abgelehnt. Mehrere Patienten klagten gegen diese Ablehnungen vor den Verwaltungsgerichten. Am 19. Mai 2005 verpflichtete das Bundesverwaltungsgericht das BfArM den Antrag des MS-Patienten erneut zu prüfen (Bundesverwaltungsgericht 2005).
„Die medizinische Versorgung der Bevölkerung ist kein globaler Akt, der sich auf eine Masse nicht unterscheidbarer Personen bezieht. Sie realisiert sich vielmehr stets durch die Versorgung einzelner Individuen, die ihrer bedürfen.“
Das Bundesverwaltungsgericht betont in seinem Urteil den hohen Wert des im Grundgesetz verankerten Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
„In das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann nicht nur dadurch eingegriffen werden, dass staatliche Organe selbst eine Körperverletzung vornehmen oder durch ihr Handeln Schmerzen zufügen. Der Schutzbereich des Grundrechts ist vielmehr auch berührt, wenn der Staat Maßnahmen ergreift, die verhindern, dass eine Krankheit geheilt oder wenigstens gemildert werden kann und wenn dadurch körperliche Leiden ohne Not fortgesetzt und aufrechterhalten werden.“
Bundesverwaltungsgericht 2005
Die Entscheidung, einem Patienten den Erwerb oder, was insbesondere bei Cannabis in Betracht kommt, etwa den Anbau zu gestatten, bleibt stets eine Einzelfallentscheidung. Sie muss die konkreten Gefahren des Betäubungsmitteleinsatzes, aber auch dessen möglichen Nutzen in Rechnung stellen. Dieser kann gerade bei schweren Erkrankungen, wie sie hier in Rede stehen, auch in einer Verbesserung des subjektiven Befindens liegen. Dabei ist sich der Betroffene bewusst, dass es keinerlei Gewähr für die therapeutische Wirksamkeit des eingesetzten Betäubungsmittels gibt.
3.1.3 2007: erste Ausnahmeerlaubnisse durch die Bundesopiumstelle
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts führte ab 2007 schließlich zur Etablierung eines Verfahrens, bei dem Patienten einen Antrag auf eine Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG bei der Bundesopiumstelle stellen konnten, mit dem Ziel einer sogenannten ärztlich begleiteten Selbsttherapie mit Cannabisblüten oder einem Cannabisextrakt. Dabei musste der behandelnde Arzt darlegen, dass Standardtherapien nicht ausreichend wirksam waren oder ausgeprägte Nebenwirkungen verursachten, sodass ein Therapieversuch mit Cannabisprodukten indiziert war. Häufig hatten die Antragsteller bereits festgestellt, dass eine Therapie mit Cannabis ihre Leiden linderte. Zwischen 2007 und 2016 nahm die Zahl der jährlichen Antragstellungen und Ausnahmeerlaubnisse stetig zu. Nach Angaben der Bundesopiumstelle besaßen im Januar 2017 insgesamt 1.040 Personen eine solche Erlaubnis (Grotenhermen 2018).
3.1.4 2016: das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts
Da sich viele Erlaubnisinhaber die Cannabisblüten aus der Apotheke, die pro Gramm 12–25 EUR kosteten, nicht oder nicht in dem medizinisch erforderlichen Umfang leisten konnten, beantragten einige den für sie finanzierbaren Eigenanbau von Cannabispflanzen für die eigene medizinische Versorgung. Diese Anträge wurden von der Bundesopiumstelle sämtlich abgelehnt. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. April 2016 sorgte dafür, dass einem MS-Patienten, der seit Jahren gerichtlich für eine Erlaubnis zum Eigenanbau stritt, am 28. September 2016 als erstem Patienten in Deutschland überhaupt eine Genehmigung zum Anbau von Cannabis für die eigene medizinische Behandlung erteilt wurde (Bundesverwaltungsgericht 2016). Das Gericht stellte fest, dass der Eigenanbau von Cannabis erlaubt werden muss, da der Erwerb von Medizinalcannabisblüten aus der Apotheke aus Kostengründen ausschied.
„Nach § 3 Abs. 2 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) kann das BfArM eine Erlaubnis zum Anbau von Cannabis nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen. Die Behandlung des schwer kranken Klägers mit selbst angebautem Cannabis liegt hier ausnahmsweise im öffentlichen Interesse, weil nach den bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts die Einnahme von Cannabis zu einer erheblichen Linderung seiner Beschwerden führt und ihm gegenwärtig kein gleich wirksames und für ihn erschwingliches Medikament zur Verfügung steht. Der (ebenfalls erlaubnispflichtige) Erwerb von sogenanntem Medizinalhanf aus der Apotheke scheidet aus Kostengründen als Therapiealternative aus. Seine Krankenkasse hat eine Kostenübernahme wiederholt abgelehnt.“
3.1.5 2016–2017: vom Gesetzentwurf zum Gesetz
Parallel mit dieser juristischen Entwicklung gab es in den vergangenen Jahren eine zunehmende Offenheit aller im Bundestag vertretenen Parteien hinsichtlich der Notwendigkeit, Patienten einen Zugang zu einer Therapie mit Cannabisprodukten unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten zu eröffnen. Als Alternative zum Eigenanbau entwickelte die Bundesregierung einen Gesetzentwurf, der vorsah, dass die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet werden, unter bestimmten Voraussetzungen eine Behandlung mit Cannabisprodukten zu finanzieren. Dieser Gesetzentwurf wurde von der Bundesregierung am 28. Juni 2016 in den Bundestag eingebracht (Deutscher Bundestag 2016) und dort am 7. Juli in erster und am 19. Januar 2017 in 2. Lesung beraten (Deutscher Bundestag vom 18. und 19. Januar 2017). Das Gesetz wurde am 19. Januar 2017 im Bundestag einstimmig verabschiedet (Deutscher Bundestag 2017) (Zusammenfassung s. Tab. 1).
Tab. 1 Einige Meilensteine auf dem Weg zur medizinischen Cannabisverwendung in Deutschland (Grotenhermen 2018)
1998 | Änderung der Einstufung von Dronabinol – (-)-trans-Delta-9-Tetrahydrocannabinol – von der Anlage II in die Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes |
2000 | Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, nach dem Patienten einen Antrag auf eine Ausnahmeerlaubnis zur Verwendung von Cannabisblüten beim BfArM stellen können |
2000–2005 | Ablehnungen aller Anträge von Patienten auf eine solche Ausnahmeerlaubnis |
2005 | Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, nach dem das BfArM diese Anträge nicht pauschal ablehnen darf |
2007 | erste Ausnahmeerlaubnis durch die Bundesopiumstelle beim BfArM, zunächst für einen Cannabisextrakt, später überwiegend für Cannabisblüten |
20011 | arzneimittelrechtliche Zulassung von Sativex® für die Behandlung der therapieresistenten mittelschweren bis schweren Spastik bei Erwachsenen mit multipler Sklerose |
2016 | Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, nach dem einem Patienten eine Ausnahmeerlaubnis für den Eigenanbau von Cannabisblüten erteilt werden muss Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Veränderung betäubungsmittelrechtlicher Bestimmungen zu Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten |
2017 | einstimmige Verabschiedung des Gesetzes am 19. Januar im Deutschen Bundestag und Inkrafttreten des Gesetzes am 10. März 2017 |
3.1.6 2016: erste Kritik am Gesetz in der Anhörung im Gesundheitsausschuss
Am 21. September 2016 fand im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags eine öffentliche Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 28. Juni 2016 statt. Dabei wurde unter anderem bemängelt, dass die Krankenkassen eine Therapie mit Cannabis genehmigen müssen. Der Gesetzentwurf sah vor, dass schwer kranke Patienten künftig auf Kosten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Cannabisarzneimitteln und Rezepturen versorgt werden können.
Sowohl die Bundesärztekammer (BÄK) und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) als auch andere Sachverständige wiesen den Genehmigungsvorbehalt durch die Krankenkassen als nicht sachgerecht zurück. So sollte nach dem Gesetzentwurf die medizinische Verwendung von Cannabis von den