Von Heiner Moschs Sorgen blieb er nicht verschont. Heiner und Annette hatten hin und her überlegt, wie diese so fatale Angelegenheit möglichst undramatisch erledigt werden könnte und Dr. Arnim gebeten, den beiden jungen Leuten eine angemessene Entschädigung anzubieten. Doch damit war Holger nicht einverstanden.
»Solche Angelegenheiten sollten immer auf dem Rechtsweg bereinigt werden«, sagte er den beiden. »Man weiß niemals, welche Folgeschäden sich noch herausstellen. Es könnte durchaus möglich sein, daß Sie dann ein ganzes Leben zahlen müßten für etwas, was Sie nicht verschuldet haben.« Er sagte ihnen aber auch, daß es das Dümmste von Helma Mosch gewesen sei, den Wagen als gestohlen gemeldet zu haben. Den Schock, den sie erlitten hatte, hätte man strafmildernd beurteilt, die Irreführung der Polizei galt jedoch als erschwerend.
Dann bekam Heiner Mosch aus dem Krankenhaus die Nachricht, daß seine Mutter einen Schlaganfall infolge eines Blutgerinnsels im Gehirn erlitten hätte, als sie ohne ärztliche Erlaubnis das Bett verlassen hatte. Ihr Zustand sei ernst.
»Ich werde am Wochenende hinfahren müssen«, sagte Heiner beklommen.
»Dann begleite ich dich«, erklärte Annette sofort.
»Du wolltest doch zu Paps und Bettina fahren, Liebes.«
»Bettina ist gut aufgehoben. Paps ist glücklich, sie bei sich zu haben. Ihr fehlt es an nichts. Ich hätte keine Ruhe, wenn ich dich dort jetzt allein wüßte. Wir stehen das gemeinsam durch, Heiner«, sagte Annette.
»Du solltest jetzt aber keinen seelischen Belastungen ausgesetzt werden«, sagte er deprimiert, »auch keinen körperlichen.«
»Ich gehe morgen noch zu Dr. Norden«, versprach sie. »Ich möchte das Baby auch nicht verlieren, aber jetzt müssen wir zusammenhalten, Heiner.«
*
So ganz einverstanden war Dr. Norden nicht, daß Annette sich Strapazen aussetzte, aber er fand es sehr anerkennenswert, daß sie ihren kann nicht allein fahren lassen wollte. Er freute sich darüber, daß diese Ehe die Bewährungsprobe überstanden hatte. Er bedauerte aber auch, daß erst solche Probleme hatten entstehen müssen.
Was die neueste Entwicklung in Helma Moschs Zustand betraf, konnte er nur vermuten, daß sich das Blutgerinnsel durch den Unfall gebildet hatte. Er erklärte Annette, daß es häufiger der Fall war, als man meinte, daß sich solche Folgen herausstellten, wenn der Betroffene sich nicht sofort in ärztliche Behandlung begab. So hatte Helma Mosch dieses Schicksal selbst herausgefordert.
Tröstlich für Annette war es, daß die verletzte junge Frau sich bereits auf dem Wege der Besserung befand und daß für sie nachhaltige Folgen mit aller Wahrscheinlichkeit auszuschließen waren.
Beruhigend war es auch, daß Dr. Norden ihren jetzigen eigenen Zustand als gut bezeichnete, sie aber doch ermahnte, sich nicht zuviel zuzumuten.
»Heiner paßt schon auf mich auf«, sagte sie. »Aber für ihn wäre alles noch schwerer, wenn er dort allein herumsitzen würde.«
»Und Bettina gefällt es beim Opa?« fragte Dr. Norden.
»Ja, sehr. Wir hätten halt schon früher energischer klären sollen, daß auch mein Vater das Recht hat, Bettina zu sehen, genau wie sie es beanspruchte. Vielleicht wäre uns dann doch manches wirklich erspart geblieben.«
»Oder noch schlimmer geworden«, sagte Dr. Norden nachdenklich. »Ein Mensch, der sich so wichtig nimmt, sich allein, ist schwer zu belehren, Frau Mosch. Ich habe diesbezüglich schon viele Erfahrungen gesammelt.«
»Ich kann mir schwer vorstellen, daß es viele solche Menschen, vor allem solche Mütter gibt.«
»Mehr als genug. Leider sind tatsächlich oft die Schwiegermütter schuld, wenn Ehen zerbrechen, jene, die alles besser wissen und besser können.«
Ob Sandra Diehls Ehe auch deshalb zerbrochen ist, fragte sich Annette später, aber sie konnte sich nicht vorstellen, daß eine so liebe und mütterliche Frau wie Annedore Diehl ein Störenfried sein könnte.
Sie mußte jetzt überhaupt öfter an die junge Anwältin denken, deren Sohn Nico für Bettina ein Idol war.
Schön wäre es, wenn man sich öfter mal mit einer solchen Frau, die mitten im Berufsleben stand, unterhalten könnte, aber sie hatte ja gar nicht gewagt, Freundschaften zu schließen, die dann doch nur abfällig kritisiert worden wären. Und es wäre ihr doch nur zum Vorwurf gemacht worden, daß sie kostbare Zeit mit Fremden vergeuden würde, anstatt sich um die Schwiegermutter zu kümmern.
O ja, sie war damals guten Willens gewesen, Heiners Mutter über den schmerzlichen Tod des Mannes hinwegzuhelfen, eingedenk der Tatsache, wie einsam sie sich fühlen mußte. Aber von echtem, tiefem Schmerz war da nichts zu spüren gewesen.
Die hohe Rente genügte ihr nicht. Wozu extra Miete zahlen für eine Wohnung, da ja ein geräumiges Haus vorhanden sei und schließlich könnte man sich ja gegenseitig helfen.
Wie es mit der gegenseitigen Hilfe dann ausgesehen hatte, mußte Annette auch erfahren. Ganz selbstverständlich war es ja, daß die Ältere bedient und umsorgt wurde.
»Bei mir lief der Haushalt auch am Schnürchen«, wie oft hatte Annette das zu hören bekommen. Nie hatte sie ein Wochenende mit Heiner und Bettina allein verbringen können, und selbstverständlich mußte die Mama auch mit ihnen in den Urlaub fahren. Da gab es dann auch immer etwas zu meckern. Das Bett war nicht gut genug, das Essen entsprach nicht ihrem Geschmack, und wenn das Wetter nicht mitspielte, wollte sie gleich wieder heimfahren. Es hatte sich im Laufe der Zeit so allerhand an Groll in Annette angesammelt, und gerade weil sie ihn unterdrückt hatte, kamen dann die Depressionen, die Angst, wie es weitergehen sollte.
Davon war sie jetzt weitgehend frei, obgleich es ja nun auch wieder unsicher war, wie es weitergehen sollte, wenn Helma ein Pflegefall bliebe.
Aber nun war es doch anders, weil sie wußte, daß Heiner zu ihr hielt, daß er Entscheidungen in ihrem Interesse treffen würde, nicht im alleinigen Interesse seiner Mutter, die sich gegebenenfalls damit abfinden mußte, in einem Pflegeheim untergebracht zu werden.
Doch soweit sollte es dann nicht kommen. Als sie die Fahrt hinter sich gebracht hatten bei nicht zu schwülem Wetter und bedecktem Himmel und mit den Ärzten sprachen, erfuhren sie, daß Helma bereits einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte und im Koma läge.
Vielleicht war es doch das Schuldbewußtsein, das jeden Lebenswillen in ihr zum Erlöschen brachte. Die Lun-genembolie, hervorgerufen durch die Stauchungen, hatte zur schnellen Verschlechterung ihres Zustandes beigetragen.
Es war kaum zu glauben, daß sie noch vor kurzem eine kerngesunde Frau gewesen war, diese Helma Mosch. Jetzt lag sie, ein Schatten nur noch, als Sterbende in dem Krankenhausbett.
Heiner war still und blaß. Annette wußte auch nicht, was sie sagen sollte. Im Angesicht des Todes schwiegen auch in ihr alle negativen Gedanken und Gefühle.
»Sie wird unversöhnt sterben, uneins mit sich und der Welt«, sagte Heiner, als sie zu ihrem Hotel gingen. Annette sollte sich ausruhen, und sie mußten auch etwas essen.
Es wird keine Gerichtsverhandlung mehr geben, dachte Annette. Sie wird nicht gezwungen werden, ihre Schuld einzugestehen.
Als Heiner wieder zur Klinik gefahren war, rief sie ihren Vater an. Er konnte Bettina langsam darauf vorbereiten, daß die Oma nicht mehr zurückkommen würde. Sie wußte, daß er ihr dies gern abnehmen würde.
»Warum kommt Mami nicht?« fragte Bettina auch gleich, als das Gespräch beendet war. »Papi hat doch gesagt, daß sie sich auch erholen soll.«
»Die Oma ist plötzlich schwer erkrankt, Bettina«, erwiderte Albert Breiter.
»Muß sie sterben?« fragte Bettina.
Diese Frage versetzte ihn in Bestürzung, da sie das Kranksein sogleich mit dem Sterben kombinierte.
»Ja, Bettina«, erwiderte er, »sie wird sterben.«
»Wo kommt dann das Fahrrad