Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Seine Frau und die kleine Tochter, die sich in der Nähe der Hütte aufhielten, wurden nur leicht verletzt. Dr. Leonard konnte sich noch sehr gut daran erinnern, daß Frau Clement das Kind nicht aus den Armen ließ und große Schwierigkeiten machte, als das Kind gründlich untersucht werden sollte. Ich muß heute abend nochmals ausführlich mit Anne telefonieren.«
»Das kann ich doch tun«, sagte Fee. »Das ist alles sehr merkwürdig.«
Aber sie ahnte nicht, daß alles noch viel rätselhafter werden sollte, wie plötzlich das Geschehen dieses lang vergangenen Tages nicht nur in Annes Erinnerung ganz lebendig werden sollte. Jetzt wurden sie mal wieder durch das Telefon gestört.
Aber Daniel war schon im Gehen begriffen. Er nahm den Hörer auf.
»Mich will sie sprechen?« fragte er staunend. »Ja, ich komme.« Kopfschüttelnd drehte er sich zu Fee um. »Frau Clement will mich sprechen. Jenny meint, es sei sehr wichtig.«
»Jenny scheucht dich nicht auf, wenn es nicht wichtig ist«, sagte Fee.
»Tim war am Vormittag bei Frau Clement. Er wird doch nicht von diesem Unglück gesprochen haben?«
»Das glaube ich nicht«, meinte Fee, »aber du wirst ja hören, worum es geht.«
»Dann ruf Loni an und sag ihr, daß ich später in die Praxis komme«, bat er.
Fee nickte. »Und dann rufe ich Anne an«, sagte sie.
*
Dr. Jenny Behnisch kam Daniel schon entgegen. »Es geht ihr sehr schlecht«, flüsterte sie. »Sie will dir unbedingt etwas sagen, nur dir.«
Aber als Daniel an das Bett der Kranken trat, konnte Anita Clement schon nicht mehr sprechen. Ihre Lippen bewegten sich, aber nur leises, schmerzvolles Stöhnen kam darüber, und dann bäumte sie sich auf und sank leblos zurück.
Jenny zog eine Injektion auf, aber Daniel, der das Herz abgehorcht hatte, richtete sich auf und schüttelte den Kopf.
»Es ist vorbei, Jenny«, sagte er mit schwerer Stimme. »Es hat keinen Sinn mehr. Exitus.«
»Sie war so ruhig nach Tims Besuch«, sagte Jenny, »ja, freudig bewegt war sie. So schnell hatte ich mit diesem Ende nicht gerechnet. Nun konnte sie nichts mehr sagen, und es schien ihr so unendlich wichtig zu sein. Schlimm, wenn eine junge Liebe unter einem so unglücklichen Stern steht.«
Dr. Norden blickte zu Boden. »Constance braucht nicht zu erfahren, daß ihre Mutter an der Parkinson-Krankheit litt«, sagte er tonlos. »Tim will es nicht.«
»Aber es ist doch für ihre Zukunft wichtig, Daniel. Das darf man nicht verschweigen.«
»Wir werden das noch überdenken. Es gibt da so viele Rätsel. Vielleicht wird manches gelöst durch Frau Clements Tod. Später können wir dann immer noch mit Constance sprechen. Ich fürchte nur, daß sie sich von Tim zurückzieht, wenn sie die Wahrheit erfährt.«
»Du fürchtest es?« fragte Jenny. »Denk an Clarissa.«
»Sie werden alle nicht glücklich sein«, sagte er düster. »Entschuldige, Jenny, aber ich muß erst noch einmal mit Tim sprechen, wenn diese schweren Tage vorüber sind.«
»Wer sagt es ihnen?« fragte Jenny.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du es tun würdest. Ich muß in die Praxis. Nicht, daß ich mich drücken will, Jenny, aber ich könnte nicht einfach davonrennen. Ich weiß, wie nahe Tim alles geht.«
Aber dann stießen sie doch in der Halle zusammen. Tim hatte Constance wieder vom Geschäft abgeholt. Anscheinend hatte er ihr gerade einige aufmunternde, zuversichtliche Worte gesagt, denn so sahen beide aus.
Daniel verhielt den Schritt. Er war blaß geworden. Tim sah ihn fragend an.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Es tut mir entsetzlich leid, Constance. Ich bin zu spät gekommen. Ihre Mutter wollte mich noch sprechen. Aber nun ist es zu spät.«
»Mama – sie lebt nicht mehr?« flüsterte Constance.
Tim zog sie gleich noch fester an sich, aber tapfer blickte Constance Dr. Norden an. »Irgendwie habe ich es geahnt«, sagte sie leise. »Sie wollte nur Tim noch kennenlernen.«
»Jenny wollte euch benachrichtigen. Ich muß in die Praxis. Wir sehen uns später«, sagte Daniel überstürzt.
»Das Leben geht weiter«, murmelte Constance geistesabwesend. »Und der Tod gehört auch dazu. Man wird geboren, man muß sterben, das ist alles, was wir letztendlich wissen. Und was dazwischenliegt, können wir auch nicht immer selbst bestimmen.«
Aber ganz bewußt war ihr die Bedeutung dieser Worte nicht. Sie sagte sie nur aus augenblicklichen Gedanken heraus.
*
Zu dieser Stunde ging Anne Cornelius zum zweiten Mal zu Clarissa. Als sie nicht an der Mittagstafel erschienen war, hatte sie nach ihr gesehen. Doch da hatte sie geschlafen, oder wenigstens so getan.
Und dann war Fees Anruf gekommen, der Anne noch mehr erregte, als der von Daniel.
Aber inzwischen hatte sie schon viel über jenen grausamen Tag in ihrem Leben nachgedacht.
Was sie von den anderen Opfern dieses Unglücks wisse, hatte Fee gefragt. Ob ihr der Name Clement in der Erinnerung geblieben sei.
Nein, der Name war ihr nicht in Erinnerung. Sie hätte sich ja um niemanden gekümmert, da Katja ihre Hilfe gebraucht hatte. Katja hatte doch zwischen Leben und Tod geschwebt, sagte sie. Sie wisse nur, daß ein paar Tote erst sehr viel später gefunden worden wären, einer erst nach drei Jahren. Das hätte sie in der Zeitung gelesen. Und ein Kind sei nie aufgefunden worden. An mehr könne sie sich nicht erinnern.
Anne konnte es wirklich nicht. Johannes Cornelius hatte sie in ein neues Leben geführt, in ein glückliches Leben. Katja war gesund geworden und hatte David Delorme geheiratet, den bekannten Pianisten. Sie war glückliche Frau und Mutter von zwei gesunden Kindern. Anne hatte keinen Grund gehabt, die Erinnerungen wachzuhalten. Für sie zählte die Gegenwart, die erfüllt war von Freude und Arbeit, aber auch oft genug mit Sorge oder Fürsorge um andere.
Sechzehn Jahre im Leben eines Menschen konnten eine Ewigkeit sein, wenn auch ein Menschenleben nur ein Hauch in der Ewigkeit war.
Und nun saß Anne bei Clarissa. »Ja, ich werde dir alles erzählen, Anne«, sagte Clarissa leise. »Es mag ein Fingerzeig gewesen sein, daß heute über dieses Unglück gesprochen wurde. Was ich dir sage, weiß nur Bob. Mein Gott, ich bin froh, daß ich ihm alles gesagt habe. Und ich habe auch geglaubt, ganz darüber hinweg zu sein. Aber etwas ist doch geblieben von damals, von diesem Grauen. Ich muß weit zurückgreifen, Anne, vierundzwanzig Jahre. Meine Eltern besaßen eine Pension in St. Moritz. Ich lebte in Zürich bei einer Tante, die inzwischen auch verstorben ist. Ich sollte eine gute Schulbildung haben. Weihnachten kam ich nach Hause. Ich war achtzehn, nein, noch nicht ganz, aber ich fühlte mich schon erwachsen. Ich lernte Pieter Lorring kennen, einen jungen Amerikaner, der in der Pension meiner Eltern wohnte. Nun, immerhin war er doch schon zehn Jahre älter als ich. Wir verliebten uns ineinander. Meine Eltern waren gegen diese Verbindung. Ich brannte mit Pieter durch, als ich achtzehn war. Wir heirateten in Amerika. Meine Eltern zeigten sich versöhnlich, als ich ein Kind bekam. Es war ein Mädchen. Wir nannten es Cindy. Aber Pieter war ein Abenteurer. Er wollte die höchsten Berge besteigen, die schnellsten Autos fahren. Meine Eltern hatten inzwischen ein Hotel in Pontresina gekauft. Es ging ihnen sehr gut. Wir besuchten sie. Cindy war drei Jahre, und sie hätte die Großeltern selbst mit dem Schwiegersohn versöhnt, aber Pieter war eifersüchtig. Er liebte das Kind abgöttisch. Vielleicht war es die einzige ehrliche Liebe, die er überhaupt empfinden konnte. Wir stritten uns oft, aber jedesmal, wenn ich sagte, daß ich mich von ihm trennen wolle, erklärte er, daß ich das Kind nie bekommen würde. Cindy hatte schon als Baby schwimmen gelernt. Mit drei Jahren wurde sie auf Ski gestellt. Sie begriff alles schnell, aber meine Eltern regten sich auf, als Pieter mit dem Kind schon auf die Pisten ging. Er war ein phantastischer Skifahrer. Ich versuchte immer wieder zu vermitteln zwischen ihm und meinen Eltern. Ich dachte,