Patricia Vandenberg

Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman


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meinte sie gedankenverloren.«

      »Nichts wird uns trennen, wie oft soll ich es dir noch sagen, Constance.«

      Er nahm den Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Ein zweiter befand sich dann.

      Bitte einem Anwalt übergeben, stand darauf.

      »Für neugierig hat deine Mutter dich wohl nicht gehalten«, bemerkte Tim nachdenklich.

      Constance starrte diesen Umschlag an. »Das ist nicht Mamas Schrift«, flüsterte sie.

      Aber dann nahm sie die dichtbeschriebenen Seiten aus dem Umschlag und las die Überschrift mit stockender Stimme: Meine geliebte Conny, mein liebes Kind, noch einmal will ich Dich so nennen. Ich werde dieser Welt fern sein, wenn Du diese Geschichte liest. Lies es so, als hätte irgendeine Frau geschrieben, die ein Bekenntnis ablegt, nicht die, die Du Mama nanntest.

      »Eine seltsame Formulierung«, murmelte Tim, aber dann lasen sie diese Geschichte:

      Franco und Anita waren ein glückliches Ehepaar. Es ging ihnen gut, sie konnten sich vieles leisten, was anderen versagt war. Und sie hatten eine süße kleine Tochter. Weil beide Mozart liebten, wurde sie Constance getauft. Sie war zwei Jahre und acht Monate, als Anita erfuhr, daß sie wieder ein Kind haben würde, aber es ging ihr gesundheitlich nicht gut. Der Arzt empfahl einen Winterurlaub in den Bergen, und Franco war natürlich sofort bereit, ihr das Beste vom Besten zu bieten. Sie fuhren nach St. Moritz. Franco war ein guter und begeisterter Skifahrer. Anita genügte es, ihm zuzuschauen und sich daran zu freuen, wie Conny schon auf den kleinen Rutschern sanfte Hänge herunterfuhr. Manchmal fuhr sie aber auch mit dem Kind mit der Bergbahn hinauf zur Hütte, weil ihr seltsamerweise die dünne Höhenluft besonders gut tat. Dort, in der Hütte, lernten sie Pieter kennen, der mit seiner kleinen Tochter Cindy die Mittagsmahlzeit einnahm. Cindy war etwas älter als Conny, konnte aber schon erstaunlich gut skifahren. Die Kinder freundeten sich schnell an. Franco und Pieter verstanden sich auch gleich sehr gut. Sie wollten dann auch ein paarmal die Abfahrt machen. Franco meinte, daß er von Pieter einiges lernen könne, und der freute sich, daß Cindy mit Conny spielen wollte. Anita stand mit den beiden Kindern vor der Hütte und blickte den beiden Männern nach. Sie sah, wie sie noch einmal stehenblieben und Pieter Franco etwas gab, was dieser in die Tasche steckte. Dann ging alles wahnsinnig schnell. Ein Rauschen war in der Luft, Anita ergriff die Hände der Kinder, aber die Lawine brauste schon talwärts und riß sie mit sich.

      Als Anita zu sich kam, lag sie in dicke Decken gehüllt auf einer Trage, und Männer standen um sie herum.

      Sie rief nach ihrem Kind, Conny, Conny, immer wieder den Namen, und ein Mann sagte: Das Kind ist ja bei Ihnen.

      Da hörte sie ein Stimmchen Papi, Mami und sie spürte eine kleine Hand. Sie war glücklich, und als sie dann wieder ganz zu sich kam, war sie im Krankenhaus, und das Kind lag neben ihr, aber es war nicht Conny, es war die kleine Cindy.

      Was Anita da empfand, ist nicht zu beschreiben. Verzweiflung und Angst, Hoffnung und wieder Verzweiflung folgten aufeinander. Sie war nicht fähig, etwas zu sagen, und dann erfuhr sie, daß Franco tot war. Und das Kind? fragte sie immer wieder. Man zweifelte wohl an ihrem Verstand und sagte, daß das Kind doch neben ihr schlafen würde.

      Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Man brachte ihr Francos Brieftasche. Ein Briefumschlag befand sich darin. ›Bitte einem Anwalt übergeben‹, stand darauf, aber es war nicht Francos Handschrift.

      Anita war nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie fragte immer wieder nach dem anderen Kind und ahnte doch schon, daß sie Conny verloren hatte. Aber sie wollte Cindy nicht mehr hergeben. Sie klammerte sich an die Hoffnung, daß dieses Kind keine Mutter mehr hätte, denn ein Mann namens Pieter war auch nicht gefunden worden.

      Zwölf Todesopfer hatte die Lawine gefordert, und Anita dachte: Ich habe meinen Mann und mein Kind verloren und dieses Kind hat seinen Vater verloren. Und jeder meinte, daß es ihr Kind sei. Niemand sagte etwas anderes. Da nahm sie das Kind mit sich, und es wurde ihr Kind.

      Gott sei ihrer Seele gnädig, daß sie diese Schuld auf sich geladen hatte, aber dann hatte sie auch noch eine Fehlgeburt erlitten, und nichts war ihr geblieben, als ein fremdes Kind, von dem sie sich nie mehr trennen wollte. Sie hatte nur noch Angst, daß ihr dieses Kind auch genommen werden könnte.

      Das ist die Geschichte, aber da war der Brief, und ich weiß nicht, warum ich ihn nicht vernichtet, nicht einmal gelesen habe. Ich habe mich geweigert zu denken, daß eine andere Frau um ihr Kind weinen könnte. Aber alle Schuld rächt sich auf Erden. Ich wurde krank und immer kränker. Ich mußte unsagbare Schmerzen leiden, aber von meiner Conny wollte ich mich dennoch nicht trennen. Und nun weißt Du, daß Du nicht Conny heißt, aber Deinen Nachnamen kann ich Dir nicht sagen. Vielleicht steht er in dem Brief. Ich wollte es nicht mehr wissen. Ich wollte, daß alles so bleibt, bis ich meine Augen schließe. Ich habe bereut, aber mehr noch habe ich Dich geliebt, mein Kind. Verzeih mir, wenn Du kannst, und wenn Du nicht kannst, denke, daß ich tausendfach gebüßt habe. Ich wünsche Dir Glück, mein Kind, einen Lebensgefährten, wie mein Franco war, und daß er Dir lange erhalten bleiben möge. Deine unglückliche Anita Clement, die nur durch Dich noch Glück erlebte.

      »Oh, mein Gott«, flüsterte das Mädchen, sprang auf und lief hinaus.

      Tim folgte ihr nicht gleich. Er las diese Geschichte noch einmal, und er begriff schließlich nur, daß Constance nicht Anitas Tochter war und somit auch nicht ihre Krankheit geerbt haben konnte.

      Er ging hinüber in Connys Zimmer. Für ihn war sie Constance. »Weißt du, was das bedeutet?« fragte er, als sie ihn blicklos anstarrte.

      »Daß ich keinen Namen habe«, erwiderte sie. »Daß ich irgendwer bin und nichts von meinen richtigen Eltern weiß.«

      Wie nahe die Lösung war, wußte Tim freilich nicht, aber er sagte ruhig: »Für mich bist du Constance, die ich liebe, und für mich zählt augenblicklich nur, daß du dir keine Sorgen mehr machen mußt, daß du an dieser Krankheit leiden könntest oder unsere Kinder dadurch gefährdet werden könnten.«

      »Wie hat sie sich gequält«, flüsterte Constance, »und wie sehr hat sie mich geliebt.«

      »Sie hat sich an dich geklammert, als sie alles verloren hatte, was sie liebte. Sie war sich bewußt, daß sie anderen Menschen wohl doch etwas genommen haben könnte…«

      »Sprich nicht weiter, Tim. Sie war gut zu mir. Wer weiß denn, wie ich aufgewachsen wäre, wenn es anders gekommen wäre. Ich mag jetzt nicht darüber nachdenken. Und was könnte ich jetzt noch erfahren, wenn dieser Brief enthalten würde, wer meine richtigen Eltern sind?«

      Tim behielt für sich, was er dachte, um sie nicht in noch mehr Konflikte zu stürzen. Er dachte, daß kein Mensch das Recht hatte oder sich das Recht nehmen dürfe, über das Leben eines anderen so zu bestimmen, daß dieser keine eigene Entscheidung treffen könnte. Und ein Kind konnte sie nicht treffen.

      Constance war einmal eine kleine Cindy gewesen, die nach ihren Eltern geweint hatte. So sah er es.

      »Du hast keine Erinnerungen mehr, wie es damals war, als diese fremde Frau dich mitnahm?« fragte er.

      »Nein, überhaupt keine«, erwiderte sie.

      »Jetzt werden wir den Tatsachen ins Auge sehen, Liebes.«

      Constance erhob sich. »Ich werde sie begraben, als wäre sie meine Mutter gewesen«, sagte sie ruhig. »Sie war immer gut zu mir. Muß ich mich nicht fragen, warum meine richtige Mutter nicht nach mir suchte, wenn sie am Leben war, wenn ich ihr etwas bedeutete, und muß ich mich nicht auch fragen, wo blieb mein Vater, wenn man ihn nicht fand? Und warum hat man ihn nicht gefunden? Vielleicht hatte er einen falschen Namen angegeben.«

      »Du bräuchtest nur diesen Brief zu öffnen, Constance«, sagte Tim.

      »Nein«, erwiderte sie. »Das werde ich nicht tun. Mama hat es nicht getan, und ich werde diesen Brief einem Anwalt übergeben.« Mit weiten Augen sah sie ihn an. »So, wie es darauf zu lesen ist. Woher soll ich wissen, daß dieser Mann wirklich mein Vater war? Wäre es nicht möglich, daß ich mit einem Menschen mitgegangen bin, der nett zu mir war? Mit einem