Franjo Grotenhermen

Cannabis und Cannabinoide


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       Deutsche Jugendliche liegen beim Cannabiskonsum im europäischen Vergleich im mittleren Bereich.

      Während sich die meisten Repräsentativbefragungen zum Drogenkonsum auf Jugendliche bzw. junge Erwachsene konzentrieren, existiert eine regelmäßig durchgeführte bundesweite Erhebung unter Erwachsenen, die seit einiger Zeit unter dem Namen „Epidemiologischer Suchtsurvey“ (ESA) firmiert (Gomes de Matos et al. 2016). Der Namensgebung wird die Erhebung nur teilweise gerecht, da, wie in Abschnitt 1 dargelegt, gerade die Anzahl intensiv bzw. abhängig Konsumierender (auf die der Begriff „Sucht“ hindeutet) mit Repräsentativbefragungen nur unzureichend abgeschätzt werden kann. Im Hinblick auf die legalen Drogen liefert der ESA in dieser Hinsicht sicherlich relativ gute Einschätzungen „klinisch relevanten Konsums“ (ebd. S. 277). Für Cannabis ist dies indes in Zweifel zu ziehen, nicht nur, weil generell eine Unterschätzung des Konsums wahrscheinlich ist (siehe 1), sondern auch, weil die hier verwendete „Severity of Dependence Scale“ (SDS) zur Messung von „problematischem“ bzw. abhängigen Cannabiskonsum allenfalls bedingt geeignet zu sein scheint (Thanki et al. 2013; van der Pol et al. 2013).

      Laut der Erhebung aus dem Jahr 2015 (Piontek et al. 2016a) haben 27,2% der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland mindestens einmal im Leben Cannabis konsumiert – das entspricht in dieser Altersgruppe rund 13,9 Millionen Menschen. Die 30-Tages-Prävalenz lag bei 3,1% bzw. 1,6 Mio. aktuell Konsumierenden. Was „klinisch relevanten“ Cannabiskonsum laut SDS (s.o.) betrifft, so kommt die Studie auf 1,2% bzw. 612.000 Personen (Gomes de Matos et al. 2016). Ähnlich wie in den o.g. Studien zum Cannabiskonsum unter jungen Menschen geben im ESA mehr Männer (31,8%) als Frauen (22,6%) eine Cannabiserfahrung an. Größer wird dieser Geschlechterunterschied bei Betrachtung der 30-Tages-Prävalenz (4% vs. 2,3%), wobei diese Differenz bemerkenswerter Weise bei „klinisch relevantem“ Cannabiskonsum mit 1,4% vs. 1% wiederum geringer ausfällt (Piontek et al. 2016a). Was die Altersgruppen betrifft, so findet sich die höchste Lebenszeitprävalenz in der Gruppe der 25- bis 29-Jährigen (43,1%), während aktueller Konsum jeweils unter den 18–20-Jährigen am stärksten verbreitet ist (12 Monate: 20,5%, 30 Tage: 10,4%). Im höheren Alter fallen insbesondere die Anteile für aktuellen Konsum stark ab. So beträgt die 30-Tages-Prävalenz z.B. bei 21–24-Jährigen 8,7%, bei 30–39-Jährigen 3,4% und bei 60–64-Jährigen 0,4%.

      Betrachtet man die Entwicklung der Konsumkennzahlen, so hat sich die Lebenszeitprävalenz bei 18–59-Jährigen seit 1990 mehr als verdoppelt. Auch bei der 30-Tages-Prävalenz wird 2015 ein neuer Höchststand seit 1995 erreicht, allerdings nach zuvor eher geringen Schwankungen (vgl. Abb. 8). Etwas zurückgegangen ist hingegen der erst seit 2006 erhobene „klinisch relevante“ Konsum nach SDS 2006: 1,5%, 2015: 1,2%; Piontek et al. 2016b). Die neueste Erhebung des ESA (Seitz et al. 2019) zeigt im Wesentlichen eine Fortsetzung der beschriebenen Tendenzen.

      Abb. 8 Entwicklung des Cannabiskonsums bei 18–59-Jährigen in Deutschland entsprechend dem „Epidemiologischen Suchtsurvey“ (Daten aus Piontek et al. 2016b) (in %)

      Zur Bewertung dieser Daten sei zunächst das komplexe Studiendesign des ESA angeführt: 40,5% der zufällig ausgewählten zu Befragenden werden postalisch angeschrieben, die übrigen über Telefon kontaktiert; alle Befragten haben die Möglichkeit, die Befragung entweder telefonisch, schriftlich oder online auszufüllen. Wie bei allen Repräsentativerhebungen wurden die Daten entsprechend der tatsächlichen Verteilung gewichtet, und diejenigen, die nicht antworteten, wurden um die Ausfüllung eines Kurzfragebogens gebeten. Angesichts dessen, dass die Ausschöpfungsquote dennoch bei weniger als der Hälfte (46,5%) liegt und es sich beim Cannabiskonsum um ein formell und z.T. auch informell abweichendes Verhalten handelt, ist indes von einer Unterschätzung der erhobenen Zahlen auszugehen, deren Ausmaß nicht näher bestimmt werden kann. Insofern sind die o.g. (Prozent- und absoluten) Zahlen zu Konsumerfahrenen und aktuell Konsumierenden vermutlich als Mindestwerte zu betrachten. Bemerkenswert ist der Vergleich zwischen schriftlicher, telefonischer und Online-Befragung (die drei Teilstichproben sind mit jeweils rund 3.000 Befragten ungefähr gleich groß): die schriftlich Befragten weisen mit 31,5% (Lebenszeit) und 7,5% (12 Monate) die höchsten Cannabis-Konsumraten auf, die telefonisch Befragten mit 22,4% bzw. 4,8% die niedrigsten (online: 27,8% bzw. 6%; Piontek et al. 2016c). Damit bestätigt sich offenbar die in 1.2 bzw. 1.3.2 dargelegte Einschätzung, dass telefonische Erhebungen die stärkste Unterschätzung der tatsächlichen Verbreitung von Cannabis mit sich bringen.

       Daten des „Epidemiologischen Suchtsurvey“ im europäischen Vergleich

      Im Unterschied zur BZgA-Studie (s. Kap. II.1.3.2) ist der ESA gut mit anderen Repräsentativbefragungen aus anderen europäischen Ländern vergleichbar. Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) nimmt auf dieser Basis regelmäßig Vergleiche vor. Demnach liegt Deutschland aktuell (Stand: 2015) bei der Lebenszeitprävalenz unter 15–64-Jährigen mit 27,2% knapp über dem europäischen Durchschnitt (26,9%). Die höchsten Werte finden sich für Frankreich (40,9%) und Dänemark (35,6%), die niedrigsten für Malta (4,3%), Rumänien (4,6%) und Ungarn (7,4%). Die 12-Monats-Prävalenz unter jungen Erwachsenen (Deutschland: 18–34 Jahre, übrige Länder: 15–34) liegt in Deutschland (13,3%) knapp unter dem europäischen Schnitt (13,9%). Auch hier liegt Frankreich mit 22,1% auf Rang 1, gefolgt von Italien (19%), Tschechien (18,8%), Dänemark (17,6%) und Spanien (17,1%); hinten rangieren Rumänien (3,3%), Ungarn (3,5%) und Zypern (4,3%) (EMCDDA 2017).

       Auch unter deutschen Erwachsenen zeigt sich im europäischen Vergleich eine durchschnittliche Verbreitung von Cannabis.

       1.4 Fazit und Diskussion

      Generell sollten Befragungsdaten (und erst recht Strafverfolgungsdaten) zur Verbreitung von Cannabis stets kritisch hinterfragt werden: sie spiegeln immer nur bedingt die soziale Realität wider und sind anfällig für zum Teil massive Verzerrungen. Klassengestützte Schülerbefragungen erzielen dabei schon allein aufgrund der hohen Ausschöpfungsquoten die besten Ergebnisse (sind aber natürlich nur bei Schulpflichtigen möglich), während telefonische Erhebungen die tatsächliche Verbreitung vermutlich am stärksten unterschätzen. Hier spielt insbesondere die in der empirischen Sozialforschung häufig diskutierte soziale Erwünschtheit (Paulhus 2002) eine entscheidende Rolle: Formell abweichendes Verhalten wird am ehesten in einem anonym selbst auszufüllenden Fragebogen zugegeben. Eine weitere Überlegung im Kontext sozialer Erwünschtheit betrifft die öffentliche Meinung zum Cannabiskonsum: Möglicherweise hängt die verstärkte öffentliche Diskussion um Legalisierung in den letzten Jahren tatsächlich mit steigenden Prävalenzraten zusammen – aber nicht in der Form, dass sich junge Menschen dadurch stärker motiviert fühlen, Cannabis zu konsumieren, sondern dass sie eigenen Konsum in einem „cannabisfreundlicheren“ Klima eher zugeben.

      Unter Einbezug aller Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland kann man davon ausgehen, dass mindestens 15 Millionen Personen Erfahrungen mit dem Cannabiskonsum haben. Mindestens drei Millionen haben in den zurückliegenden 12 Monaten Cannabis konsumiert und mindestens anderthalb Millionen in den letzten 30 Tagen; sie können somit als aktuell Konsumierende gelten. Um wieviel die tatsächlichen Werte diese Mindestwerte übersteigen, kann mit den verfügbaren Daten nicht abgeschätzt werden. In jedem Fall kann von mehreren Millionen mehr oder weniger regelmäßig Konsumierenden ausgegangen werden.

      Der Schwerpunkt aktuellen Cannabiskonsums liegt bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 16 und 21 Jahren; ab diesem Alter geht die Kurve relativ steil nach unten, obgleich es auch in höheren