Rohstoffe übersehen
Als in den 80er-Jahren nachwachsende Rohstoffe wie Flachs und Raps als Option für die europäische Agrarwirtschaft und die verarbeitende Industrie neu entdeckt wurden, wurde der Hanf schlichtweg übersehen. Obwohl es schon seit mehreren Jahrzehnten Faserhanfsorten gab, die aufgrund ihrer sehr geringen Mengen des Wirkstoffes THC nicht als Droge missbraucht werden können, wurde Hanf in vielen Ländern unabhängig von seinem THC-Gehalt von der Agrarforschung und -wirtschaft links liegen gelassen und oftmals sogar der Anbau verboten. Lediglich in Frankreich – als einzigem Land in Westeuropa – sowie in Osteuropa wurden die Hanfindustrien weiterbetrieben. Während in Osteuropa bis zum Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Paktes die Produktion von groben technischen Textilien wie Planen und Uniformen für den russischen Markt dominierte, wurde der Hanf in Westeuropa auf kleinen Anbauflächen zum Lieferanten hochwertiger Spezialzellstoffe vor allem für die Zigarettenpapierindustrie.
1.7 Mittel- und Osteuropa setzen Hanfanbau fort
Im Gegensatz zu den meisten westeuropäischen Ländern war der Hanfanbau in Mittel- und Osteuropa nie eingestellt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war hinsichtlich der Anbaufläche die Sowjetunion mit 140.000 Hektar das führende Hanfanbauland. Diese Fläche verringerte sich bis 1990 auf 40.000 Hektar. Auch Rumänien hatte bis in die 80er-Jahre einen bedeutenden Hanfanbau (1989: 46.000 ha) und eine entwickelte Hanfindustrie, vom Faseraufschluss bis hin zu speziellen Spinner- und Webereien. Bedeutend war der Hanfanbau außerdem in Polen, Ungarn und im ehemaligen Gebiet Jugoslawiens. Im wenig bewaldeten Ungarn wurden die als Nebenprodukt des Faseraufschlusses anfallenden Schäben als Holzersatz verwendet und zwar sowohl als Brennstoff als auch in der Möbelindustrie, insbesondere für Leichtbau-Spanplatten.
Mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Marktes 1991 gingen die Hanfanbauflächen in den mittel- und osteuropäischen Ländern, die große Teile ihres Hanfes in Form von technischen Textilien in die Sowjetunion exportieren, schlagartig zurück. Die Anbauflächen in Ungarn und Rumänien sanken auf weniger als 1.000 ha.
Wie es der Zufall oder das Glück wollten, begann die weltweite Wiederentdeckung des Hanfes noch bevor die hanfindustriellen Strukturen dieser Länder endgültig zerbrochen waren. Das neue Interesse aus den USA und Westeuropa an Hanfgeweben insbesondere für den Bekleidungstextilbereich konnte wichtige Verarbeitungsstrukturen retten. Rumänien war nach China der wichtigste Lieferant für hochwertige Hanfgewebe. Heute werden in Rumänien Hanffasern für Dämmstoffe und Biokomposite produziert, wie sie vor allem im automobilen Bereich eingesetzt werden.
1.8 Die weltweite Wiedereindeckung des Nutzhanfes
1.8.1 Entwicklungen in Europa
In der Europäischen Union hat der Hanfanbau in den 90er-Jahren eine gewisse Renaissance erfahren. Einer der Auslöser war die „Hanfbibel“ von Jack Herer „Hemp & Marijuana Conspiracy: The Emperor Wears No Clothes“, die in den 80er-Jahren in den USA erschienen war und Hanf als „universellen“ nachwachsenden Rohstoff mit unglaublichen Eigenschaften pries, der nur aufgrund der Marihuana-Prohibition übersehen worden war. Das Buch wurde in den 90er-Jahren in viele Sprachen übersetzt. So erschien es z.B. 1993 in Deutschland unter dem Titel „Die Wiederentdeckung der Nutzpflanze Hanf – Cannabis – Marihuana“; die deutsche Ausgabe wurde um einen europäischen und einen wissenschaftlichen Teil ergänzt und löste in Deutschland eine gesellschaftliche und politische Bewegung aus, die schließlich die Anbauverbote für Nutzhanf mit einem THC-Gehalt unter 0,3% (im oberen Drittel der Pflanze) beendete.
In England und den Niederlanden spielte bei der Wiederentdeckung eher eine Rolle, dass es für Hanfanbau und Faserproduktion (wie auch für Flachs) erhebliche europäische Beihilfen gab, die praktisch nur von französischen Landwirten abgegriffen wurden.
Nachdem Spanien bereits 1986 wieder den Hanfanbau für die Spezialzellstoffgewinnung aufgenommen hatte, folgten 1993 England, 1994 die Niederlande, 1995 Österreich, 1996 Deutschland, anschließend Finnland, Italien, Portugal und Dänemark. Heute ist der Anbau von Nutzhanf in ganz Europa erlaubt und wird auch in fast allen Ländern praktiziert.
Nach einem kurzen Hype in den 90er-Jahren stiegen die Anbauflächen auf 20.000 ha und fielen dann im Jahr 2011 wieder auf etwa 8.000 ha. Dann aber ging es erst richtig los. Nach 26.000 ha im Jahr 2015 und 33.000 ha im Jahr 2016 sind die Anbauflächen im Jahr 2017 auf etwa 43.000 ha angestiegen. Die wachsenden Flächen werden vor allem von der Nachfrage im Lebensmittelbereich getrieben. Die gesunden Hanfsamen sind im Mainstream angekommen und sind heute in fast allen europäischen Supermärkten pur, im Müsli, in Schokolade und vielen anderen Produkten zu finden. Hanfsamen können wie Soja zu Drinks und Joghurts verarbeitet werden. Beim Ölpressen bleibt ein proteinhaltiger Presskuchen übrig, aus dem Proteine für Sportler gewonnen werden. Ein Ende der steigenden Nachfrage ist nicht in Sicht (s. Abb. 1).
Weiterer Aufschwung kam mit der Markteinführung des nicht-psychotropen Cannabinoids Cannabidiol (CBD), das in geringen Dosierungen milde beruhigende und fokussierende Wirkungen hat, in höheren auch medizinische. Es wird aus den Blättern und Blüten des Nutzhanfes gewonnen. Auch hier ist die Nachfrage groß, kann jedoch infolge eines Flickenteppichs nationaler Regelungen nicht ausreichend gedeckt werden. Während in der Schweiz Discounter erfolgreich CBD-Zigaretten verkaufen, ist konzentriertes CBD in anderen EU-Ländern ein verschreibungspflichtiges Medikament.
Hanffasern werden in großen Mengen zum Leichtbau in der Automobilindustrie (z.B. Türinnenverkleidungen) eingesetzt, in Dämmmaterialien und für dünne, reißfeste Papiere (Zigaretten und Bibelpapiere). Die Schäben, der verholzte Teil des Stängels, werden als Baumaterial und Tierstreu eingesetzt.
Die weltweit wachsende Hanfindustrie trifft sich jedes Jahr in Köln zur „International Conference of the European Industrial Hemp Association“ (www.eiha-conference.org). Im Jahr 2018 kamen 340 Hanfexperten aus 41 Ländern zu Konferenz, Ausstellung und vor allem Networking. Die „European Industrial Hemp Association“ (www.eiha.org) ist der europäische Industriehanfverband mit Mitgliedern aus allen Bereichen der industriellen Hanfnutzung.
1.8.2 Entwicklungen außerhalb Europas
Aber nicht nur in Europa erfreut sich Nutzhanf wieder erheblicher Nachfrage. In Kanada entstand noch vor Europa eine dynamische Hanflebensmittelindustrie mit stetigem Wachstum. Im Jahr 2016 wurden in Kanada 34.000 ha Hanf angebaut und im Jahr 2017 sogar mit 56.000 ha einer neuer Rekord erzielt. Im Jahr 2018 begann der Anbau von Nutzhanf in den USA, wo in den nächsten zehn Jahren zusätzliche 50.000 ha erwartet werden.
Und auch in China, dem Mutterland des Nutzhanfes, wird Hanf vor allem für die Textilindustrie wieder eingeführt, um die Baumwollproduktion zu entlasten und später vielleicht sogar zu ersetzen. Im Nordosten von China gibt es große Programme, enzymatisch aufgeschlossene Hanffasern in die Textilindustrie einzuführen. Auch die chinesische Automobilindustrie nutzt Hanffasern im Leichtbau. Insgesamt ist die Anbaufläche von 40.000 ha (2016) auf 47.000 ha (2017) angestiegen.
Nachdem Hanf nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der weltweiten Cannabisprohibition als Kulturpflanze fast vollkommen verschwunden war, wurden im Jahr 2018 in Kanada, China und der Europäischen Union insgesamt wieder etwa 150.000 ha angebaut – schon in wenigen Jahrzehnten kann die Millionengrenze erreicht und Hanf wieder zu einer wichtigen Kulturpflanze werden.
Abb. 1 Hanfanbaufläche in der EU von 1993 bis 2017
Literatur
Abel EL (1980) Marihuana, the first twelve thousand years, Plenum Press, New York
Clarke