Lin Rina

Vom Wind geküsst


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ich mich um und brauchte nur einen Augenblick, bis ich die Quelle fand. Das Lied kam durch das offene Fenster eines kleinen Ladens zu mir herübergeweht.

      Ich hielt die Luft an, als mich Emotionen übergossen wie ein Eimer kaltes Wasser. Die Melodie weckte etwas in mir. Bilder, Gerüche, verschüttete Erinnerungen. Eine Frau in einem langen grünen Kleid, der Duft von Vanille, eine goldene Kette, Salz in der Luft, blaue Muscheln und die starken Arme eines Vaters, der mich auf seine Schultern hob.

      Ich blinzelte. Diese Melodie kam mir so bekannt vor.

      »Hörst du das?«, fragte ich Justus und drückte ihm, ohne nachzudenken, den Beutel mit den Münzen in die Hand.

      »Cate?« Er sah mich verständnislos an, als ich seine Hand losließ und mich umwandte.

      »Dieses Lied. Ich kenne es. Kannst du es hören?«, wollte ich erneut wissen, wartete aber nicht auf eine Antwort.

      Die vertrauten Klänge zogen mich an. Ich ging ihnen entgegen, achtete nicht auf die Menschen, an denen ich mich vorbeischob, und betrat den winzigen Geschäftsraum ohne Tür.

      Der Wind kam unter meinen Haaren hervor, streifte sanft durch das halbdunkle Zimmer, das vollgestopft war mit Ramsch und Glitzer­zeug. In gleichmäßigen Bahnen begann er um einen Gegenstand zu kreisen, der vor einem der hinteren Fenster hing.

      Bedächtig ging ich darauf zu und betrachtete ihn. Es handelte sich um einen hölzernen Ring, an dem silberne Röhren unterschiedlicher Dicke baumelten. Immer wieder ließ der Wind sie gegen eine Kette blauer Muscheln stoßen, sodass die verschiedenen Töne zum Lied beitrugen, das der Wind weiter vor sich hin summte. Wie in Trance drehte er seine Runden um das klimpernde Gebilde.

      Ich streckte die Hand aus und berührte eine der blauen Muscheln. Es waren die gleichen, die ich gerade in meinen verschütteten Erinnerungen gesehen hatte. Sie schimmerten im Licht der Vormittagssonne, das durch die Fenster fiel, und erinnerten an das Meer und an Wellen und …

      »Ähm, kann ich behilflich sein?«, erkundigte sich eine Stimme von der Seite und ich fiel zurück in die Wirklichkeit.

      Erschrocken drehte ich meinen Kopf und sah auf einen Mann hinunter. Er war erstaunlich klein und hatte schütteres Haar, ein winziges Brillengestell auf der knubbeligen Nase und eine geschäftstüchtige Miene.

      Nicht weit von mir entfernt stand Justus in den Türrahmen gelehnt und beobachtete mich mit erstauntem Gesichtsausdruck.

      Ich war selbst überrascht. Normalerweise machte ich mir nichts aus Trödel und noch nie hatte ich aus eigenem Antrieb so einen Laden betreten.

      »Was ist das?«, fragte ich den Verkäufer und fuhr mit den Fingern durch die herunterhängenden Silberröhren, die dadurch aufgeregt klimperten. Der Wind löste sich widerwillig aus seiner Bahn und tanzte zu den Vögeln, die am Himmel kreisten, als wäre nichts gewesen.

      »Oh, das …« Der Mann rückte seine Brille zurecht. »Das ist ein Windspiel.«

      »Windspiel«, echote ich, als hätte ich nichts Besseres zu sagen, und sah wieder zu den Muscheln.

      »Ja. Diese Muscheln sind etwas Besonderes. Man findet sie nur an der Windküste im Süden.«

      Mir zog sich bei diesen Worten der Magen zusammen und mein Puls beschleunigte sich. Zögerlich berührte ich das schimmernde Blau und hörte das Meer in meinen Ohren rauschen.

      »Wie viel kostet es?«, erkundigte sich Justus, löste sich vom Türrahmen und schlenderte auf uns zu.

      Überrascht musste ich feststellen, dass er das erste Mal seit Wochen nicht zu den vorherrschenden Gedanken in meinem Kopf gehörte. Ich hatte sogar vergessen, dass er da war.

      »Ähm, mein Herr. Es ist mir wirklich peinlich, ähm.« Der kleine Mann spielte mit seinen dicken Fingern nervös an den schimmernden Knöpfen seines Hemdes. »Ähm, es ist, soweit mir bekannt ist, nicht verkäuflich.«

      Justus zog die Augenbrauen zu einer bedrohlichen Miene zusammen.

      Es war bei ihm bloß ein Ausdruck von Nachdenklichkeit, doch auf den Mann, der neben ihm wie ein Zwerg aussah, musste es angsteinflößend wirken.

      »Ich, ähm …«, stammelte dieser sofort los, strich sich fahrig das Hemd glatt und glitzernde Schweißperlen sammelten sich auf seiner hohen Stirn. »Ähm, man könnte natürlich darüber verhandeln. Es ist ein Sammlerstück. Ihr stammt nicht vor hier, nicht wahr?« Sein rechtes Bein zuckte.

      Der arme Kerl musste richtig mit der Angst kämpfen.

      Sachte legte ich Justus eine Hand auf den Arm, damit er davon abließ, den Armen in Grund und Boden zu starren.

      Er sah mich an und ich versuchte ihm ohne Worte mitzuteilen, dass er ein wenig sanfter vorgehen sollte.

      Seufzend wandte er sich wieder dem Verkäufer zu.

      »Wie viel soll es kosten?«, fragte er erneut und bemühte sich um einen freundlichen Ton.

      »Ähm … sagen wir mal, ähm … zwanzig Silberlinge?«, erwiderte dieser und zwinkerte unsicher. Der freundliche Ton hatte ihn wohl etwas mutiger werden lassen.

      Meine Augen wurden groß, als ich die Summe hörte.

      »Zwanzig Silberlinge?!«, fuhr Justus ihn grob an. »Das ist der Preis eines ganzen Kappa! Lebendig!«

      Der kleine Mann schrak zusammen und wäre vermutlich am liebsten geflohen. Sein Gesicht wurde noch blasser.

      Auch ich war zusammengezuckt.

      »Zehn, ähäm, zehn Silberlinge. Aber weiter runter kann ich nicht gehen.« Die Stimme des Verkäufers hatte einen jammernden Tonfall angenommen.

      Justus knirschte mit den Zähnen. »Acht«, sagte er bedrohlich und ich legte ihm wieder die Hand auf den Arm. Das war zu viel. Selbst acht Silberlinge waren noch überteuert.

      Der Händler zog ein Tuch aus der Hosentasche seiner weit geschnittenen Leinenhose und wischte sich damit den Schweiß vom Gesicht. »Neun«, gab er halblaut von sich und ich musste zugeben, dass ich seinen Mut bewunderte.

      Justus nickte. Weiter runter konnte er ihn kaum treiben, ohne dass der arme Kerl einen Nervenzusammenbruch erlitt. Er zog einen roten Beutel aus seiner Ledertasche und öffnete ihn.

      Überrascht sah ich ihn an. Mir war auch nicht bewusst gewesen, dass Justus so viel Geld hatte. Er holte neun silberne Münzen heraus und legte sie dem Händler in die zitternde Hand.

      Es war kaum zu glauben. Neun Silberlinge! Er hatte gerade neun Silberlinge für ein Windspiel bezahlt.

      »Nehmt es«, sagte der Mann und zog sich sichtlich erleichtert in die Schatten seines Ladens zurück.

      Ganz vorsichtig nahm ich es von dem Haken und betrachtete die metallenen Röhren, in die jemand buntes Glas eingearbeitet hatte, mit Ehrfurcht.

      Der Händler reichte mir ein Stück weiches Tuch, in das ich es einschlagen konnte. Ich bedankte mich mit einem Lächeln und verließ mit Justus den Laden.

      Ein paar Schritte weiter warteten Marc und Mei auf uns. Marc wedelte sich mit einem Bündel Koriander Luft zu.

      Justus ging auf sie zu, doch ich hielt ihn am Arm zurück.

      »Neun Silberlinge?«, fragte ich ihn skeptisch und zuckte unsicher mit den Schultern. »Ich glaube, ich habe nicht genug Geld, um es dir zurückzuzahlen.«

      Ein schiefes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Musst du auch nicht«, meinte er und ich schüttelte den Kopf.

      »Aber«, wollte ich gerade zu einer Erwiderung ausholen, als er die Hand ausstreckte und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Nur ganz leicht streiften seine Finger meine Stirn und schon spielte mein Herz verrückt.

      »Es ist ein Geschenk«, sagte er eindringlich, sah mir in die Augen.

      Mein Hals war ganz trocken, meine Wangen fühlten sich heiß an und ich nickte zaghaft.

      Er hatte mir ein Geschenk gemacht.