Daphne Niko

DAS ORAKEL


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vielleicht das Objekt an eine besser gesicherte Einrichtung zu schicken. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er eine Agenda hatte, von der sie nichts wusste.

      Daniel sah auf seine Uhr. «Ich muss in die Stadt fahren, eine Besorgung machen. Vielleicht kannst du am Abdruck der Innenseite des Rhytons arbeiten? Wenn die Inschrift weiterginge, wäre das eine wertvolle Spur.»

      «Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich haben werde. Evan wird wahrscheinlich jeden Moment zurückkommen.»

      «Mach dir keinen Kopf um Evan. Er hat ein paar Meetings.» Daniel zwinkerte ihr zu.

      Sarah wusste, dass keine Meetings geplant waren. Aber es würde nur einer Nachricht von Daniel an die hohen Tiere der Stiftung bedürfen, die eindeutig mehr von ihm hielten als vom Leiter der Ephorie, um Termine zu vereinbaren, die Evan für ein paar Stunden ablenken würden. Dann konnte sie die Arbeit erledigen. Sarah bestätigte die Taktik mit einem Nicken.

      Daniel lächelte und wandte sich zum Gehen.

      Sarah sah ihm nach. Obwohl sie unbedingt wissen wollte, warum er in die Stadt fuhr, fragte sie ihn nicht danach. Sie streichelte die tibetischen Gebetsperlen, die er ihr geschenkt hatte, und die sie jetzt dreimal ums Handgelenk gewickelt trug, als ob diese die Antworten auf die Fragen kannten, die Sarah quälten: Warum verschwand Daniel immer wieder? Wem legte er Rechenschaft ab? Was hielt er zurück?

      Und die eine, die sie auf keinen Fall stellen wollte, nicht einmal sich selbst: Konnte sie ihm vertrauen?

      Daniel ließ den Motor des Land Rovers an, trat das Gaspedal durch und hinterließ eine Staubwolke. Als das Lager nur noch ein Punkt im Rückspiegel war, schrieb er Langham eine Nachricht.

      Ich habe, was Sie wollen.

      Sekunden später klingelte das Handy. Langham hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. «Machen Sie schnell. Ich bin im Begriff, den Premierminister zu treffen.»

      «Der Obelisk könnte Teil des ursprünglichen Bauwerks sein, das die Höhle von Trophonios umgab.»

      «Das sagt mir nichts.»

      «Es war eine Orakelstätte im antiken Griechenland. Die Rituale dort waren geheimnisvoll, sogar furchteinflößend. Die Höhle wird von einigen antiken Autoren sehr ausführlich beschrieben, aber es wurde nie etwas entdeckt, das auf diese Beschreibung passt.»

      «Unsere Informationen besagen, dass der Obelisk ein Schlüssel ist.»

      «Genau. Er könnte der Schlüssel sein, der den Eingang zu dieser Höhle öffnet.» Daniel sah in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Er erkannte in sich den Instinkt des Gejagten. Sein Herz schlug etwas schneller. «Und was da drin sein könnte, weiß nur der Himmel.»

      «Klingt so, als hätten Sie eine Theorie zu beweisen. Ich will, dass Sie den Obelisken dorthin mitnehmen und herausfinden, ob er als Schlüssel dient. Tun Sie es noch heute.»

      «Sarah weiß davon. Sie ist diejenige, die es herausgefunden hat.»

      «Verdammt, Madigan. Sie sollten sie da raus lassen.» Langham atmete heftig aus. «Was immer Sie tun, verwickeln Sie sie nicht in die Aufklärung. Zu ihrem eigenen Besten.»

      «Wenn alles, was über diese Höhle geschrieben wurde, wahr ist, dann bin ich nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, das allein zu tun.»

      «Sie müssen. Das ist nicht verhandelbar.»

      «Seien Sie doch vernünftig …»

      «Warten Sie.» Gedämpft sprach Langham mit jemand anderem. Als er sich wieder dem Telefonat zuwandte, klang er ungeduldig. «Man ist bereit, mich zu empfangen. Denken Sie daran: keine Fehler.»

      «James …»

      Die Verbindung brach ab.

      Daniel ließ das Fenster herunter und spürte, wie die frische Luft seine Stirn kühlte. Er war sich nicht sicher, ob seine Unruhe von Furcht oder Wut rührte, aber so oder so war sie unbekanntes Terrain für ihn. Er holte zweimal tief Luft, um seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Als das nicht half, kramte er eine kleine, blaue Tablette aus seiner Tasche. Er schluckte sie hinunter und zuckte wegen ihres bitteren Geschmacks zusammen.

      Reiß dich zusammen, sagte er sich. Es ist fast vorbei.

      Er fuhr ohne Ziel umher und kämpfte darum, seine Gedanken im Zaum zu halten, während er seinen nächsten Schritt plante.

      Kapitel 9

      Parnass, 392 n. Chr.

      Die Mädchen saßen kichernd und miteinander flüsternd unter dem Schatten der alten Platane, wo sie auf ihre Lehrerin warteten.

      Aristea lächelte. Sie wusste, dass sie sie auf ihrem Weg von Delphi den Hang hinab nicht sehen konnten. Dass sie so eifrig zu lernen bereit und noch vor ihr zum Unterricht gekommen waren, begeisterte Aristea.

      Als sie sich näherte, kam eine ernste Stille über die Gruppe. Mit dem Zeigefinger zählte sie sieben Köpfe ab. Alle waren da.

      «Grüße, Mädchen.» Obwohl sie sehr jung waren, zwischen sechs und zwölf, nannte Aristea sie niemals Kinder, denn dieser Ausdruck war Jungs vorbehalten.

      «Grüße, Lehrerin», erwiderten sie gleichzeitig.

      Sie bat die Mädchen, sich auf den Boden zu setzen und nahm selbst auf einem Baumstumpf Platz. Sie legte ihren hüftlangen Zopf, der mit Lederbändern geflochten war, wie es dem Brauch hochgeborener Frauen entsprach, über ihre Schulter und ließ ihn an ihrer linken Seite ruhen. Dann öffnete sie einen Kodex an einer markierten Stelle und legte ihn auf ihren Schoß.

      «Nun, wer kann uns eine Zusammenfassung der gestrigen Lektion geben?» Sieben Hände hoben sich. Sie zeigte auf ein blondes Mädchen mit runden Augen wie denen einer angstvollen Taube. «Thalia.»

      Die siebenjährige Tochter von Thracycles, Delphis Schatzmeister, stand auf. «Wir haben von Mäßigung erfahren. Jedes Übermaß, selbst das an Tugend, ist ein Fluch für die Seele.»

      «Gut gesagt, Thalia. Wir wollen die Lehre wiederholen, nach der wir unser Leben gestalten müssen.»

      Der Chor aus Mädchenstimmen hallte den Berg hinab. «Mit unserem größten Bestreben müssen wir vermeiden und mit Feuer und Schwert und allen anderen Mitteln abtrennen: vom Körper, Schwäche; von der Seele: Unwissenheit; vom Leib, Überfluss; von einer Stadt, Aufruhr; von einer Familie, Zwiespalt; und von allen Dingen, Übermaß.»

      Aristea nickte ihren Schülerinnen zufrieden zu. Sie waren außergewöhnliche Mädchen, jede von ihnen zur Anführerin berufen. Deswegen hatte sie selbst es auf sich genommen, ihnen eine angemessene Erziehung zukommen zu lassen, gerade so, wie sie diese von den starken Frauen ihrer Familie erhalten hatte. Ohne die Schule unter der Platane wären griechische Frauen auf die traditionelle Ausbildung in der Kochkunst, Haushaltsführung, Stickarbeit und dem Versorgen der Männer begrenzt, ohne dass man je von ihnen Notiz nahm.

      Es war nicht Aristeas Absicht, die Männer zu untergraben, denn sie verspürte größten Respekt für die meisten von ihnen, sondern ihnen als ebenbürtig gegenüberzustehen.

      Sie blätterte durch den Kodex, bis sie eine Seite erreichte, auf welcher ein Stück Papyrus mit einem ϒ darauf war. Sie holte ihn heraus und hielt ihn hoch. «Wer kann mir sagen, was das ist?»

      Erasmia, die Jüngste der Gruppe, hob schüchtern die Hand.

      Mit einem Nicken gab die Lehrerin ihr die Erlaubnis, zu sprechen.

      «Ypsilon, der zwanzigste Buchstabe unseres Alphabets.»

      «Das stimmt.» Aristea belohnte die Mitarbeit des Mädchens mit einem Lächeln. «Und auch nicht.» Sie richtete ihren Blick auf den Rest der Gruppe, sah allen einzeln in die Augen, um sich zu vergewissern, dass sie ihre Aufmerksamkeit hatte. «Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen. Ich möchte euch eine Geschichte erzählen.

      Vor langer Zeit folgte ein junger