Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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wil­len hin­ge­rich­tet wur­den. Zur Zeit, da die­se Ge­schich­te be­ginnt, war er Vi­kar an der Ka­the­dra­le von Tours und hat­te die­se Stadt nur ein ein­zi­ges Mal ver­las­sen, um sei­nen Bru­der Cäsar zu be­su­chen. Der Lärm in Pa­ris be­täub­te aber den gu­ten Pries­ter der­ma­ßen, daß er sein Zim­mer nicht zu ver­las­sen wag­te, die Ka­brio­lets »Halb­chai­sen« nann­te und über al­les staun­te. Nach ei­ner Wo­che kehr­te er nach Tours zu­rück und ge­lob­te sich, nie­mals wie­der die Haupt­stadt auf­zu­su­chen. Der zwei­te Sohn des Wein­ar­bei­ters, Jo­hann Bi­rot­teau, er­lang­te, zum Mi­li­tär ein­ge­zo­gen, schnell den Rang ei­nes Haupt­manns wäh­rend der ers­ten Re­vo­lu­ti­ons­krie­ge. In der Schlacht an der Treb­bia ließ Mac­do­nald Frei­wil­li­ge vor­tre­ten, die eine Bat­te­rie stür­men soll­ten. Der Haupt­mann Jo­hann Bi­rot­teau ging mit sei­ner Kom­pa­gnie vor und fiel. Das Schick­sal der Bi­rot­te­aus woll­te of­fen­bar, daß sie über­all, wo sie Fuß faß­ten, ent­we­der von den Men­schen oder von den Er­eig­nis­sen zu­grun­de­ge­rich­tet wer­den soll­ten.

      Das letz­te Kind war der Held die­ser Er­zäh­lung. Als Cäsar mit vier­zehn Jah­ren le­sen, schrei­ben und rech­nen konn­te, ver­ließ er sei­ne Hei­mat und wan­der­te zu Fuß nach Pa­ris, mit ei­nem Louis­dor in der Ta­sche, um hier sein Glück zu ma­chen. Auf die Emp­feh­lung ei­nes Apo­the­kers in Tours fand er ein Un­ter­kom­men als Haus­die­ner bei den Ra­g­ons, Par­fü­me­rie­händ­lern. Cäsar be­saß da­mals ein Paar mit Ei­sen be­schla­ge­ne Schu­he, eine Hose, blaue St­rümp­fe, eine ge­blüm­te Wes­te, eine Bau­ern­ja­cke, drei gro­be Hem­den aus gu­ter Lein­wand und sei­nen Rei­se­stock. Wenn auch sein Haar wie das ei­nes Chor­kna­ben ge­schnit­ten war, so hat­te er doch die fes­ten Kno­chen ei­nes Tou­rai­ners; wenn er sich manch­mal der hei­mat­li­chen Faul­heit über­ließ, so wur­de das wie­der wett­ge­macht durch das Ver­lan­gen, sein Glück zu ma­chen; und wenn ihm auch Geist und Er­zie­hung fehl­ten, so be­saß er da­für einen ge­ra­den Sinn und ein von sei­ner Mut­ter er­erb­tes zar­tes Emp­fin­den, ei­nem We­sen, das, nach dem Tou­rai­ner Aus­druck, ein »gol­de­nes Herz« hat­te. Cäsar er­hielt Es­sen, sechs Fran­ken Lohn mo­nat­lich und eine schlech­te Ma­trat­ze auf dem Bo­den in der Nähe der Kö­chin; die Kom­mis, die ihn zum Ein­pa­cken und Gän­ge­be­sor­gen, zum Fe­gen des La­dens und der Stra­ße an­lern­ten, mach­ten sich über ihn lus­tig, wäh­rend sie ihn aus­bil­de­ten, wie das in den La­den­ge­schäf­ten üb­lich ist, wo die Ne­cke­rei ein Haupt­ele­ment der Lehr­lings­zeit bil­det; Herr und Frau Ra­gon kom­man­dier­ten ihn wie einen Hund. Nie­mand nahm Rück­sicht auf die Er­mü­dung des Lehr­lings, wie schau­der­haft ihn auch abends die vom Pflas­ter­tre­ten ge­quetsch­ten Füße und die wie zer­bro­che­nen Schul­tern schmerz­ten. Die­se rau­he Leh­re des »Je­der für sich«, das Evan­ge­li­um al­ler Groß­städ­te, ließ Cäsar das Le­ben in Pa­ris sehr hart fin­den. Am Abend wein­te er, wenn er an die Tou­rai­ne dach­te, wo der Bau­er in Ruhe ar­bei­tet, wo der Mau­rer den Stein erst zwölf­mal her­um­dreht, be­vor er ihn ein­setzt, und wo die Faul­heit so ver­stän­dig mit der Ar­beit ver­wo­ben ist; aber er schlief ein, ohne Zeit zu ha­ben, ein Aus­rücken zu über­le­gen; am nächs­ten Mor­gen hat­te er schon wie­der Gän­ge zu be­sor­gen, und er tat sei­ne Pf­licht mit dem Ge­hor­sam ei­nes Wacht­hun­des. Wenn er sich wirk­lich ein­mal be­klag­te, so lä­chel­te der ers­te Kom­mis mit ver­gnüg­ter Mie­ne.

      »Ja, mein Jun­ge,« sag­te er, »es ist nicht al­les ro­sig in der ›Ro­sen­kö­ni­gin‹, und hier flie­gen ei­nem nicht die Tau­ben ge­bra­ten ins Maul; man muß erst hin­ter ih­nen her­lau­fen, dann sie pa­cken und schließ­lich ver­ste­hen, sie sich zu­rechtzu­ma­chen.« Die Kö­chin, eine di­cke Pi­kar­din, nahm die bes­ten Stücke für sich und rich­te­te an Cäsar nur das Wort, um sich über die Ra­g­ons zu be­kla­gen, die sich nicht be­steh­len lie­ßen. Ge­gen Ende des ers­ten Mo­nats muß­te das Mäd­chen an ei­nem Sonn­tag das Haus be­wa­chen und be­gann eine Un­ter­hal­tung mit Cäsar. Die sonn­täg­lich ge­wa­sche­ne Ur­su­la er­schi­en dem ar­men Lauf­bur­schen, der ohne die­sen glück­li­chen Zu­fall an der ers­ten ver­bor­ge­nen Klip­pe sei­ner Lauf­bahn ge­schei­tert wäre, rei­zend. Wie alle schutz­lo­sen We­sen ver­lieb­te er sich in das ers­te Weib, das ihm einen freund­li­chen Blick zu­warf. Die Kö­chin nahm Cäsar un­ter ih­ren Schutz und dar­aus ent­stand ein heim­li­ches Lie­bes­ver­hält­nis, über das die Kom­mis un­barm­her­zig spot­te­ten. Zwei Jah­re spä­ter ver­ließ die Kö­chin Cäsar zu sei­nem größ­ten Glück we­gen ei­nes jun­gen Drücke­ber­gers aus ih­rer Hei­mat, der sich in Pa­ris ver­bor­gen hielt, ei­nes zwan­zig­jäh­ri­gen Pi­kar­den, der ei­ni­ge Mor­gen Land be­saß und sich von Ur­su­la hei­ra­ten ließ.

      Zwei Jah­re lang hat­te die Kö­chin ih­ren klei­nen Cäsar gut er­nährt, hat­te ihn in ver­schie­de­ne Mys­te­ri­en des Pa­ri­ser Le­bens ein­ge­weiht, das sie ihn in sei­ner Tie­fe hat­te ken­nen­ler­nen las­sen und wo­bei sie ihm aus Ei­fer­sucht einen star­ken Ab­scheu ge­gen die schlech­ten Orte, de­ren Ge­fah­ren ihr nicht un­be­kannt zu sein schie­nen, ein­ge­flö­ßt hat­te. Im Jah­re 1792 hat­ten sich die Füße des von ihr ver­ra­te­nen Cäsars an das Pflas­ter, sei­ne Schul­tern an die Kis­ten und sein Geist an das, was er die Pa­ri­ser »Flun­ke­rei­en« nann­te, ge­wöhnt. Er war da­her, nach­dem Ur­su­la ihn ver­las­sen hat­te, schnell ge­trös­tet, zu­mal sie in kei­ner Wei­se sei­nem an­ge­bo­re­nen Ge­fühl für zar­te Emp­fin­dung ent­spro­chen hat­te. Ver­dor­ben und mür­risch, schein­hei­lig und spitz­bü­bisch, egois­tisch und trunk­süch­tig be­lei­dig­te sie das rei­ne Emp­fin­den Bi­rot­te­aus, ohne daß sie ihm ir­gend­ei­ne güns­ti­ge Aus­sicht bot. Der arme Jun­ge sah sich häu­fig zu sei­nem Schmer­ze durch die für nai­ve See­len am fes­tes­ten ge­schmie­de­ten Fes­seln an ein Ge­schöpf ge­bun­den, das ihm Wi­der­wil­len ein­flö­ßte. Als er sich frei fühl­te, war er groß ge­wor­den und hat­te sein sech­zehn­tes Jahr er­reicht. Ur­su­la und die Ne­cke­rei­en der Kom­mis hat­ten sei­nen Geist ge­weckt und ihn an­ge­regt, in das Han­dels­we­sen ein­zu­drin­gen, wo­bei sei­ne In­tel­li­genz sich hin­ter sei­ner Ein­fach­heit ver­bor­gen hielt; er be­ob­ach­te­te die Kun­den, ließ sich, wenn nichts zu tun war, die Wa­ren er­klä­ren, de­ren Ver­schie­den­hei­ten und An­ord­nung er sich merk­te; und bald kann­te er die ein­zel­nen Ar­ti­kel, ih­ren Preis und ihr Wa­ren­zei­chen bes­ser, als das sonst bei Neu­lin­gen der Fall ist; Herr und Frau Ra­gon fin­gen nun an, ihn an­der­wei­tig zu be­schäf­ti­gen.

      Am Tage, da die furcht­ba­re Aus­he­bung des Jah­res II das Haus bei dem Bür­ger Ra­gon leer mach­te, be­nutz­te Cäsar Bi­rot­teau, der zum zwei­ten Kom­mis auf­ge­stie­gen war, die Ge­le­gen­heit, um fünf­zig Fran­ken Ge­halt mo­nat­lich zu er­rei­chen, und setz­te sich mit un­aus­sprech­li­cher Freu­de mit Ra­g­ons zu Tisch. Der zwei­te Kom­mis der Ro­sen­kö­ni­gin, der nun sechs­hun­dert Fran­ken hat­te, er­hielt ein Zim­mer, wo er in den seit lan­gem er­sehn­ten Mö­beln die klei­nen An­den­ken, die er sich ge­sam­melt hat­te, un­ter­brin­gen konn­te. An den Fei­er­ta­gen der De­ka­de klei­de­te er sich wie die jun­gen Leu­te die­ser Zeit, de­nen die Mode vor­schrieb, rohe Ma­nie­ren an­zu­neh­men, und der freund­li­che, be­schei­de­ne Bau­er ver­stand es, sich wie ih­res­glei­chen zu be­neh­men, so daß er die Gren­zen, die zu an­dern Zei­ten die Dienst­bar­keit zwi­schen der Bour­geoi­sie und ihm ge­zo­gen hät­te, über­schritt. Ge­gen das Ende die­ses Jah­res wur­de er sei­ner Ehr­lich­keit hal­ber an die Kas­se ge­setzt. Die statt­li­che Bür­ge­rin Ra­gon hielt die Wä­sche des Kom­mis in­stand