich am Morgen des 2. Februar 1685 nicht wohl und war auch etwas blass um die Nase. Gemäß dem medizinischen Standard ließ man erst mal 450 Milliliter seines Bluts ab. Als das nicht direkt half, verschrieben ihm die besten Ärzte des Landes im Laufe der nächsten vier Tage sechzig weitere Behandlungen, unter anderem Steine aus einem Ziegenmagen und Schnaps aus einem Menschenschädel. Man rasierte seinen Schädel und legte heiße Eisen auf, um schlechte Energie aus seinem Gehirn zu ziehen. Andere Teile seines Körpers verbrannte man mit heißen Bechern. Man verabreichte ihm Brechmittel. Und natürlich mehrere weitere Aderlässe. Nach vier Tagen starb der König, und die Ärzte waren überrascht, dass ihre besten Methoden kein besseres Ergebnis hervorgebracht hatten. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal hervorheben, dass der ursprüngliche Grund für diese Behandlung ein morgendliches Unwohlsein war. Vielleicht war König Charles ja einfach schwanger. Wir werden es nicht mehr herausfinden können.

      Wenn Ihnen das schon zu eklig war, dann überspringen Sie einfach den folgenden Absatz. Ehrlich, vertrauen Sie mir. Sie werden von einigen wirklich unschönen Details verschont. Allerdings verpassen Sie dann auch einen wirklich unglaublichen Vorgang, der zwei der bekanntesten Komponisten der klassischen Musik verbindet.

      John Taylor galt als der Starchirurg seiner Zeit. Am 30. März 1750 behandelte er Johann Sebastian Bach wegen dessen Kurzsichtigkeit. Dazu – und jetzt wird’s etwas eklig – macht er einen Einschnitt in dessen Augen und injizierte eine Mischung aus Taubenblut, Salz und Blei. Nach einigen Tagen wurde der Eingriff wiederholt. Bach verlor in der Folge sein Augenlicht und litt an extremen Schmerzen, vier Monate später starb er. Das hielt Taylor nicht davon ab, acht Jahre später auch Georg Friedrich Händel mit derselben Methode zu behandeln und blind zu machen. Ja, Sie haben richtig gelesen, derselbe Arzt hat mit derselben Methode erst Bach und dann Händel blind gemacht.

      Doch natürlich gab es in der Medizingeschichte nicht nur Idioten, das muss klar gesagt werden. Im Gegenteil, es ist unglaublich, welch große Geister die Medizin zu ihren heutigen Möglichkeiten gebracht haben. Und man kann nur mutmaßen, dass wir noch viel weiter wären, wenn sie dabei nicht von Narren umgeben gewesen wären. Nehmen wir Ignaz Semmelweis. Er war Mitte des 19. Jahrhunderts Arzt in Wien, und ihm fiel im Krankenhaus ein deutlicher Unterschied zwischen zwei Gebärstationen auf: In der einen kam es zu deutlich weniger Todesfällen und Komplikationen bei und nach Geburten. Er bemerkte, dass in der anderen Station die Ärzte oft mit ungewaschenen Händen zu Werke gingen. Also stellte er die Theorie auf, dass es vielleicht gut wäre, wenn Ärzte sich vor der Arbeit gründlich die Hände reinigen würden. Klingt einleuchtend, oder?

      Semmelweis wurde jedoch für diese Idee nicht nur ausgelacht, sondern sein Hang zur Reinlichkeit führte schließlich dazu, dass er entlassen und kurz darauf, am 30. Juli 1865, unter Vorwänden in eine Irrenanstalt gelockt und dort eingesperrt wurde. Er starb zwei Wochen später. Heute wissen wir, welch wichtigen Beitrag seine Erkenntnisse darstellten und können nur mutmaßen, wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn man direkt auf ihn gehört hätte. Und wir reden hier nicht über das Mittelalter, das ist gerade mal 150 Jahre her. Aber gut, da ist auch wieder Captain Hindsight im Spiel, diesmal begleitet von dem Umstand, dass es uns heute regelrecht bizarr erscheint, dass sich nicht mal die Ärzte vor der Arbeit die Hände gewaschen haben. Gott behüte, was in den damaligen Fast-Food-Restaurants los gewesen sein muss.

      Noch etwas später, im Jahr 1897, reichte ein junger Mediziner namens Ernest Duchesne eine Doktorarbeit ein, die auf einer Beobachtung aus einem Pferdestall beruhte. Genauer gesagt hatte Duchesne erstaunt festgestellt, dass einige arabische Stallknechte die Sattel der Pferde in einem dunklen feuchten Raum aufbewahrten, damit sich an ihnen Schimmelpilz bilden konnte. Duchesne fragte natürlich nach, warum sie das täten, und die Stallknechte erklärten ihm, dass damit die wund gescheuerten Rücken der Pferde schneller heilten.

      Was die Stallknechte durch Zufall entdeckt hatten, prüfte Duchesne im Labor an erkrankten Meerschweinchen. Nach Verabreichung einer Lösung aus den Schimmelpilzen wurden sie alle gesund: Duchesne hatte das Antibiotikum entdeckt. Er fasste seine Forschungsergebnisse zusammen