Jack Urwin

Boys don't cry


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mehr auf den direkten Zugang zu Milchdrüsen angewiesen. Es sind relativ simple Erfindungen, doch sie sind verantwortlich für einen der revolutionärsten Schläge gegen Genderrollen in der Geschichte, denn sie erlauben Männern, die Rolle der Hauptbezugsperson für die Kinder zu übernehmen, und geben Frauen die Gelegenheit, unmittelbar nach der Geburt zur Arbeit zurückzukehren. Sie haben damit quasi auch den Weg für Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare geebnet (auch wenn noch viele Jahrzehnte vergingen, bis es sozial akzeptiert und vom Gesetz legalisiert wurde). Nachdem Genderrollen über hunderttausende von Jahren durch die Biologie erzwungen worden waren, war das einzige körperliche Hindernis, das verhinderte, dass ein Vater seine Kinder großziehen konnte, damit aus dem Weg geräumt worden. Mit diesen Erfindungen haben wir uns aus einer biologisch erzwungenen Struktur gelöst. Ist euch klar, wie verdammt geil das ist? Leck mich, Mutter Natur, du bist eh nicht meine richtige Mama!

      Gesellschaftlich haben wir noch einen langen Weg vor uns, aber Haltungen können sich sehr viel schneller verändern als Körper. Die Auswirkungen sind erst seit zwei oder drei Jahrzehnten sichtbar, doch es ist deutlich, dass jedes Jahr mehr Männer lernen, ihre Vaterrolle anzunehmen und ihre Kinder großzuziehen – und aus irgendeinem Grund scheint es, als bekäme jeder Einzelne eine Zeitungskolumne, um sich darüber auszulassen. (Im Ernst, mehr braucht es nicht? Denn wenn ich dann für lukratives Honorar regelmäßig für die Zeitung schreiben darf, werde ich auf jeden Fall ein Kind in die Welt setzen.) Es scheint auch Auswirkungen auf die allgemeine Haltung zur Vaterschaft zu haben, denn selbst Väter, die Vollzeit arbeiten, unternehmen heutzutage größere Anstrengungen, gute Bindungen zu ihrem Nachwuchs aufzubauen. Die gesellschaftlichen Implikationen werde ich später noch ausführlicher behandeln, aber es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass das einen positiven Effekt auf unsere Vorstellung von Männlichkeit hat und eine entscheidende Rolle dabei spielen wird, wie Genderrollen in einer – für uns alle besseren – Zukunft aussehen werden. Oder wenigstens aussehen könnten. Wir haben die körperliche Hürde genommen, doch solange wir uns nicht mit den sozialen Fragen befassen, bekommen nur wenige Männer so eine Gelegenheit, und das ist eine Tragödie.

      Die steigenden Kosten für ein langes Leben

      Es ist noch gar nicht lange her, da konnte man eine Familie bequem einzig mit dem Gehalt des Vaters ernähren. Im Jahr 2015 betrugen die durchschnittlichen Kosten für ein Kind bis zum 21. Lebensjahr 222.251 Pfund9 (umgerechnet rund 265.000 Euro), knapp 11.000 Pfund (knapp 13.000 Euro) pro Jahr. Bei einer Anzahlung von zehn Prozent auf 235.000 Pfund10 (wofür man in Manchester ein Haus mit zwei Schlafzimmern bekäme) kostet die Hypothek eine Familie 15.600 Pfund jährlich. Ohne die elementaren Lebenshaltungskosten etwa für Lebensmittel (die nicht ganz unwichtig sind) hinzuzurechnen, übersteigen die Hypothek und die Kosten für ein Kind bereits das britische Durchschnittseinkommen von 26.000 Pfund. Das heißt, wenn nur ein Elternteil arbeiten würde, müsste dessen Einkommen weit über dem Durchschnitt liegen. Die meisten Menschen verdienen aber leider kaum mehr als der Durchschnitt, denn das ist gewissermaßen das Konzept des Durchschnitts. Also geht es im Allgemeinen einfach nicht, dass ein Elternteil zu Hause bei den Kindern bleibt, bis diese eingeschult werden.

      Mutterschaftsgeld schafft da ein wenig Abhilfe, indem es dafür sorgt, dass arbeitende Mütter nicht unmittelbar nach den Wehen gezwungen sind, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Im Vereinigten Königreich bekommen Mütter sechs Wochen lang neunzig Prozent ihres normalen Lohns, und dann erhalten sie für weitere dreiunddreißig Wochen 139,58 Pfund (umgerechnet ca. 165 Euro) pro Woche (oder neunzig Prozent, je nach dem, was weniger ist). Väter bekommen nur zwei Wochen lang bezahlten Vaterschaftsurlaub. Erst während des Zweiten Weltkriegs wurde es üblich, dass Frauen einer Lohnarbeit nachgingen, folglich wurde es erst in den vierziger Jahren notwendig, über bezahlte Freistellung für Eltern nachzudenken. Und das war nur eine von vielen Perioden in den letzten zweihundert Jahren, die entscheidenden Anteil daran haben, was Männlichkeit heute für uns bedeutet.

      We are not amused – das finden wir gar nicht lustig

      Ich weiß, ich weiß, es gibt keinen Beweis dafür, dass Königin Victoria diese Worte je gesagt hat, aber offen gestanden finde ich das nicht so wichtig, denn sie fassen, so oder so, doch ganz gut den Geist der Epoche zusammen, die ihren Namen trägt. Auf viele von uns übt das Großbritannien des 19. Jahrhunderts heute eine einzigartige Faszination aus. Für den Großteil der Gesellschaft damals war es ziemlich elend, wie es historisch immer der Fall war, doch für das Land an sich war es auch eine Zeit großen Wohlstands, die nicht nur einige der wohl schönsten Gebäude hervorbrachte, sondern auch die meisten Werte prägte, die heute als zutiefst britisch gelten. Selbst Ideale wie unser Wunsch nach weißen Weihnachten können bis hin zu den Werken von Charles Dickens zurückverfolgt werden, dessen Arbeiten die Periode widerspiegeln, die heute als Miniatureiszeit gilt. Es war auch der Beginn einer Kultur der Etikette und Korrektheit.

      Fragt eine beliebige Zahl von Ausländern nach den charakteristischen Eigenschaften des Durchschnittsbriten, und ihr werdet mit Sicherheit ziemlich oft »Höflichkeit« zur Antwort erhalten. Wir haben uns den Ruf erworben, eine zuweilen aufreizend höfliche Gesellschaft zu sein, über die George Mikes, ein in Ungarn geborener Schriftsteller, der mit Mitte zwanzig nach London verpflanzt wurde, schrieb: »Wenn ein Engländer alleine an einer Bushaltestelle wartet, bildet er eine ordentliche Schlange von einer Person.« Diese neue Konzentration auf Etikette, vermutlich eine Nebenwirkung der aufstrebenden Mittelschicht, sorgte für die Herausbildung der äußerst konservativen Haltungen, für die wir bekannt wurden und von denen sich viele zu Qualitäten entwickelten, die wir jetzt (oft fälschlicherweise) als männlich betrachten – wie zum Beispiel die Unterdrückung von Gefühlen. Der Einfluss der viktorianischen Epoche auf das, was heute mit ›britischen Werten‹ gleichgesetzt wird, war so stark, dass man leicht annehmen kann, wir wären immer schon prüde gewesen, emotional und sexuell unterdrückt, beleidigt ob der leisesten Andeutung von Unschicklichkeit. Aber geht nur mal zweihundert Jahre vor die Viktorianer zurück, und ihr werdet feststellen, dass die britische Literatur zu dieser Zeit ziemlich versaut war. Und ich meine keinen Schmuddel von der Sorte »Huch, die Dame zeigt Knöchel«, sondern richtige Sauereien, die heute an den Fernsehzensoren nicht vorbeikämen. Seht euch nur diesen Auszug von John Wilmot, Earl of Rochester, aus dem Jahr 1672 an, A Ramble in St. James’s Park:

      Had she picked out, to rub her arse on,

      Some stiff-pricked clown or well-hung parson,

      Each job of whose spermatic sluice

      Had filled her cunt with wholesome juice,

      Hätt sie, um sich den Arsch zu reiben,

      ’nen harten Kerl gewählt, ’nen gut bestückten Pfaff,

      so würd die Mös nicht lange trocken bleiben,

      wär schnell gefüllt mit zuträglichem Saft.

      Wilmot starb acht Jahre später an einer Geschlechtskrankheit – woran auch sonst? Wenn das im 17. Jahrhundert als Poesie durchging (Poesie, ich bitte euch!), dann wage ich mir gar nicht auszumalen, wie Pornografie aussah. Geht noch weiter zurück in die Zeit von Chaucer, und ihr findet Sex und Obszönitäten an jeder Ecke. Was ich damit sagen will? Wir waren nicht immer die sexlosen, prüden Langeweiler, die in der Formulierung »britische Werte« mitschwingt. Vor noch nicht allzu langer Zeit sind wir mit unserer Sexualität ziemlich laut und offen umgegangen, doch die Viktorianer haben das Ihre getan, dem ein Ende zu bereiten. Wenn wir der Straße »was Poesie uns über unsere Geschichte lehrt« weiter folgen, dann ist Rudyard Kiplings »If …« – »Wenn …« – eines der berühmtesten Gedichte aller Zeiten – im Grunde eine Ode an die »stiff upper lip«. Veröffentlicht im Jahr 1895, erklärt es dem Leser, wenn er einer Reihe von Regeln folgt »und auch nicht klagst, wenn du verlierst«, dann »du, mein Sohn, wirst sein: ein Mann!«. Man kann wohl sagen, dass die Briten – besonders die Männer – zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf dem besten Weg waren, die emotional gestörten Wesen zu werden, als die wir sie heute kennen.

      Nach zwei Weltkriegen verändern sich ein paar Dinge …

      Als Ende des 19., Anfang