Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


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unbeständig und unbeurteilbar. Wir dürften daher weder unseren Wahrnehmungen noch unseren Vorstellungen glauben. Hieraus gehe die Pflicht, sich nicht zu entscheiden (aphasia, epochê, mêden horizein, aprosthetein) hervor, und diese hätte die Unerschütterlichkeit des Gemütes (ataraxia) zur Folge. Aus dem Satze ouden horizô »ich entscheide nichts« ist der Begriff Aoristie abgeleitet (Diog. Laert. Vit. Phil. IX, § 104 ff.).

      Apagogé (gr. apagôgê, lat. deductio) heißt nach Aristoteles (Analyt. prior. II, 25, p. 69 a 20) ein Schluß folgender Art: Wenn ein erster Begriff ein Merkmal eines zweiten Begriffs ist und es zwar nicht feststeht, daß der zweite Begriff ein Merkmal des dritten ist, aber dies doch gleich wahrscheinlich oder noch mehr wahrscheinlich ist, als der zu folgernde Schlußsatz (nämlich daß der erste ein Merkmal des dritten sei), so heißt das Schlußverfahren Apagoge, z. B. : Es sei 1=lehrbar, 2=Wissen, 3=Gerechtigkeit. Dann steht fest: 1. das Wissen ist lehrbar, es steht aber nicht fest, 2. daß die Gerechtigkeit ein Wissen ist. Doch ist dies ebenso wahrscheinlich, oder wahrscheinlicher, als daß die Gerechtigkeit lehrbar ist. Wir schließen also, 3. daß die Gerechtigkeit lehrbar sei, durch den nicht sicher feststehenden zweiten Satz hindurch. Apagoge ist also ein Schluß aus sicherem Obersatz und einem Untersatz, der zwar nicht gewiß ist, aber mindestens ebenso gewiß oder gewisser ist als die Folgerung. Die Apagoge hat natürlich nichts völlig Überzeugendes an sich, sondern gehört zu den rhetorischen Schlüssen; ohne strenger Beweis zu sein, erweckt sie doch Glauben. – Apagogischer Beweis (demonstratio apagogica, apagôgê eis adynaton, deductio ad absurdum) heißt s. a. indirekter Beweis, also ein Schlußverfahren, in welchem man die Wahrheit einer Behauptung aus der Falschheit ihres Gegenteils beweist. Der bloße apagogische Beweis ist aber nur ein Beweis von beschränktem Werte, ganz abgesehen von den Sophistereien, die dabei oft unterlaufen. Er führt zwar zur Gewißheit, aber nicht zur Einsicht in die Gründe.

      Apathie (gr. apatheia = Unempfindlichkeit) heißt allgemein die Gefühllosigkeit; diese kann entweder eine Folge von Stumpfsinn oder von Ekstase, Kummer, Überanstrengung und dgl. sein. Im engeren Sinne bedeutet Apathie die Freiheit von Leidenschaften und Affekten, welche sowohl von den Stoikern wie von Spinoza als ethisches Ziel gefordert worden ist. Von Spinoza (1632-1677) wird sie als die Folge unserer Einsicht in den Kausalzusammenhang angesehen. Die Stoiker übertrieben die Forderung der Apathie dahin, daß sie auch die edlen Affekte (s. d.) verwarfen. Der Weise ist, wie die Stoiker lehren, affektlos. Auch der Skeptiker Pyrrhon (zur Zeit Alexanders) empfahl die Apathie. Maximus v. Tyrus (unter den Antoninen) dagegen stellte den Gegensatz von Empathischem und Apathischem auf (empathes – apathes); jenes kommt den Dämonen, Menschen und Tieren zu, dieses den Pflanzen und Steinen. – Im weiteren Sinne kann auch die wahrhaft wissenschaftliche Betrachtung Apathie heißen, weil sie ohne Vorurteil und Neigung (sine ira et studio) nach der Wahrheit forscht.

      Apeiron (gr. apeiron = das Unermeßliche), das Unendliche, Unbegrenzte, nannte Anaximandros aus Milet (geb. 611 v. Chr.) den Grundstoff, aus dem alles andere entstanden sei. Er dachte sich diesen quantitativ unendlich und der Qualität nach wahrscheinlich nicht als Mischung verschiedener Stoffe, sondern als eigenschaftslosen Stoff, aus dem die jetzige Welt durch Ausscheiden der Gegensätze entstanden ist.

      Aphaeresis (gr. aphairesis) heißt Abstraktion (so zuerst bei Aristoteles). Vgl. Abstraktion.

      Aphasie (gr. aphasia), Sprachlosigkeit, ist nach dem jetzigen Sprachgebrauche eine vorübergehende oder dauernde Erkrankung unseres inneren Sprachorgans. Der Kranke vermag sich nicht auf die Worte zu besinnen, welche er brauchen möchte, oder kann nicht artikulierte Laute hervorzubringen. Die Intelligenz ist dabei unversehrt. Die Aphasie entsteht häufig aus einer Entzündung der inneren Herzwand, wodurch sich ein Faserstoffgerinnsel bildet, welches, durch den Blutstrom in die Gehirnarterie verschleppt, dort einen Bluterguß, resp. die Zertrümmerung des Sprachorgans veranlaßt. – Die Skeptiker verstanden unter Aphasie die Enthaltung von bestimmten Aussagen und Urteilen, welche aus der Einsicht in die Unmöglichkeit entspringt, etwas Bestimmtes zu behaupten. Vgl. Akatalepsie, Aoristie, Epoché. Kußmaul, Die Störungen der Sprache 1885.

      Apirie (gr. apeiria) heißt entweder die Unerfahrenheit (von apeiros unerfahren) oder die Unbegrenztheit (von apeiros unbegrenzt). Jene hat zum Gegensatz die Empirie, diese die Bestimmtheit.

      apodiktisch (v. gr. apodeiknymi = beweisen) heißt ein Urteil, mit dem sich das Bewußtsein seiner Unumstößlichkeit verbindet. Kant (1724-1804) teilt die Urteile der Modalität nach in problematische (S kann P sein), assertorische (S ist P) und apodiktische (S muß P sein) ein. Das apodiktische Urteil drückt eine logische Notwendigkeit aus (Kr. d. r. V. S. 70-76). So nennt Kant den Satz, daß der Raum drei Dimensionen habe, apodiktisch, weil er eine Vernunftnotwendigkeit und nicht empirisch erschlossen sei, – was freilich unrichtig ist, da die geometrischen Sätze nicht apodiktisch sind, sondern zuletzt der Empirie entspringen. Der Ausdruck »apodiktischer Beweis« ist übrigens ein Pleonasmus; denn Beweis (s. d.) heißt apódeixis. Apodiktik (z. B. v. Bouterwek) könnte die Erkenntnistheorie heißen, insofern sie darauf ausgeht, ein sicheres Wissen zu begründen.

      Aporem (gr. aporêma) heißt Schwierigkeit. Bei Aristoteles heißt so ein dialektischer Widerspruchsschluß, der die entgegengesetzten Möglichkeiten in Betracht zieht.

      Aporetiker (gr. aporêtikos = zum Zweifel geneigt), Skeptiker, Ephektiker, Zetetiker nannten sich die Schüler des Pyrrhon von Elis nach ihrer Lehre (Diog. Laert. IX, § 69). Man kann alle Philosophen in Dogmatiker und Aporetiker teilen. Jene halten die Welt für begreiflich, diese für rätselhaft (Diog. Laert. Prooem. 16). Vgl. Raoul Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie, Leipzig 1904. –

      Aporie (gr. aporia) heißt Zweifel, Ungewißheit, Verlegenheit, Schwierigkeit.

      a posteriori, a priori (lat.) heißt eigtl. von dem späteren und von dem früheren. Die beiden Begriffe spielen in der Frage, ob unser Wissen die Erfahrung oder das Denken zur Quelle hat, also in dem Streite des Empirismus und Rationalismus eine wichtige Rolle. Schon Aristoteles (384-322) unterschied das von Natur Spätere und Frühere; jenes liefert die Erkenntnis aus den Wirkungen, dieses diejenige aus den Uraachen. Die Scholastiker verstehen daher ebenfalls mit Aristoteles unter a posteriori die Erkenntnis aus den Wirkungen, unter a priori die aus den Ursachen. Im 18. Jhrdt. versteht man vor Kant unter a priori die angeborene rein begriffliche, unter a posteriori die aus der Erfahrung geschöpfte, im Leben erworbene Erkenntnis, (so Leibniz, Hume). Kant (1724-1804) vertiefte den Begriff, er bezeichnete die empirische Erkenntnis, die ihre Quelle in der Erfahrung hat, und nicht allgemein notwendig ist, als a posteriori; a priori aber nannte er die davon unabhängige reine Vernunfterkenntnis, welcher Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommen. Er versuchte nachzuweisen, daß nicht nur die gesamte Form unserer Erkenntnis, sondern auch das formale Sittengesetz, nach dem sich unsere Handlungen richten, und das formale Geschmacksprinzip a priori seien, während der Inhalt unseres Wissens, Handelns und Empfindens a posteriori sei. Bei Kant hat also das a priori und a posteriori nichts mehr mit einem zeitlichen Vorausgehen und zeitlichen Folgen, nichts mit dem Gegensatz des Angeborenen und Erworbenen zu tun. Kant verwirft vielmehr den Nativismus (s. d.), die Behauptung, daß es angeborene Begriffe gebe; er vertritt die Idee, daß sich die Begriffe a priori bei Gelegenheit der Erfahrung entwickeln. Alle unsere Erkenntnis fängt nach ihm mit der Erfahrung an. (Vgl. angeboren.) Ähnlich sagt J. G. Fichte (1762-1814), das, was lediglich durch das Wissen und nicht außer ihm durch das Ding gesetzt werde, heiße a priori. Vgl. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart. Leipzig 1904. S. 84 ff.

      Apperzeption (nlat. u. franz. von ad und perceptio = das Innewerden) heißt im allgemeinen das aktive Denken im Gegensatz zu der passiven Perzeption (s. d.), die spontane und bewußte Denktätigkeit im Gegensatz zu der rezeptiven sinnlichen Wahrnehmung. Im speziellen hat der