Friedrich Kirchner

Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe


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gelten.

      Anthropotheologie (aus dem Griech. geb.) heißt die Erkenntnis Gottes aus dem geistig – sittlichen Wesen des Menschen.

      Antíchthon (gr. antichthôn), die Gegenerde, ist nach der Lehre der Pythagoreer ein Weltkörper, der sich gegenüber der Erde um das ruhende Zentralfeuer (Dios phylakê) bewegt. Die Pythagoreer ersannen ihn, um die heilige Zehnzahl der himmlischen Körper vollzumachen. (Aristoteles de caelo II, 13 p. 293 a 23; Met. I, 5 p. 986 a 10.)

      Anticipation (lat. anticipatio) heißt Vorwegnahme. Zuerst findet sich dieser Begriff bei Epikuros (341-270), welcher unter »Prolepsis« (= anticipatio) eine von einer Sache durch wiederholte Wahrnehmung, Erinnerung und Vergleichung gebildete Allgemeinvorstellung verstand. Bei den Stoikern hieß »Prolepsis« der unmittelbar aus der Wahrnehmung gebildete Begriff. Cicero (de nat. deor. I, 16, 43) übersetzt den Begriff des Epikur »Prolepsis« durch anticipatio (id est anteceptam animo rei quandam informationem, sine qua nec intellegi quidquam, nec quaeri, nec disputari potest). Kant (1724 bis 1804) versteht unter Anticipationen der Wahrnehmung das, was sich an jeder Empfindung als solcher a priori erkennen läßt. Der Grundsatz, welcher alles das ausspricht, was sich an jeder Empfindung anticipieren läßt, heißt bei Kant Kr. d. r. V. S. 166 so: »In allen Erscheinungen hat die Empfindung und das Reale, welches ihr an dem Gegenstande entspricht (realitas phaenomenon), eine intensive Größe, d. h. einen Grad«. Siehe Prolepse.

      Antilogie (gr. antilogia), Widerspruch, hieß bei den alten Skeptikern der Widerstreit der Gründe für und wider eine Meinung.

      Antilogismus (aus dem Gr. von antilogos = widersprechend) heißt allgemein jeder Widersinn oder, wo das Wort die besondere Bezeichnung für ein philosophisches System ist, die Feindschaft gegen die Vernunft.

      Antimoralismus (aus dem Lat.), Gegensatz zur Moral, heißt entweder ein System, welches die Moral in seinen Folgerungen zerstört, oder die praktische Unsittlichkeit. So ist z. B. der Fatalismus, Materialismus und F. Nietzsches Herrenmoral ein systematischer Antimoralismus, der Epikureismus dagegen oft ein praktischer Antimoralismus. (Vgl. F. Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse« 1886. Epikureismus.)

      Antinomie (antinomia), eig. Widerstreit zweier Gesetze, heißt nach Kant derjenige Widerstreit der reinen Vernunft, in den sich diese bei ihrem Bestreben, sich die unbedingte Einheit der objektiven Bedingungen in der Erscheinung zu verschaffen, d. h. bei den kosmologischen Grundfragen, verwickelt. Hierbei entsteht eine natürliche Antithetik, sobald die Vernunft nach dem Grundsatze: »Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben, wodurch jenes allein möglich war«, absolute Totalität fordert und dadurch die Kategorien zur Idee erweitert. Diese Antithetik stellt Kant in vier Sätzepaaren auf, deren ersten er immer Thesis, deren zweiten er Antithesis nennt: 1. a) Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raume nach auch in Grenzen eingeschlossen; b) Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich. 2. a) Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist; b) Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben. 3. a) Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig; b) Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur. 4. a) Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Teil oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist; b) Es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache. (Kr. d. r. V. Transscendentale Dialektik, II. Buch, Zweites Hauptstück S. 405-571). Thesis und Antithesis lassen sich gleichmäßig indirekt durch Widerlegung des Gegensatzes beweisen, und die Vernunft scheint hier in einer verzweifelten Lage zu sein. Kant findet in seinem kritischen Idealismus durch die Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich die Lösung. Die beiden ersten Sätzepaare (die mathematischen Antinomien) sind sowohl in Thesis wie in Antithesis falsch, da beide von der falschen Voraussetzung ausgehen, daß das Weltganze gegeben sei, während es uns nur aufgegeben, eine Idee ist. Die beiden letzten Sätzepaare (die dynamischen Antinomien) sind sowohl in Thesis als in Antithesis zulässig, wenn die Thesis auf Dinge an sich, die Antithesis auf Erscheinungen angewandt wird. Durch die Rettung der Thesis gewinnt Kant den Boden für seine praktische Philosophie, in der er sich auf einen idealistischen Standpunkt stellt. – Neuerdings hat geistreich die verschiedenen Ansichten über das Wesen der Materie Julius Schultz zu Antinomien zusammengestellt (Jul. Schultz, die Bilder von der Materie, Göttingen 1905.)

      Antipathie (gr. antipatheia), der Gegensatz von Sympathie, ist die unklare Abneigung gegen Personen oder Sachen, welche aus physiologischen Ursachen oder psychologischen Gründen entspringt. Jene beruht auf der eigentümlichen Struktur unserer Sinne (daher die Abneigung gegen gewisse Gerüche u. dergl. ), diese auf Ideenverbindungen. Durch Erziehung und Ausbildung des Charakters kommt der Mensch dazu, die Antipathien zu beherrschen.

      Antiphlogistik (aus dem Gr. geb. von anti = gegen und phlox = Flamme) heißt die gegen die Stahlsche Brennstofflehre (Phlogistontheorie) 1777 aufgestellte Theorie Lavoisier's (1743-1794), daß die Verbrennung in der Verbindung eines Körpers mit Sauerstoff bestehe (sur la combustion en général).

      Antispiritualismus (aus dem Lat. geb.) ist soviel als Materialismus.

      Antistréphon (gr. antistrephôn = der Umkehrende, lat. reciprocus) heißt ein Argument, das gegen den, welcher es braucht, umgekehrt werden kann. Euathlos, der Schüler des Protagoras (5. Jahrh. v. Chr.), sollte diesem die Hälfte seines Honorars erst dann bezahlen, wenn er einen Prozeß gewonnen hätte. Er führte aber keinen Prozeß, bezahlte also nicht. Da sagte Protagoras: »Ich verklage dich; gewinnst du diesen Prozeß, so bezahlst du mich kraft unseres Vertrages; verlierst du ihn aber, so bezahlst du mich kraft des richterlichen Ausspruchs.« Euathlos aber gebrauchte den Antistrephon und sagte: »Keineswegs bezahle ich; denn wenn ich den Prozeß gewinne, so bezahle ich dich nicht kraft des richterlichen Ausspruchs, verliere ich ihn, so bezahle ich dich nicht gemäß unserem Vertrage.« Der Schiedsspruch der Richter lautete auf Vertagung (Gellius, noct. Att. V, 10).

      Antithetik (gr.) ist nach Kant (1724-1804) der Widerstreit zweier dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse, ohne daß man der einen Recht geben mag, z. B. zwischen den beiden Sätzen: »Es ist ein Gott«. – »Es ist kein Gott«. – Transscendentale Antithetik nennt Kant die Untersuchung über die Antinomien der reinen Vernunft. (Siehe unter Antinomie.)

      Anziehung (Attraktion) heißt die Kraft, welche sich in dem Bestreben der Körper, sich einander zu nähern äußert, oder richtiger sich in der Tatsache, daß sie sich nähern, dokumentiert. Sie zeigt sich zwar in allen Körpern, aber ist in ihrem Wesen bisher nicht erkannt, obwohl es viel Versuche zur Erklärung derselben, wie z. B. die Stromtheorie von Huyghens, die Stoßtheorie von Thomas Young, die Isenkrahesche Ätherhagelschirmtheorie etc. gibt. – Newton (1642-1718) hat 1665 das Gesetz entdeckt (ausgesprochen 1687 in den Naturalis philosophiae principia mathematica), daß sich alle Weltkörper im Verhältnis ihrer Masse und im umgekehrten Verhältnis des Quadrates ihrer Entfernung anziehen. Kant hat 1756 (Monadologia physica) die Materie auf die beiden Kräfte der Attraktion und Repulsion zurückgeführt und diese Reduktion auch in der Zeit seiner kritischen Philosophie aufrechterhalten (Metaphys. Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Riga 1786). Ostwald setzt an Stelle der Anziehungskraft den Begriff der Distanzenergie. (Ostwald, Vorles. üb. Naturphil. Leipzig 1905 S. 117.) Vgl. Abstoßung.

      Aoristie (gr. aoristia), Unentschiedenheit, ist ein Prinzip der älteren Skeptiker, z. B. des Pyrrhon v.