zu den Werken von Dioskurides oder Galen werden neu nicht nur die Samen, sondern auch das Kraut medizinisch verwendet, dadurch bedingt wird bereits damals darauf hingewiesen, dass mit dieser Pflanze auch Missbrauch betrieben werden könne (Moller 1951; De Courtive 1848).
Im 13. Jahrhundert beginnt mit dem politischen Ende des arabisch-islamischen Reiches auch der Niedergang der arabisch-orientalischen Medizin, die später das wesentliche Fundament der scholastischen Medizin des westlichen Mittelalters werden sollte.
2.4 Hanf im mittelalterlichen Europa
Cannabissamen genossen im frühen Europa des Mittelalters als Heilmittel großes Ansehen. Detailliert geht um 1150 die deutsche Äbtissin Hildegard von Bingen in ihrer Heilmittel- und Naturlehre „Physica“ auf Hanf ein. Sie schreibt:
„De Hanff-Cannabus – Vom Hanf
Der Hanf ist warm. Er wächst, während die Luft weder sehr warm noch sehr kalt ist, und so ist auch seine Natur. Sein Same bringt Gesundheit und ist den gesunden Menschen eine heilsame Kost, im Magen leicht und nützlich, weil der den Schleim ein wenig aus dem Magen entfernt und leicht verdaut werden kann, die schlechten Säfte mindert und die guten stärkt. Wer Kopfweh und ein leeres Hirn hat, dem erleichtert der Hanf, wenn er ihn isst, den Kopfschmerz. Den, der aber gesund ist und ein volles Gehirn im Kopfe hat, schädigt er nicht. Dem schwer Kranken verursacht er im Magen einigen Schmerz. Den, der nur mässig krank ist, schädigt sein Genuss nicht. – Wer ein leeres Gehirn hat, dem verursacht der Genuss des Hanfes im Kopf einen Schmerz. Einen gesunden Kopf- und ein volles Gehirn schädigt er nicht. Ein aus Hanfverfertigtes Tuch, auf Geschwüre und Wunen gelegt, tut gut, weil die Wärme in ihm temperiert ist.“ (Reier 1982)
In den folgenden Jahrhunderten wird Hanf in den meisten Kräuter- und Arzneibüchern erwähnt, obschon im Jahr 1484 der Papst Innozenz VII Kräuterheilern die Verwendung von Cannabis verbietet. Dieser verkündete, dass Hanf ein unheiliges Sakrament der Satansmesse sei.
Auch Paracelsus beschreibt Cannabis in mehreren seiner zahlreichen Werke. Die bekannten deutschen Kräuterbuchautoren Otto Brunfels, Hieronymus Bock und Leonard Fuchs (diese drei werden auch als Väter der Botanik bezeichnet) bringen wenig Neues zu Cannabis, dafür wird die Pflanze in Form von Holzschnitten sehr schön abgebildet. In fast allen bekannten und prächtigen Kräuterbüchern der Zeit ist Hanf aufgeführt. Das Interesse an diesen Werken schwand im Verlaufe des 17. Jahrhunderts. Im Zuge der Aufklärung begann vermehrt die Suche nach neuen therapeutischen Ansätzen. Allmählich setzten sich auch chemische Stoffe in der Therapie durch.
2.5 Cannabis im europäischen Arzneischatz des 18. Jahrhunderts
Wie bereits in den vorangegangenen Epochen wurden auch im 18. Jahrhundert von der Arzneipflanze Cannabis sativa fast ausschließlich, wie in der Volksmedizin üblich, der Samen in Form des Öls oder einer Emulsion medizinisch verwendet.
So wie die nützlichen und therapeutischen Eigenschaften des einheimischen Hanfes geschätzt wurden, so stand man dem bis dahin in der europäischen Medizin unbekannten indischen Hanf kritisch gegenüber. Der Begriff „indischer Hanf“ wurde erstmals Mitte des 18. Jahrhunderts durch Georg Eberhard Rumphius eingeführt, der wohl auch als erster deren Zweigeschlechtigkeit erkannte (Tschirch 1912). Aber erst 50 Jahre später wurde die definitive Unterscheidung von Cannabis sativa bzw. Cannabis indica durch Jean Baptiste Lamarck vollzogen.
Den berauschenden Eigenschaften der fremdländischen Hanfpflanze und der vermuteten Schädlichkeit derselben wurde mit Vorsicht begegnet. Der Tübinger Johan Friedrich Gmelin schrieb 1777 in seiner „Allgemeinen Geschichte der Pflanzengifte“:
„Auch der Same, die Rinde, die Blätter, noch mehr der Saft, und die Spitzen der grünenden Pflanze haben etwas Betäubendes; sie sind das Brug, oder Bangue der Morgenländer, die sie gemeiniglich mit etwas Honig anmachen, und es gebrauchen, wenn sie sich ein eine angenehme Trunkenheit und Benebelung des Verstandes versetzen wollen. Ob ich gleich nicht zweifle, dass ein langer Gebrauch solcher Mittel tödlich werden kann, so ist mir doch bisher kein Beispiel davon bekannt.“ (Gmelin 1777)
Es sollte Mitte des 19. Jahrhunderts werden, bis sich indischer Hanf in der europäischen Schulmedizin etablieren konnte.
2.6 Cannabis in der westlichen Schulmedizin des 19. Jahrhunderts
Nach wie vor wurde auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend (einheimischer) Hanfsamen, ausnahmsweise das Kraut, pharmazeutisch genutzt. Eine erste ausführliche Beschreibung zur Verwendbarkeit des fremdländischen, indischen Hanfs liefert im Jahr 1830 der Apotheker und Botaniker Theodor Friedrich Ludwig Nees v. Esenbeck:
„Mehrere Ärzte, auch Hahnemann, geben das weinige Extrakt gegen mancherlei Nervenbeschwerden, wo man sonst Opium oder Bilsenkraut anwendet, welche Mittel dasselbe ersetze soll, ohne bei grösserer Bitterkeit so sehr zu erhitzen.“ (Nees v. Esenbeck u. Ebermeier 1830)
Trotzdem stellt der gleiche Autor aber klar:
„Wichtiger ist der Gebrauch des Hanfsamens in Emulsionen oder Aufgüssen und Abkochungen, als eines beruhigenden, einhüllenden und reizmindernden Mittels bei Heiserkeit, Husten, Durchfall und besonders bei Krankheiten der Harnwerkzeuge, namentlich des Trippers.“ (Nees v. Esenbeck, Ebermeier1830)
Im Jahr 1839 veröffentlichte der im indischen Kalkutta stationierte irische Arzt William B. O'Shaughnessy eine umfassende Studie über den indischen Hanf. Seiner Arbeit mit dem Titel „On the Preparations of the Indian Hemp or Gunjah“ ist es hauptsächlich zu verdanken, dass der indische Hanf in der Folge auch in der abendländischen Schulmedizin Fuß fassen konnte. Im Hauptteil seiner Arbeit geht der Autor auf seine vielfältigen Versuche am Menschen ein. Er setzte diverse Hanfpräparate mit zum Teil großem Erfolg bei folgenden Indikationen ein: Rheumatismus, Tollwut, Cholera, Starrkrampf, Krämpfe und Delirium. Zu jeder Indikation liefert O'Shaugnessy mehrere Fallbeispiele und hält gemachte Beobachtungen fest. Mit Haschisch fand er ein gutes Mittel, seinen Patienten Linderung zu verschaffen oder sie sogar ganz von den entsprechenden Symptomen zu befreien. Bei vielen Patienten waren Krämpfe ein zentrales Problem, darüber kam er zu folgendem Schluss:
„Die vorliegenden Fälle geben zusammengefasst meine Erfahrungen mit Cannabis indica wieder, und ich glaube, dass dieses Heilmittel ein Antikonvulsium von grösstem Wert ist.“ (O'Shaugnessy 1838–40)
Die westliche Schulmedizin reagierte prompt auf diese neuen Erkenntnisse aus Indien. Dies ist nicht erstaunlich, denn bis dahin hatte man den Symptomen der Infektionskrankheiten wie Tollwut, Cholera oder Starrkrampf relativ hilflos gegenübergestanden. Aus den Ergebnissen von O'Shaughnessy schöpfte man verständlicherweise Hoffnungen, nicht zuletzt deshalb, weil gerade in dieser Zeit in Europa eine große Cholerawelle wütete, die allein in Paris 1.800 Menschen dahinraffte. Der Startschuss zur Karriere der vielversprechenden Medizinalpflanze Cannabis indica war gefallen.
Anfänglich wurden die von O'Shaugnessy bekannten Anwendungsgebiete übernommen, später wurde das Therapiefeld für Haschisch wesentlich erweitert. Insbesondere die Erfolgsmeldungen im Kampf gegen Tetanus veranlasste englische und französische Mediziner, dieses neue Wundermittel bei dieser Indikation einzusetzen. Auch der bulgarische Arzt Basilus Beron befasste sich in seiner Dissertation „Über den Starrkrampf und den indischen Hanf als wirksames Heilmittel gegen denselben“ mit dieser Problematik (vgl. Abb. 3). Die Schlussfolgerung seiner Arbeit:
„Ich war so glücklich, dass, nachdem wir fast alle bis jetzt bekannten antitetanischen Mittel fruchtlos angewandt, nach der Anwendung des indischen Hanfes der mir zugetheilte Kranke vom Starrkrampf ganz geheilt wurde, (…), weswegen der indische Hanf dringend gegen den Starrkrampf zu empfehlen ist.“ (Beron 1852)
Abb. 3 Titelblatt der Dissertation von Basilius Beron 1852