Pflege muss beurteilen können, welche Art der Unterstützung oder ob jemand die Expertise anderer Professionen benötigt.
3. Care giving: Pflege, die direkt auf den Bedarf eingeht und die Versorgung mit der notwendigen Kompetenz durchführt. Dabei sollte der Wissenstand immer aktuell sein.
4. Care receiving: die Pflege sollte vom Patienten und dessen Angerhörigen angenommen werden. Dabei ist es wichtig die Reaktion des Patienten auf die Pflege zu beachten und die Resonanz auf die Pflegemaßnahmen zu beurteilen.
5. Caring with: die Pflege mit Solidarität und Vertrauen unter den heutigen Rahmenbedingungen in der ambulanten Pflege, als ein wichtiger Faktor für die Betroffenen – hier das Ehepaar Meier. Fürsorge ist nach Tronto/Fisher immer die Suche und das Engagement nach den bestmöglichen Handlungen für die Betroffenen.
Tronto/Fisher sehen gerade in dem Bereich von taking care of die Bereitschaft und das Engagement der Pflegenden, deren Belange und Interessen auch in politische Debatten hinein zu tragen. Tronto blickt kritisch auf das Verhältnis zwischen Pflege und Demokratie, die beiden Systeme scheinen sich zu widersprechen. Demokratie strebt die Gleichberechtigung aller Bürger an, während in der Pflege die Asymmetrie in der Beziehung abhängig/unabhängig in der täglichen Praxis deutlich wird (Tronto 2000, 2014).
Elisabeth Conradi (2001) analysierte die Care-Ethiken und fasste die Erkenntnisse in neun Thesen:
1. Care bezeichnet menschliche Interaktionen.
2. Im Verlauf der Care-Interaktion entstehen Beziehungen.
3. Care ist gesellschaftliche Praxis und umfasst Bezogenheit und sorgende Aktivitäten.
4. Care umfasst das Zuwenden und die Annahme von Zuwendung.
5. Bei Care-Interaktionen gibt es eine Dynamik der Macht und sie sind oft asymmetrisch.
6. Achtung beruht nicht auf Autonomie, die an Care-Interaktionen Beteiligten sind unterschiedlich autonom.
7. Care-Verhältnisse sind in der Regel nicht reziprok. So ist das Schenken von Achtsamkeit nicht an Reziprozität gebunden.
8. Care-Interaktionen können auch nonverbal sein und sich etwa in körperlichen Berührungen ausdrücken.
9. Fühlen, Denken und Handeln sind in Care-Interaktionen ineinander verwoben.
Care hat für Conradi verschiedene Dimensionen, so kann der Begriff Tätigkeiten umfassen, die dann eine aktive und handelnde Seite zutage fördert, wie z. B. in These 3 und 9 beschrieben. Der interaktive Aspekt von Care ist für die beteiligten Patienten, pflegende Angehörige, Freunde, Nachbarn oder andere Professionen ein wichtiges Arbeitselement. (s. Thesen 1, 2, 5, 8) In den Interaktionen zwischen den Beteiligten der Pflege können Machtverhältnisse unterschiedlicher Art entstehen. Dies kann zur Folge haben, dass pflegende Angehörige und professionell Pflegende nicht genügend Anerkennung und Wertschätzung von Pflegebedürftigen oder der Gesellschaft bekommen. Das kann vielleicht daran liegen, dass der Pflegebedürftige nicht in der Lage ist sich adäquat auszudrücken oder kulturell bedingte Gründe vorliegen. Pflegende müssen damit rechnen, dass die angebotene Pflege zwar angenommen wird, jedoch nicht zwingend eine Antwort in Form von Anerkennung oder Wertschätzung erfolgt. Dieser Aspekt sollte mehr in das Bewusstsein der Akteure rücken, weil eine Überbewertung und Idealisierung von Anerkennung und Wertschätzung in Pflegebeziehungen zum Verlust der Berufsidentität führen kann.
2.5.2 Care-Ethiken für das Ehepaar Meier
An das Wort Fürsorge/Care sind hohe Erwartungshaltungen gebunden. Es geht um die Übernahme von Verantwortung füreinander, das Sein für und mit jemanden. Wer welchen Anteil von Verantwortung in einem häuslichen Care-Arrangement übernimmt, muss zwischen dem Ehepaar Meier und deren Möglichkeiten sowie der professionellen Pflege ausgehandelt werden. Diese Aushandlungsprozesse sind nicht immer konfliktfrei, sie werden von vielen Faktoren beeinflusst. Josefine Heusinger und Monika Klünder beschreiben in ihrer Arbeit verschiedene Einflussfaktoren, die auf die Aushandlungsprozesse einwirken. Dies sind z. B. die Pflegeverpflichtung, Pflegeerwartung oder Zukunftsvorstellungen, Soziale Netzwerke, Beziehungsgeschichte, materielle Situation (vgl. Heusinger & Klünder 2005, S. 81). Je nach Intensität der Einflussfaktoren gestaltet sich das Care-Arrangement entweder als gelungen oder nicht gelungen. Es unterliegt Veränderungen, wenn sich der Zustand des Pflegebedürftigen verbessert/verschlechtert oder materielle Ressourcen erschöpft sind. Materielle Ressourcen sind gerade dann von Bedeutung, wenn es darum geht, für sich zusätzliche Leistungen zu finanzieren, die weder von der Pflegeversicherung noch von der Krankenversicherung getragen werden. So kann es sein, dass Frau Meier im Pflegealltag freie Zeit für sich benötigt, als Ressource zur Entwicklung der eigenen Resilienz. Zusätzliche Dienstleistungen, die zur Instandhaltung des Zuhauses notwendig sind, müssen aus den eigenen Ressourcen bezahlt werden.
Wäre Frau Meier noch erwerbstätig, müssten für den pflegebedürftigen Herrn Meier Lösungen für die arbeitsbedingte Abwesenheit gefunden werden, damit der Arbeitsplatz15 erhalten werden kann. Unter Umständen müsste Frau Meier ihre Arbeitszeit reduzieren, um die Pflege zuhause bewältigen zu können. Die Nachteile dieser Reduzierung auf die spätere Rente von Frau Meier müssen selbst ausgeglichen werden16.
Um Fürsorge in der heutigen Gesellschaft leben zu können, reicht es nicht mehr aus, nur auf die Fürsorgebereitschaft und moralischen Verpflichtungen der infrage kommenden pflegenden Angehörigen oder Nachbarschaftshilfen zu hoffen. Die Bereitschaft jemanden zu pflegen, hängt angesichts der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen sowie der Komplexität der Pflege selbst sowie unter anderem auch von der Frage der Bewältigungsfähigkeit einer solchen Aufgabe ab. Die Zusammenhänge zwischen den Erwartungen an die Pflegeversicherung, soziale Beziehungen und der Milieuzugehörigkeit werden unter anderem auch von der Ausnutzungsfähigkeit beeinflusst. (vgl. Heusinger & Klünder 2005, S. 103) Herr oder Frau Meier sind in der (neuen) Rolle als pflegende/r Angehörige/r auf ihre Krisenbewältigungsmechanismen angewiesen.
Die Situation der Pflegebedürftigkeit im häuslichen Umfeld erfordert unter anderem Kompetenzen im Umgang mit gesetzlichen Regelwerken und der damit verbundenen Bürokratie, die Fähigkeit und Kenntnisse darüber, wie und welche der vielfältigen Beratungsmöglichkeiten in Anspruch genommen werden sollten. Das Wissen um die Verluste, die durch die Erkrankung entstehen können, die neuen Risiken, die vielleicht einen Umzug erforderlich machen, müssen ebenfalls mitberücksichtigt werden. Hier leisten professionell Pflegende im ambulanten Arbeitsbereich unsichtbare und damit unbezahlte Beratungsarbeit, sie kompensieren mangelndes Wissen der pflegenden Angehörigen mit ihrer eigenen Pflegekompetenz weitestgehend ohne die Finanzierung aus dem existierenden System. Wenn diese Finanzierungsgrundlage nicht vorhanden ist, so werden in vielen Fällen unbezahlte Überstunden von professionell Pflegenden geleistet. »Ich hänge die Zeit privat dran« so ein Interviewteilnehmer (P12), der in dem vorgegebenen Zeitkontingent die komplexe Pflege eines Patienten nicht bewältigen konnte (vgl. Adam-Paffrath 2014, S. 134).
In dem Moment, wo das Ehepaar Meier Leistungen aus der Pflegeversicherung bezieht, müssen diese bereit sein sich gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Raum zu rechtfertigen. Die Prüf- und Kontrollinstanz der Medizinischen Dienste der Krankenkassen (MDK) ist berechtigt den Zustand des Pflegebedürftigen sowie die Bedingungen der Pflege in dem Haushalt zu überprüfen. Diese Prüfsituation löst bei den Pflegebedürftigen und deren Angehörigen Ängste aus, gerade dann, wenn es um die Höherstufung in einen anderen Pflegegrad geht.
Die Prüfkonstrukte des MDK’s wurden von Ruth Ketzer und Manfred Borutta analysiert. Die Autoren kamen in ihrer Diskursanalyse zu dem Schluss, dass es machtbezogene Strömungen auf die Art und Weise der Ausgestaltung der Prüfungen gab. Weder die Fachöffentlichkeit noch die breite Öffentlichkeit wurden über die Entwicklungen der Prüfungen für die Leistungen der Betroffenen ausreichend informiert »Vor dem Hintergrund, das nicht alles was sich sagen ließe auch gesagt wird, offenbart sich, dass der öffentliche Diskurs das erste MDK-Prüfkonstrukt, ausschloss, und das zweite und dritte