ist.«
»Und Goethe hat schon gesagt, daß glücklich nur diejenigen sind, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht.«
»Ich habe es mehr mit Schiller«, sagte Daniel. »›So führt das Schicksal an verborgenem Band den Menschen auf geheimnisvollen Pfaden, doch über ihm wacht eine Götterhand, und wunderbar entwirrt sich der Faden.‹«
»Mit euch komme ich doch noch nicht mit«, meinte Tim seufzend, »aber ihr findet immer die richtigen Worte zur rechten Zeit. Was soll ich tun?«
»Abwarten, dich in Geduld üben und uns vertrauen, wie auch deiner Constance«, sagte Daniel.
»Auch wenn sie Cindy heißt«, fügte Fee hinzu. »Und was Anne betrifft, das überlaß lieber uns.«
Aber untätig konnte Tim doch nicht sein. Er rief seinen Vater an.
»Ist etwas mit Clarissa?« war dessen erste Frage.
»Nein, aber es geht um ein Mädchen, das ich sehr liebe, Dad«, sagte Tim, »und sie sieht Mummy sehr ähnlich. Ich möchte mit dir darüber sprechen.«
»Du sagtest, daß sie Mummy ähnlich sieht?« fragte Robert Thornhill.
»Ja, sie hat sogar so ein Muttermal wie Mummy. Ich möchte es dir erklären.«
»Ich komme morgen nach München«, vernahm Tim, und dann war Schweigen. Die Verbindung war unterbrochen. Tim war fassungslos. Sein Vater hatte gar nicht mehr zugehört. Er hatte nur gesagt, daß er nach München kommen wolle.
*
Ein Grab mußte Constance nicht aussuchen. Franco Clement hatte seines ja schon seit sechzehn Jahren auf einem stillen Waldfriedhof. Oft war Anita mit dem Kind dort gewesen. Als Constance noch klein war, hatte sie immer betroffen geschaut, wenn die Mama so schmerzlich weinte.
»Der Papa hat doch so schöne Blümchen«, hatte sie gesagt, »brauchst doch nicht weinen. Dann, später, hatte sie über den Mann, den sie nicht kannte, von dem sie nur Fotos gesehen hatte, nachgedacht. Aber wie hätte er ihr vertraut sein sollen.
Nun würde auch die Mama, die nicht ihre Mutter war, übermorgen hier zur Ruhe gebettet werden.
Als Constance vor dem schon geschlossenen Sarg stand, kamen ihr seltsame Gedanken, und sie meinte die Stimme von der Mama zu hören.
Manche Kinder haben gar keinen Vater, manche Mütter geben ihre Kinder zur Adoption frei. Und sie werden doch geliebt, Conny, diese Kinder, die bei anderen Eltern aufwachsen, die von anderen Müttern sehr geliebt werden.
Nun begriff sie, warum Anita Clement dies so oft gesagt hatte. Schuldgefühle hatte sie verdrängt, aber alle Liebe, der sie fähig gewesen war, hatte sie ihr gegeben.
»Liebe Mama, es gibt nichts zu verzeihen«, flüsterte Constance. »Jetzt brauchst du nicht mehr zu leiden, und ich werde dich immer liebbehalten…«
Dann fuhr sie zu Dr. Rückert, den sie kannte, weil er oft Bücher für seine kranke Frau in der Buchhandlung kaufte.
»Constance«, sagte er überrascht, als sie vor ihm stand. »Habe ich vergessen, eine Rechnung zu bezahlen?«
Sie konnte da tatsächlich flüchtig lächeln. »Deshalb würde ich doch nicht kommen, Herr Doktor. Ich heiße eigentlich auch Cindy, aber das wollte ich Ihnen eigentlich erst erklären. Falls Sie ein paar Minuten Zeit für mich haben«, fügte sie schüchtern hinzu.
»Für Sie immer«, erwiderte er. »Kommen Sie herein. Meine Frau möchte Sie schon lange kennenlernen, weil Sie ihr immer genau die richtigen Bücher heraussuchen.«
»Meine Mutter ist gestorben«, sagte Constance leise. »Deshalb möchte ich Sie sprechen.«
»Oh, das ist schlimm. Was kann ich für Sie tun?« sagte er stockend.
»Ich weiß nicht, ob Sie etwas tun können. Es ist eine so verzwickte Geschichte. Sie war nämlich nicht meine richtige Mutter, aber das wußte ich auch nicht. Und dann habe ich da noch einen Brief.«
»Wir reden in aller Ruhe darüber, Constance«, sagte er. »Mündig sind Sie ja. Das Vormundschaftsgericht brauchen wir nicht einzuschalten.«
»Das beruhigt mich auch«, erwiderte sie leise. »Aber es bleiben so viele Fragen offen.«
Dann saß sie in einem weichen Ledersessel und erzählte. Und sie gab ihm den Brief ihrer Mutter und den verschlossenen Umschlag.
Der nüchterne Jurist, dem schon manche verzwickte Lebensgeschichte zu Ohren gekommen war, kam aus dem Staunen nicht heraus, denn dies übertraf alles. Daß sich Anita Clement strafbar gemacht hatte, sprach er nicht aus. Sie war tot und konnte nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Das hatte sie wohl auch gefürchtet, und deshalb hatte sie geschwiegen. So mußte er es sehen, obgleich Constance keinen Vorwurf äußerte.
Dann öffnete er den Brief, der tatsächlich nicht die geringste Spur aufwies, daß er schon einmal geöffnet worden wäre. Dr. Rückert empfand ein Unbehagen, als er das Blatt Papier entfaltete.
Die Handschrift war flüchtig, unausgeglichen und verriet, daß der Brief in großer Hast geschrieben worden war
Ich, Pieter Lorring, habe Franco Clement gebeten, diesen Brief an einen Anwalt weiterzuleiten. Ich habe zwei Tage vergeblich in St. Moritz gewartet, daß meine Frau zu einem Gespräch bereit sein würde. Sie ist dieser Bitte nicht gefolgt. So hatte ich mich entschlossen, mit meiner Tochter Cindy das Land zu verlassen, doch nach einem Gespräch mit Franco Clement habe ich mich anders entschieden. Herr Clement wird Cindy zu meiner Frau zurückbringen. Ich selbst werde ins Ausland gehen. Ich erkläre mich ausdrücklich mit der Scheidung meiner Ehe einverstanden und habe mich überzeugen lassen, daß ein Kind in gesicherten Verhältnissen aufwachsen muß. So trenne ich mich schweren Herzens von meiner Tochter Cindy, die ich über alles liebe. Datum und Unterschrift bildeten den Abschluß.
»Und dann kam alles ganz anders«, sagte Dr. Rückert tonlos.
»Dann kam diese Lawine«, sagte das Mädchen leise. »Ob sie auch meinen Vater getötet hat?«
»Es wird sich feststellen lassen«, sagte der Anwalt.
»Ich werde nach St. Moritz fahren, wenn Mama begraben ist«, erklärte das Mädchen. »Ich heiße eigentlich Cindy Lorring, aber meine Papiere lauten auf Constance Clement.« Sie blickte zu Boden. »Was raten Sie mir, Herr Dr. Rückert. Soll ich weiterleben als Constance Clement?«
»Vielleicht leben noch Angehörige, die vergeblich nach Ihnen forschten«, sagte er.
Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen. »Ich habe Angst davor«, flüsterte sie. »Vielleicht ist Constance Clement als Cindy Lorring begraben worden. Es ist so schwer zu begreifen.«
Für ihn war es auch schwer zu begreifen, daß eine Frau so lange mit ihrem Geheimnis leben konnte. Was war dieser Pieter Lorring für ein Mann? Aus diesem Schreiben ging nur hervor, daß er Franco Clement vertraut und auf dessen Rat gehört hatte. Clement war also ein Ehrenmann gewesen. Wäre er nicht getötet worden durch diese Lawine, hätte er Cindy zu ihrer Mutter gebracht. Aber wenn diese Mutter wußte, daß ihr Mann sich mit dem Kind in St. Moritz aufhielt, hätte sie doch nach ihrem Kind forschen müssen. Was war dies also für eine Frau? Die Ehe schien zerrüttet gewesen zu sein. Nicht einmal den Vornamen seiner Frau hatte Pieter Lorring erwähnt.
Dr. Rückert konnte nur tiefes Bedauern mit dem Mädchen empfinden, das sich nun erhob. Ein Mädchen, dem man nur Gutes wünschen konnte, das man gern haben mußte. Ob es nicht gar ein Glück für sie gewesen war, bei Anita Clement aufwachsen zu können, innig geliebt zu werden von dieser verzweifelten Frau, der man in jeder Beziehung mildernde Umstände zubilligen mußte, wenngleich sie eine schwere Schuld auf sich geladen und mit dieser gelebt und gelitten hatte!
»Soll ich für Sie Nachforschungen anstellen?« fragte Dr. Rückert zögernd.
»Ich weiß noch nicht, wie ich mich entscheide«, erwiderte Cindy. Der Name war ihr schon vertraut. Seltsamerweise lehnte sie ihn nicht ab. »Ich muß alles überdenken.«