Daphne Niko

DAS ORAKEL


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Die eine trug weiße Gewänder und hatte einen hauchzarten Schleier über ihr Gesicht gelegt. Sie lud den jungen Mann ein, in ihrem Tempel zu arbeiten und die Bräuche ihres Volkes kennenzulernen.

      Die zweite Frau trug ein purpurnes Kleid, das um die Hüfte herum mit einem goldenen Band zusammengehalten wurde. Von ihrem Hals hingen Ketten von Lapislazulis aus dem Osten und Türkisen aus dem Perserreich. Sie hielt ein silbernes Tablett, auf dem sich Weintrauben hoch aufstapelten. Sie nahm eine Frucht in die Hand und bot sie dem jungen Mann an.

      Nun hatte er seit vielen Tagen nichts gegessen, sodass er die Weintrauben nahm und sie gierig verschlang. Als sie seinen Hunger sah, bat ihn die Frau mit dem Versprechen an Überfluss in die Kammern ihres Tempels.» Aristea machte eine nachdrückliche Pause. «Was, glaubt ihr, hat der junge Mann getan?»

      Themis, die Waise, die den Altarraum fegte, sagte: «Er ging zum Tempel der Frau mit den Trauben.»

      «Warum?»

      «Weil er nicht hungrig sein wollte.»

      Aristea nickte. «Das ist richtig. Er folgte der Frau, die ihm Übermaß versprach, und scheute die Frau, die ihm Arbeit anbot. Und was, glaubst du, ist aus ihm geworden?»

      «Er wurde fett und faul», schlug Themis vor.

      «Und dumm», fügte Thalia hinzu.

      Die Lehrerin erzählte den Mädchen das Ende der Geschichte: «Er hörte auf, zu arbeiten und zu suchen, weil ihm alles bereitstand. Er gab sich den Versuchungen des Fleisches hin und vergaß die Fragen des Geistes. Und als der Krieg über sein Land kam und seine Gönnerin getötet wurde, war er alt und unwissend. Er besaß keinen Fleiß, auf den er zurückgreifen konnte, keine Kenntnis von allgemeinen Wahrheiten, keine Geistesstärke. Schließlich fand er sein ehrloses Ende durch die Hände der Feinde.»

      Sieben Augenpaare starrten Aristea an, als ob die Quelle des Lebens sich aus ihrem Mund ergösse. Sie wusste, dass sie diese Lektion immer mit sich tragen würden.

      «Ich erzähle euch diese Geschichte, um euch daran zu erinnern, dass es im Leben um Entscheidungen geht. Lasst euch nicht von Reichtümern und falschen Versprechen täuschen, denn sie sind wie löchrige Gefäße: Sie können nie erfüllt werden. Entscheidet euch stattdessen für den Weg von Fleiß und Tugend, denn Wissen und Erkenntnis bedürfen harter Arbeit. Dieser Pfad mag schmal und steil sein, doch verlasst ihn nicht, denn er wird euch zu eurer höheren Natur führen.»

      Erneut hielt sie das ϒ hoch. «Dieses Symbol steht für die Wahl zwischen zwei Wegen.» Sie zeigte auf die Mittellinie. «Das stellt den Pfad des Lebens dar. Wenn ihr diesem Pfad folgt, werdet ihr unweigerlich auf eine Verzweigung stoßen, eine Wegkreuzung. Die linke Seite repräsentiert den Weg irdischer Weisheit, die rechte den göttlicher Weisheit. Als Wesen mit einem freien Willen habt ihr die Macht, zu entscheiden.» Sie legte den Papyrus in den Kodex zurück. «Nutzt sie klug.»

      Aus dem Augenwinkel sah Aristea eine Gestalt am anderen Ende des Hains stehen. Sie blickte in diese Richtung und erkannte Cleon, den ältesten Priester von Apollons Heiligtum, der beobachtete und wartete.

      Sie wandte sich wieder an ihre Schülerinnen. «Das beendet unsere heutige Lektion. Morgen werden wir mit unseren Mathematikstudien beginnen.»

      Während sich die Schülerinnen zerstreuten, durchquerte Aristea den Hain. Dabei strich sie absichtlich gegen tief hängende Blätter, an denen sie vorüberging. Sie ließ keine Gelegenheit aus, die Hand der Natur zu spüren.

      Sie fand es merkwürdig, dass Cleon am selben Fleck stehenblieb und sich nicht die Mühe machte, ihr entgegenzukommen. Dennoch nahm sie es gelassen und schrieb es seinem Alter zu. Seine siebenundfünfzig Jahre wurden zunehmend in seinem gebeugten Rücken und den silbernen Strähnen deutlich, die in seinem pechschwarzen Haar überhandnahmen. Selbst seine Kleidung kündete von seinem fortgeschrittenen Alter. Obwohl es auf den Sommer zuging, bedeckte er seine Priesterroben mit Rehfell, damit er sich nicht erkältete.

      Während sie sich näherte, betrachtete sie diesen Mann genau, der ihr zuverlässiger Freund gewesen war, seit sie im Alter von sechzehn Jahren zur Priesterin geweiht wurde. Seine Augen verrieten Sorge, als sei etwas geschehen.

      Sie sprach ihn mit fröhlichem Ton an. «Ihr habt einen weiten Weg auf Euch genommen, mein lieber Cleon. Was führt Euch zu unserer bescheidenen Schule?»

      «Ihr unterrichtet diese Mädchen also noch immer.»

      «Natürlich.» Sie blickte über ihre Schulter hinweg zu der Platane, die ihr als Unterrichtsort diente. Einige der älteren Mädchen unterhielten sich in ihrem Schatten. «Nur durch Bildung wird mehr aus ihnen werden als jemandes Gattin oder Mutter oder Tochter. Und vielleicht werden Frauen eines Tages in unserem Land nicht mehr unsichtbar sein.»

      «Eure Hoffnung ist groß.»

      «Die Dinge sind im Wandel, Cleon. Wir müssen den Frauen eine Stimme verleihen, wenn wir uns den Unterdrückern als starke Gesellschaft entgegenstellen wollen.»

      «Aus diesem Grund bin ich hier.» Er nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug. «Ich wollte derjenige sein, der Euch davon berichtet.»

      Sie spürte seinen Kummer und legte eine Hand auf seine Schulter. «Mir von was berichten, alter Freund?»

      «Theodosius wurde als Kaiser beider Seiten des Römischen Reiches ausgerufen. Er verfügt über die Obergewalt. Das sind keine guten Neuigkeiten für uns.»

      Ein Schauder lief über Aristeas Rücken. Während er die östliche Hälfte des Imperiums regierte, hatte sich Theodosius als unbarmherziger Anführer erwiesen. Die Zerstörung des Serapeums im Jahr zuvor war eine der vielen Gräueltaten des Kaisers, der das Schwert eines höheren Wesens schwang, das Aristea und ihrem Volk unbekannt war.

      Der Kaiser hatte auch Vergeltung gegen die Thessalonicher befohlen, die einen seiner Statthalter getötet hatten. Diese Maßnahme hatte einen blutigen Aufstand und den Verlust von mehr als siebentausend Leben zur Folge gehabt. In jüngerer Zeit hatte Theodosius mehrere Dekrete erlassen, die sich alle mit heidnischen Stätten und Praktiken der Gottesverehrung befassten.

      Obwohl sie den Trommelschlag des Verderbens in ihrer Magengrube spürte, blieb sie dem alten Priester zuliebe zuversichtlich. «Er wird uns kein Leid tun. Wir haben nichts getan, das seinen Zorn wert wäre.»

      Cleon beugte sich vor. «Vernehmt meine Worte, Aristea. Theodosius hat ein neues Gesetz zur Verbannung des Heidentums ausgerufen. Ganz gleich, wie friedfertig unsere Rituale sind, es ist uns hiermit verboten, sie durchzuführen. Auf Blutopfer steht die Todesstrafe. Ebenso auf Weissagung, die in seinen Augen eine Form von Hexerei darstellt.»

      «Wir werden es im Geheimen tun. Niemand muss davon erfahren.»

      Er schüttelte den Kopf. «Sie haben ein Auge auf Delphi. Als das wichtigste nichtchristliche Heiligtum in ganz Griechenland steht es unter einem äußerst prüfenden Blick. Ich möchte damit sagen, dass wir keine Supplikanten mehr empfangen können. Es wird ohnehin niemand Gefängnis und Folter riskieren, um hierher zu reisen.»

      Die Offenbarung traf Aristea wie ein Stein aus einem Katapult. «Aber das wird das Ende von Delphi bedeuten. Das darf nicht geschehen.»

      Ein Windhauch kam vom Berggipfel und strich durch den Hain. Cleon zog das Rehfell enger um sich und wandte sich dem hinaufführenden Pfad zu. Er blickte hinter sich. «Seid vorsichtig, was Ihr diese Mädchen lehrt. Ihr könnt nicht sagen, wer zuhört.»

      Sie wusste, dass Cleon recht hatte, aber es ärgerte sie dennoch. «Mit meinem letzten Atemzug werde ich mein Wissen mit ihnen teilen. Das ist mein Geburtsrecht und meine heilige Pflicht.»

      Er lächelte. «Eure Ahnin Themistokleia war ebenso tollkühn.»

      «Gebt auf Euch acht, alter Freund.»

      Cleon folgte dem Pfad nach Delphi. Aristea blickte zur Spitze des Gebirges, wo die Phadriaden sich wie Hundezähne einem schimmernden Himmel entgegenstreckten. Jahrhundertelang hatte ihr Volk im Schatten der Felsen gestanden und mit dem Göttlichen gesprochen.

      Sie schwor, dass kein fanatischer Kaiser ihnen