hätte Ihnen einen Vorwurf machen können«, sagte er.
»Sie werden dies nicht anzeigen?« fragte sie stockend.
»Dazu besteht keine Veranlassung. Ich bin gern bereit, Ihnen zu helfen, Fräulein Clement, oder soll ich jetzt Lorring sagen?«
Sie schüttelte den Kopf. »An Cindy kann ich mich gewöhnen, an Lorring nicht«, erwiderte sie. »Ist das nicht merkwürdig?«
»Zumindest beginnen beide Namen mit dem gleichen Buchstaben«, bemerkte er. »Informieren Sie mich, wie Sie sich entscheiden, Cindy?«
»Selbstverständlich.«
»Ich hoffe, daß sich eine gute Lösung findet«, sagte er und umschloß warm ihre kalte kleine Hand.
*
Von Unruhe und Ungeduld geplagt wartete Tim auf Cindys Anruf. Auch er konnte sich schnell auf diesen Namen einstellen. Er konnte auch der toten Anita Clement manchen Vorwurf nicht ersparen, so innig sie das Kind auch geliebt haben mochte. Ihn bewegten widersprüchliche Empfindungen, und zudem versetzte es ihn in Erregung, daß sein Vater so schnell nach München kommen wollte.
Dann wieder überwog die Sorge um Cindy. Er wartete nicht mehr auf einen Anruf. Er fuhr zu ihr. Und er traf mit ihr vor der Haustür zusammen, da sie gerade von Dr. Rückert kam.
Sie war so blaß und verschlossen, daß er erschrak. »Bitte, laß mir doch Zeit, Tim«, sagte sie leise. »Ich bin jetzt ein Mädchen mit zwei Namen.«
»Gut«, sagte er. »Für mich bist du jetzt Cindy, dabei werden wir bleiben, und bald wirst du Cindy Thornhill heißen, dann hast du einen dritten Namen, aber den wirst du behalten.«
»So einfach ist das nicht, Tim«, sagte sie leise. »Es muß noch sehr viel geklärt werden. Wenn Mama begraben ist, werde ich nach St. Moritz fahren.«
»Mit mir«, sagte er energisch. »Du sagst immer noch Mama?«
»Was soll ich sonst sagen? An eine andere Mutter kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht wirst du es bedauern, mir jemals begegnet zu sein, wenn ich alles über meine Herkunft herausgefunden habe.«
»Du sollst nicht so reden, Cindy«, sagte er leise. »Es tut mir weh. Morgen wird mein Vater kommen, und du wirst sehen, daß er dir beide Hände entgegenstreckt.«
»Du bist ein Optimist, Tim«, sagte sie ironisch. »Du kannst ihm doch nicht ein Mädchen mit einer unklaren Herkunft präsentieren.«
»Was kannst du dafür! Du bist so, wie ich dich liebe. Ich bitte dich inständig, nicht zu zerreden, was uns verbindet, Cindy.«
Heiße Tränen liefen ihr da über die Wangen. Er nahm sie in die Arme und küßte diese Tränen weg. »Es wird alles gut, mein Liebling«, sagte er beschwörend. »Mein Vater hat die besten Verbindungen zur Schweiz. Er wird uns helfen, alles schnellstens zu klären.«
Ob er morgen auch noch so denken wird, ging es Cindy durch den Sinn. Doch bei allen Zweifeln, die sie bewegten, empfand sie auch das Glück der Geborgenheit in seinen Armen.
*
Fee Norden hatte ein ewiglanges Telefongespräch mit Anne geführt, und nach diesem herrschte in ihr genauso Aufruhr wie in Anne. Hier wie dort auf der Insel gab es bereits die Gewißheit, daß Cindy Clarissas Tochter sein mußte.
Anne überlegte, wie man es Clarissa beibringen solle. Fee wartete voller Ungeduld auf ihren Mann, um mit ihm darüber zu sprechen.
Anne konnte bald mit ihrem Mann sprechen. Dr. Johannes Cornelius, sonst die Ruhe in Person, geriet diesmal aus der Fassung. Aber dann dachte er wieder ruhig über das Gehörte nach.
»Auf keinen Fall dürfen in Clarissa Hoffnungen geweckt werden, die noch nicht bewiesen sind. Nach all diesen spannungsvollen Jahren muß erst eine völlige Klärung erfolgen.« Er machte eine Gedankenpause. »Und dann sage mir mal, Anna, wer Euripides noch widerlegen mag, der da ja sagte: Dunkel sind die Wege, die das Schicksal geht.«
»Und manchmal führen sie doch ins Licht«, meinte Anne nachdenklich. »Hätte Clarissa doch nur früher mit mir darüber gesprochen!«
»Und was hättest du tun können?« fragte er.
»Ja, was hätte ich tun können«, flüsterte Anne. »Es gab ja keinen Hinweis, wo Cindy geblieben ist. Kannst du diese Frau Clement verstehen, Hannes?«
»Ich verstehe es. Man muß sich die Verzweiflung einer Frau vor Augen führen, die ihren Mann verloren hat, die ihr Kind vermißt und ein anderes im Arm hält, das fast gleichaltrig ist. Niemand zweifelt, daß es sich um ihr Kind handelt. Niemand scheint dieses Kind zu vermissen. Lorrings Leiche wird erst Jahre später gefunden. Clarissa lebt in dem Glauben, daß er mit dem Kind durchgebrannt ist. Nachforschungen verlaufen im Sande. Und als er dann gefunden wird, gibt es noch immer keine Spur von Cindy. Dieses andere Kind scheint immer noch unter den Schneemassen zu liegen.«
»Ein schrecklicher Gedanke«, flüsterte Anne.
»Ja, schrecklich für Clarissa, denn hätte man dieses andere Kind gefunden, wäre festgestellt worden, daß es nicht Cindy gewesen ist. Man hätte herausgefunden, daß es sich um die kleine Constance Clement handelt. Für dich ist dieser Tag nun wieder gegenwärtig.«
Anne legte ihre Hände vor ihr Gesicht. »Ich weiß nur noch, wie ich um Katjas Leben kämpfte«, flüsterte sie. »Sonst habe ich keine Erinnerungen mehr. Ich könnte nicht sagen, mit wem ich gesprochen, wen ich gesehen hätte. Ich habe nur gebetet, daß Katja leben darf.«
»Und dein Gebet wurde erhört«, sagte Johannes Cornelius leise. »Clarissa hätte auch gebetet für das Leben ihres Kindes, wenn sie gewußt hätte, daß es dort war, aber sie war in Pontresina und erfuhr alles erst, als es schon vorbei war. Aber wenn ich es so recht bedenke, könnte es ja sein, daß sie mit all ihren Gedanken bei Cindy war, die von ihrem Vater mitgenommen wurde, daß auch ihr Gebet erhört wurde, daß dem Kind kein Leid widerfahren solle. Aber was nützt alles Nachdenken, Anne. Wir sind machtlos gegen das, was uns von der Vorsehung beschieden ist. Wir haben uns durch dieses schreckliche Geschehen gefunden. Was des einen Glück ist, ist des andern Leid gewesen.«
Anne griff nach seiner Hand und drückte sie an ihre Wange. »Ich schaue jetzt nach Clarissa«, sagte sie.
»Aber sage ihr bitte noch nichts. Ich meine, das sollten wir Tim überlassen.«
»Er kennt doch die ganze Wahrheit selbst noch nicht«, sagte Anne.
»Dann sollte er sie zuerst erfahren…«
*
Clarissa war nicht in ihrem Appartement. Anne machte sich auf die Suche und traf sie dann nahe bei der Quelle.
»Jetzt mußt du aber etwas sagen«, sagte sie energisch.
Clarissa nickte. Ihr Blick war in sich gekehrt. Anne nahm ihren Arm.
»Es tut mir leid, daß alles in dir aufgewühlt wurde«, sagte sie leise.
»In dir ja auch«, erwiderte Clarissa. »Wenn ich doch nur wüßte, was mit Cindy geschah. Ich hätte die Nachforschungen nicht aufgeben dürfen, nachdem ich von Pieters Tod erfuhr. Ich hätte jeden fragen müssen, der an der Unglücksstelle zugegen war.«
»Ich glaube nicht, daß einer der Beteiligten sich nach drei Jahren noch an Einzelheiten hätte erinnern können«, sagte Anne. »Diejenigen, die sich vorher gekannt hatten, waren nur froh, wenn sie Freunde und Angehörige lebend fanden.«
»Aber Cindy hätte doch bei ihm sein müssen, in seiner Nähe«, flüsterte Clarissa.
»Durch die Wucht der Lawine waren auch mein Mann und Katja auseinandergerissen, Clarissa.« Anne lag es auf der Zunge, ihr nun doch zu sagen, was sie erfahren hatte, aber blieb nicht doch ein Zweifel, wie Clarissa reagieren würde?
Nein, heute sollte sie es noch nicht erfahren. Und in München kam Daniel auch zu dem Entschluß, mit Tim darüber persönlich zu sprechen.
Er konnte ihn telefonisch nicht erreichen.