von Fakten (z. B., dass für die Pflege des Ehepartners Unterstützung von außen benötigt wird) eine bedeutende Rolle.
Der Begriff »supported living« umschreibt zwar zunächst das Konzept der Unterstützung von Menschen mit Behinderung als einen Weg zur Selbstbestimmung, in der Differenzierung zwischen dem Zuhause und den Wohnheimformen jedoch gibt es deutliche Parallelen zu dem Fall Meier. Nach Christian Lindmeier (2001) ist das Zuhause das Zentrum der Lebenswelt von Menschen, egal ob mit oder ohne Einschränkungen. An diesem Ort wird alles organisiert, was innerhalb und außerhalb der Wohnung passieren soll. Menschen sind mit diesem Ort verwurzelt, emotional gebunden und sie haben die Möglichkeit jederzeit wieder an diesen Ort zurückzukehren. Gerade dieser letzte Aspekt ist für kranke und pflegebedürftige Menschen von enormer Bedeutung, denn wenn das Zuhause vorzeitig gekündigt oder verkauft wird, ist dies neben den Einschränkungen ein weiteres Verlusterleben, in der vulnerablen Lebenswelt der Betroffenen.
»Wohnst Du schon oder lebst Du noch?«, der Slogan des Möbelimperiums Ikea beschreibt die enge Verknüpfung zwischen Wohnen und Leben. Im englischen Sprachgebrauch wird diese Trennung zwischen Wohnen und Leben nicht vollzogen, »to live« bedeutet auch immer gleichzeitig wohnen. Es zeigt auch nach Heidrun Metzler und Christine Richter, dass Menschen eben mit dem Wohnen mehr verbinden als nur ein »Dach über dem Kopf« und der Aspekt der Lebensqualität eine Rolle spielt (Metzler und Richter 2004). Das Zuhause als privater Rückzugsort schafft eine gewisse Art von Freiheit, die je nach persönlichem Bestimmungs- und Autonomiegrad einer Art öffentlich-sozialer Norm unterliegt. In den »eigenen vier Wänden« finden Handlungen und Gedanken, Rollenzwänge, Emotionen ihren Platz. Diese individuellen Vorstellungen von Geborgenheit und Sicherheit können in verschiedenen Formen zum Ausdruck kommen. Die Wahl des Einrichtungsstils, die Anordnung der Möbel, Bilder, bevorzugte Farben gehören zu der Wohnindividualität der Personen7.
Der Aspekt der Selbstbestimmung spielt beim Wohnen eine gewichtige Rolle. Der Mensch möchte selbst entscheiden, wer in seine Wohnung kommt, welche Kontaktformen er zu anderen Menschen hält oder wann er der Außenwelt Zutritt gewährt und wann nicht. Es handelt sich letztendlich um eine gelungen Balance zwischen Individualismus und Kollektivität. Diese Balance liegt zwischen unterschiedlichen Lebenszyklen, wie z. B. alleine leben, Partnerschaft, Familie, Auszug der Kinder, Ruhestand etc. Diese Wandlungsprozesse innerhalb des Lebens werden in der Wohnung und in der vertrauten Örtlichkeit gelebt. Selbstverständlich ist ein solch beschriebener Lebenszyklus nicht störungsfrei, er unterliegt Brüchen, wie Trennungen, Tod oder Wegzug. Aber selbst dann unterliegen eine Wohnung und der ausgewählte vielleicht (neue) Wohnort bestimmten Schutzmerkmalen, die nahezu universell sind. Deinsberger (2007) nennt hierzu folgende Merkmale:
• Meteorologischer Schutz (Kälte, Hitze Feuchtigkeit)
• Schutz vor schädigenden Organismen
• Schutz vor fremdem Zugriff anderer Personen
• Schutz vor olfaktorischen, sensorischen, optischen Beeinträchtigungen
• Bewahrung der Privat- und Intimsphäre
2.3.2 Was bedeuten diese Ausführungen für unseren Fall Meier?
Die Generation der Meiers ist geprägt von frühen Verlusten von Menschen, Wohnraum und radikalen Veränderungen der Örtlichkeiten entweder durch Flucht oder kriegsbedingte Zerstörungen. Oftmals gestaltete sich die Wohnungssuche nach dem Krieg als schwierig, der Städte- und Wohnungsbau befanden sich noch im Aufbau. Umso mehr gewinnt in den Jahren des Aufbaus der Ort, an dem die Meiers leben sowie die Wohnung oder das Haus und deren Ausgestaltung, an enormer Bedeutung. Der von Cheney genannte Begriff der »Storied Residence« als ein Ort der jeweils persönlichen Geschichte der Meiers untermauert das Schutzmerkmal der Privatheit und betrachtet einen Zugriff von fremden Personen kritisch (Cheney 1989). Privatheit, als Rückzug aus dem globalen Geschehen bekommt so eine neue Gewichtung.
Hannah Arendt schreibt in ihrem Aufsatz »zum Raum des Öffentlichen und dem Bereich des Privaten«, dass Privates der Gegenentwurf zum öffentlichen Raum ist. Wer nur in einem privaten Raum lebt, der wird um wesentliche menschliche Dinge beraubt. Gegenständliche Beziehungen, die sich nur in der Interaktion mit anderen Menschen ergeben, eine Einstellung zu den Dingen, die einen umgeben, zu entwickeln werden in totaler Privatheit schwierig (vgl. Ahrendt 1960, S. 420). Der Privatmensch lebt in der Abwesenheit von Anderen, er wird somit nicht gesehen und gehört, was er tut oder lässt ist ohne Folgen oder Bedeutung.
In Bezug auf das Ehepaar Meier geschieht hier eine Art Assimilation, in den für die Öffentlichkeit unsichtbaren Raum, die auch die Arbeit der professionellen Pflege im ambulanten Arbeitsbereich betrifft. Nahezu unsichtbar vom gesellschaftlichen Geschehen werden 2,6 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland zuhause pflegerisch versorgt, dies sind 76 % aller Pflegebedürftigen in Deutschland (Pflegestatistik 2017).
Seit Einführung der Pflegeversicherung haben die äußeren Einflussfaktoren, wie die Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, in welcher Art und Weise Pflege im privaten Raum zu sein hat, stark zugenommen. Einige Wirkgefüge dieser abstrakten und verkürzten gesetzlichen Regelungen werden in den folgenden Kapiteln weiter ausgeführt.
Betrachtet man die vier Metaparadigmen8 (Person, Umwelt, Gesundheit, Pflege) der klassischen Pflegetheorien, auf die ich immer wieder eingehen werde, so findet hier das Metaparadigma der Umweltkomponente ihren Platz. Demnach ist es gerade für professionelles Pflegepersonal im ambulanten Pflegeberich nicht unbedeutend, in welcher Umgebung die Menschen versorgt werden. Die Umgebung beeinflusst die Patienten und deren pflegende Angehörige. Die Form der Interaktionen mit Freunden, Nachbarn, Familienangehörige sind wichtige Bestandteile ebenso wie die ökonomischen, geografischen, kulturellen Gegebenheiten. Diese Faktoren beeinflussen neben personenbedingten Einflussfaktoren den Status der Gesundheit/Krankheit einer Person (Johnston 2017).
Das moralische und ethische Handeln der Pflege ist nach Elizabeth Peter nicht nur von der Beziehung zum Patienten geprägt, sondern auch von dem Standort und dem Milieu, indem die Pflege stattfindet. Dieser Standort kann dabei für die Pflege fördernd oder behindernd sein. Diese Aspekte erfahren professionell Pflegende jeden Tag in der ambulanten Pflege. Wenn das Ehepaar Meier ökonomische Probleme hat oder nicht in der Lage ist, sich umfassend über ihre Möglichkeiten in ihrer Rolle als Leistungsempfänger zu informieren, dann nimmt die Beratung neben den pflegerischen Aufgaben einen großen (unbezahlten) Raum ein (Peter 2002).
Ein weiterer Einflussfaktor der die Bedeutung des Raumes hervorhebt, ist das aus der Umweltethik bekannte Phänomen des »Crowdings«9, d. h. Beengungsstress (Schulz-Gambard 2002). Schlechte und beengte Wohnverhältnisse, die nicht angepasst werden können, die z. B. die notwendige Mobilisation aus dem Bett verhindern. Wenn die Wohnung der Meiers sehr klein ist, sind Rückzugsräume für die pflegenden Angehörigen, aber auch für den Pflegebedürftigen selbst, nahezu ausgeschlossen. Neben dem Stress, den die pflegerische Versorgung mit sich bringt, ist für beide vielleicht die Nachtruhe ständig gestört, weil es keine Möglichkeit gibt, ein Pflegebett für den Pflegebedürftigen woanders aufzustellen. Überhaupt ist es für professionell Pflegende immer wieder schwierig, das Ehepaar Meier zu einer Veränderung des Wohnumfeldes zu bewegen. Das »berühmte« Pflegebett im Wohnzimmer ist ein klassisches Beispiel dafür.
Die Passung zwischen Mensch und Umwelt ist ohne das »In-Beziehung-Treten« und dem Wechsel zwischen der Innen- und Außenorientierung nicht möglich.
»Deshalb ist das Ziel pflegerischer Interventionen, die Umgebung und/oder den Lebensprozess von Menschen zu fördern, erhalten, regulieren oder zu verändern, um einem oder beiden Veränderungen in Gang zu bringen.« (Fawcett 1999, S. 197). Gerade in der ambulanten Pflege ist das kulturelle und je milieuspezifische Weltbild, z. B. im Fall des Ehepaars Meier, für die Ausgestaltung des Care-Arrangements von Bedeutung. Das Verhältnis zwischen der Welt und dem Zuhause von Menschen soll im nächsten Kapitel betrachtet werden.
2.3.3