Elisabeth Elliot

Im Schatten des Allmächtigen


Скачать книгу

etwas Besonderes für mich getan hätte, kann ich mich nicht erinnern, außer dass er mich abends immer lange wach hielt durch seine Unterhaltung, wenn die anderen schon längst im Bett lagen. Wir redeten über die verschiedensten Themen – über seinen Standpunkt in der Frage des Kriegsdienstes (als meine Mutter ihn harmlos gefragt hatte, ob er schon gedient habe, hatte er mit solcher Heftigkeit erwidert: »Nein, Ma’am«, dass sie ganz verblüfft gewesen war), über neutestamentliche Grundsätze der Gemeindeführung, über Frauen, Dichtung und viele andere Dinge, wobei er Ansichten vertrat, die ich ungewöhnlich fand. Mir gefielen diese langen Diskussionen – teilweise machten sie mir deshalb Freude, weil ich in so vielen Dingen damals anderer Ansicht war als er. Wie auch immer, ich fand, Jim Elliot sei eine ausgesprochene »Persönlichkeit«, und er gefiel mir.

      Als wir wieder in Wheaton waren, fiel Jim auf, dass ich meine Thukydides-Aufgaben immer an einem bestimmten Tisch im Arbeitssaal machte. Von da an setzte er sich ziemlich regelmäßig zu mir. Es gab Momente, wo ich das dunkle Gefühl hatte, den größeren Teil der Arbeit täte ich, aber der Gedanke, dass ihn andere Motive als der reine Nutzen antreiben könnten, kam mir in keiner Weise. Wir fanden, dass es eine wirksame Methode war, rasch ganze Seiten griechischer Texte durchzuarbeiten.

      Als er mir Monate später sagte, sein Interesse für mich habe vor den Weihnachtsferien begonnen, war ich überrascht. Ich erfuhr, dass seine persönlichen Gefühle im Zaum gehalten worden waren durch einen Grundsatz, von dem er einmal seinen Eltern schrieb:

      »Niemand weist die jungen Leute an, dass sie dem Beispiel Adams folgen sollen. Adam wartete, bis Gott sah, was ihm fehlte. Darauf ließ er Adam in Schlaf sinken, bereitete ihm eine Gefährtin und führte sie ihm zu. Wir brauchen mehr von diesem ›Schlafen‹ in Gottes Willen. Denn dann können wir entgegennehmen, was Er uns zuführt, und zwar zu der von Ihm bestimmten Zeit, wenn überhaupt. Stattdessen suchen wir krampfhaft nach einem Partner, wie gierige Bluthunde, und ziehen jeden, den wir sehen, in Erwägung, bis unser ganzes Denken so angefüllt ist mit der sexuellen Frage, dass wir von nichts anderem mehr reden können, wenn wir unter uns sind. Natürlich kann ein junger Mann die Frauen nicht ignorieren, aber er kann sie so betrachten, wie es sich gehört – als Schwestern, nicht als Boxkampfpartner!«

      Wie es oft der Fall ist, fand Jim, obwohl er mehr für sein Studium zu arbeiten hatte als je zuvor, dass die stille Zeit mit der Bibel noch wichtiger und wesentlicher war. Er begann, sich morgens vor dem Frühstück eine Stunde mit dem Alten Testament zu befassen, mittags einige Minuten mit Psalmen und an den Abenden mit dem Neuen Testament. Am 18. Januar 1948 fing er an, das, was er dabei lernte, in ein Heft zu notieren.

      »Was auf diesen Blättern steht, werden eines Tages, vermute ich, auch andere lesen. Deshalb kann ich nicht hoffen, dass ich bei dem, was ich aufzeichne, völlig ehrlich sein werde, denn dieses heuchlerische Herz will immer eine glänzende Fassade zeigen und wagt nicht hinzuschreiben, was sich in seinen Abgrundtiefen tatsächlich verbirgt. Dennoch bitte ich Dich, Herr, dass Du diese Aufzeichnungen so wahrheitsgetreu werden lässt wie möglich, dass ich mein Herz erkenne und imstande bin, überzeugt zu beten im Hinblick auf meine grobe, wenn auch häufig unerkannte Unbeständigkeit. Ich bitte darum, weil mir bewusst geworden ist, dass meine stille Zeit sehr oft nicht so ist, wie sie sein sollte. Diese Niederschriften sollen entspringen aus frischen, von Gott bei der täglichen Betrachtung Seines Wortes eingegebenen Gedanken.

      1. Mose 23 – Abraham nennt sich Fremdling und Einwohner in einem Land, von dem er glaubte und vertraute, dass Gott es ihm zu eigen geben werde. Hier zeigte er zum ersten Mal eine wirkliche Neigung, sich auf Erden ein Heim zu schaffen – und wie klein ist dieses Heim –, nur ein Feld, ein paar Bäume und eine Höhle, in der er seine Toten bestatten kann. Herr, zeige mir, dass ich ein Fremdling sein muss, unbekümmert um irdische Dinge und ohne Bindung an sie – wie Abraham, der ›die Stadt erwartete, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist‹. Es geschah in der Zeit, als Abraham unter den Hethitern als besitzloser Fremdling lebte, dass diese ihn einen ›Fürsten Gottes‹ nannten. Abraham versuchte nicht wie Lot, ein Menschenfürst zu werden, und alle erkannten, dass sein Rang und dessen Erblichkeit (Kennzeichen des Fürsten) nicht von Menschen kamen, sondern von Gott. Ach, dass man Israel genannt würde, Fürst und Streiter Gottes; nicht mehr Jakob mit dem Weltsinn!

      Hilf mir, Herr, nicht zu klagen und nicht den Dingen nachzuweinen, die mir einmal wertvoll waren, bei denen Du mich aber lehrst, dass sie nichts anderes sind als Tote (seien es Wünsche, Vergnügungen oder was immer meinem Herzen jetzt noch wert und teuer sein mag), sondern gib mir die Bereitschaft, sie aus meinem Blickfeld zu entfernen (Vers 4). Grabstätten sind kostspielig, aber auch ich möchte eine Höhle Machpela besitzen, wo ich Leichname (tote Dinge in meinem Leben) beiseitelegen kann.«

      Solche Kommentare zu seinen täglichen Lesungen füllten viele Seiten seines Heftes; er nannte diese Seiten »Museen von gepressten Blumen, mit Ihm gesammelt dort, wo Er mich ›auf Lilienauen weiden‹ lässt.«

      Im Laufe dieses Jahres ließ Jim von der bisherigen Gewohnheit ab, in seine Bibel Anmerkungen zu schreiben oder Verse zu unterstreichen. Er kaufte sich eine neue Übersetzung, und nach einem Jahr war sie zwar stark zerlesen und von vorn bis hinten voller Eselsohren, aber ohne angestrichene Stellen. Dieses Verfahren, fand er, half ihm, ständig nach neuen Wahrheiten zu suchen, und es ermöglichte, dass die besonderen Worte, die er brauchte, nicht von einem Rotstift, sondern vom Geiste Gottes unterstrichen wurden.

      Jims Bestreben, etwas »Neues« aus der Schrift zu schöpfen, war jedoch nicht immer von Erfolg. Eines Morgens, nicht lange nachdem er das Heft mit den Aufzeichnungen begonnen hatte, schrieb er:

      »Gestern hatte ich reichlich Zeit zum Bibelstudium, ich las das Kapitel gewissenhaft und suchte ernsthaft nach Wahrheit, die neu wäre, aber ich muss sagen, dass ich keine fand. Vielleicht suchte ich zu krampfhaft. Vielleicht habe ich dem Geist entgegengearbeitet und ihn durch meinen Eifer fortgescheucht. Lehre mich zu hören, Herr; gib, dass ich nicht versuche, die Schrift nach Wahrheit auszupressen, die Du mir noch nicht erschließen willst. Meine stille Zeit ist noch nicht so, wie ich sie gerne möchte.«

      Wenn er den Text gelesen, überdacht und schriftlich festgehalten hatte, wandte er sich zum Gebet. Er hatte Listen von Menschen, für die er betete, für jeden Tag der Woche eine Liste, und wenn die Zeit des Alleinseins in seinem Zimmer zu knapp war, betete er auf dem Weg zum Frühstücksraum oder mittags, wenn er im Speisesaal an der Essensausgabe anstand. Freie Augenblicke, die sich im Lauf des Tages ergaben, wurden genutzt, um für diese Namen zu beten oder zum Auswendiglernen von Bibelversen, die er, auf Kärtchen geschrieben, in der Tasche trug. Diese Kärtchen behielt er, bis sie ganz zerfetzt waren, und manchmal brachten sie ihm den Vorwurf ein, er sei ein Eigenbrötler, weil es nämlich Zeiten gab, wo die Kärtchen oder das Notizbuch mit den Gebetslisten den Vorrang vor dem Plaudern mit den anderen hatten.

      Beim Psalmenlesen tat er sich manchmal mit einem anderen zusammen.

      »Heute Mittag viel Freude beim Lesen von Psalm 119 mit Dave und gemeinsamem Gebet«, schrieb er. »Wie sehr hat mich Gott in die Liebe zu ihnen geführt – Bob, Bill und jetzt Dave. Was für wunderbare Zeiten werden wir verbringen, hier und in der anderen Welt bei Ihm, wo alle Angst und aller Schrecken ausgelöscht sein werden.«

      Es war Mark Aurel, der sagte: »Des Menschen Gedanken färben seine Seele.« Das Bleiben in den Worten Christi färbte Jims Seele, und ihre Färbung blieb den Mitstudenten nicht verborgen.

      »Sein Lebenswandel gab mir einen starken Anstoß«, schrieb sein Zimmerkamerad. »Ich denke oft daran zurück, wie viel Zeit er im Gebet verbrachte, und wenn ich daran denke, bekomme ich Schuldgefühle, denn er lebte in viel engerer Gemeinschaft mit dem Herrn als sein Zimmerkamerad.«

      Denen, die an die althergebrachten religiösen Begriffe gewöhnt waren, schienen Jims Ideen manchmal erschreckend. Oft, wenn es im Speisesaal zu privaten Diskussionen kam, sagte einer: »Wie bist du bloß auf so eine Idee gekommen, Elliot?« Die Antwort findet sich in seinem Heft:

      »In 2. Timotheus 2,9 heißt es: ›Aber das Wort Gottes ist nicht gebunden.‹ Die Theologie dagegen – passt auf, dass ihr das Wort nicht bindet und in Ketten legt, bloß damit es auch hineinpasst in eure festgelegten Glaubenssätze, Dogmen und aufgebauten philosophischen Systeme! Gottes Wort ist nicht gebunden!