Lin Rina

Vom Wind geküsst


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hob demonstrativ die Augenbrauen.

      »Kannst du nicht«, zischte er, trat aber dennoch vom Fenster zurück.

      Ich musste keine Gedanken lesen können, um zu wissen, was Marc dachte. Dafür kannte ich ihn schon zu lange und seine Mimik war viel zu leicht zu durchschauen.

      »Kann ich wohl«, behauptete ich weiterhin und wollte noch eine Stichelei nachsetzen, da sah Justus zu mir und zog meine Aufmerksamkeit sofort auf sich. Er nickte Richtung Tür.

      »Wir gehen«, teilte ich den anderen mit und scheuchte sie vom Fenster weg zum Ausgang.

      Bevor einer von uns jedoch nach der Klinke greifen konnte, wurde die Tür von außen geöffnet und ein Mann trat in den Raum. Blond, schlaksig, vielleicht Anfang zwanzig, in Justus’ Alter.

      Er hielt uns die Tür auf und schenkte mir ein auffallendes Lächeln. Eins, bei dem die Mundwinkel sich nur minimal bewegten und die Augen zu glänzen begannen. Sie waren so blau, dass es mir sofort auffiel und tief wie das Meer. Er neigte leicht den Kopf zur Begrüßung, als ich an ihm vorbeitrat, und eine vorwitzige Locke fiel ihm in die Stirn.

      Etwas in mir prickelte wie sich auflösender Schaum und ich sah rasch zu Boden. Hatte ich ihn etwa angestarrt?

      Mit einem schweren Gefühl in den Beinen eilte ich die Stufen hinunter auf die Gasse, ohne mich noch einmal umzusehen, und hinter mir fiel geräuschvoll die Tür ins Schloss.

      Justus und Marc ließen den Blick über den Marktplatz schweifen, auf dem das Gedränge nicht mehr ganz so groß war wie gerade eben noch, und ich schnappte die Worte Butterfass und Kräuterstände auf.

      Justus reckte den Hals und versuchte wohl herauszufinden, wo sie die Besorgungen für ihre Mutter erledigen konnten.

      Als hätte er es nötig, sich so zu strecken. Seine Körpergröße erlaubte es ihm, immer einen Blick über die Menge zu haben, und ich beneidete ihn darum. Er war den Wolken näher, wenn auch nur ein kleines Stück.

      Mei blickte immer noch mit gerunzelter Stirn zur Tür des Stadtrates. »Kanntest du ihn?«, fragte sie und riss mich damit aus meinen Gedanken.

      »Wen?«, gab ich zurück und zwang mich, die Augen von Justus abzuwenden.

      »Diesen Mann gerade.« Sie zeigte zur Tür. Ihre bunten Armbänder klimperten. »Er hat dich angesehen, als ob ihr euch kennen würdet. Er hat dir sogar nachgesehen.« Da hellte sich ihre Miene plötzlich auf. »Oder«, flüsterte sie geheimnisvoll und kam einen Schritt auf mich zu. Mir wurde mulmig zumute. »Oder er findet dich toll. Vielleicht hat er dich angesehen, eure Blicke trafen sich und die Liebe ist ihm unerwartet ins Herz gefahren.« Sie legte theatralisch eine Hand an die Stirn.

      O Mei. Widerwillig schüttelte ich den Kopf. Aber ich hatte eigentlich auch nichts anderes erwartet.

      »Ja klar doch«, gab ich ironisch zurück, nahm ihre Rechte und hoffte, dass sie nicht sah, wie meine Ohren langsam rot wurden. »Ich glaube, die Jungs wollen weiter«, versuchte ich abzulenken und tat, als wäre es mir gleichgültig.

      Als würde sich irgendein Wildfremder für mich interessieren. Das wäre doch absurd.

      Mei lachte nur, sprang zu ihren Brüdern und zog mich mit. »Habt ihr den Mann gesehen, der uns die Tür aufgehalten hat? Ich denke, er hat ein Auge auf Cate geworfen«, verkündete sie sogleich, strich sich kokett ein paar ihrer Zöpfe aus dem Gesicht und wackelte albern mit den Augenbrauen.

      »Im Ernst?«, sprang Marc sofort darauf an und grinste wölfisch.

      Mir war sofort klar, dass er vorhatte, mich mindestens die nächsten zwei Wochen damit aufzuziehen.

      Ich konnte nicht länger aufhalten, dass das Glühen von meinen Ohren in meine Wangen wanderte. Dabei lag mir an diesem Fremden nichts und an seinen möglichen oder auch eingebildeten Gefühlen schon gar nicht.

      »Redet keinen Stuss«, fuhr Justus die beiden unvermittelt an und sah sie mit einem Ausdruck an, der deutlich machte, dass er sie nicht für voll nahm. Doch das führte nur dazu, dass sie anfingen, unkon­trolliert zu kichern.

      Mein Kopf wurde immer heißer.

      Justus verzog genervt die Lippen, griff nach meiner Hand und zog mich zu sich. Vor Schreck ließ ich Mei los.

      »Achte nicht auf sie. Die haben nur nichts zu tun«, redete er mit ernstem Gesicht auf mich ein und neigte den Kopf näher zu mir. Sein Blick wurde noch eindringlicher.

      Alles in mir kribbelte. Seine Finger waren so unglaublich warm. Ich schluckte gegen meinen ausgedörrten Hals an. Halte deine Sinne beisammen, Cate!, sagte ich zu mir und versuchte mich zu konzentrieren.

      »Fühlst du dich stark genug, es mit der Menge aufzunehmen, oder soll ich mit dir zurückgehen? Marc und Mei können die Besorgungen auch allein machen«, fragte er und ich musste lächeln. Er machte sich Sorgen. Mal wieder.

      Schon immer hatte er sich als mein Beschützer gefühlt. Seit damals, als er den Deckel eines Wasserfasses geöffnet und darin ein kleines weinendes Mädchen entdeckt hatte, dessen Eltern gerade in einer Schlacht ums Leben gekommen waren. Er hatte mich gefunden, meine Hand genommen und manchmal, so wie jetzt, hatte ich das Gefühl, er hatte sie niemals losgelassen.

      »Es wird gehen«, versicherte ich ihm und konnte nur hoffen, dass das stimmte. Warm lagen seine Finger um meine.

      Justus nickte und der Ernst wich seiner üblichen Gelassenheit. Er richtete den Rücken wieder auf, trat aus der Gasse auf den Platz hinaus und hielt mich dicht bei sich.

      Die Menschen traten instinktiv zur Seite, als er durch die Menge schritt. Feuerleute hatten diese Wirkung, flößten anderen Respekt ein, auch wenn es ihnen vielleicht nicht bewusst war.

      Mei und Marc kamen hinter uns her. Sie scherzten immer noch über heimliche Verehrer und wie vielen armen Bauernsöhnen ich wohl schon das Herz gebrochen hatte.

      Als ich ein kleines Butterfass bei einem Stand am Rande des Platzes bezahlte und Marc es von der gebückten Marktfrau entgegennahm, bemerkte ich plötzlich, dass der Wind seit einiger Zeit verdächtig still war.

      Stumm rief ich ihn und erwartete, dass er an meinen Haaren ziehen oder mir über die Wange streichen würde. Doch nichts geschah.

      Ich rief ihn noch einmal und sah mich um, ob ich etwas entdecken konnte, was ihn aufhielt. Ein loses Tuch, das er bewegen wollte, oder ein Stück Wolle, das er über den Boden jagte. Aber ich fand nichts dergleichen.

      Meine Füße fühlten sich an wie am Boden festgenäht.

      Den Wind nicht mehr zu spüren, setzte ein zweites Mal an diesem Tag Panik in mir frei, die mir eiskalt im Nacken saß und mir den Brustkorb enger schnürte. Etwas stimmte nicht.

      Justus blickte zu mir, sah mir meine Unruhe wohl sofort an. Matt seufzte ich in mich hinein, denn ich machte ihm heute nur Ärger. Er verstärkte den Druck um meine Hand und öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, als ein lautes Rauschen erklang.

      Der Wind schwoll plötzlich an und fegte heftig über den Platz. Und da spürte ich ihn wieder, die Verbindung zwischen uns und die Leichtigkeit kehrte zu mir zurück, als mir die Haare aus dem Gesicht geweht wurden.

      Männer hielten ihre Hüte fest oder rannten ihnen hinterher, Frauen versuchten ihre Röcke zu halten und kreischten, als der Wind sie hochwirbelte. Eine Schar Mädchen stützte ihren Milchstand und Marc konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als eine Böe einem davon die Unterwäsche entblößte.

      Der Wind ebbte so schnell ab, wie er sich aufgebäumt hatte, und sammelte sich als laues Lüftchen in meinen Haaren. Er wirkte seltsam erschöpft.

      Ich fuhr mit den Fingern hindurch und streifte ihn dabei beruhigend. Was ist los?, fragte ich, bekam aber keine Antwort. Nur noch mehr Erschöpfung.

      Und dann begann er leise zu singen.

      »Was war das denn?«, zischte Justus und zog mich unauffällig vom Butterstand weg.

      »Keine Ahnung. Ich war das nicht«, entgegnete