Ted Lewis

Schwere Körperverletzung


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muss sehr ausgeschlafen sein«, sagte sie. »Ich komm wirklich nicht dahinter. Wä­ren da nicht die letzten drei Monate ...«

      »Wo läuft das denn?«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Und wie?«

      »Das könnte uns nur ein Buchhalter sagen.«

      Ich zündete mir eine Zigarette an.

      »Tja, Douglas können wir nicht fragen, denn wir können nicht ausschließen, dass er es ist.«

      Jean schüttelte wieder den Kopf.

      »Wenn er es wäre, hätten wir nichts gemerkt. Außer­dem ...«

      »Ja, ich weiß«, sagte ich. »Douglas will noch in der Lage sein, seine Rente zu kassieren.«

      Ich setzte mich in den Sessel am Fenster.

      »Vierundachtzig Agenten«, sagte ich. »Wir wissen, dass sie alle eine gewisse Summe einsacken, aber das kalkulieren wir bereits ein. Dann die zwanzig Kassierer. Was wir ebenfalls einkalkulieren. Dann die vier, die von ihnen kassieren.«

      »Die wir ebenfalls berücksichtigen.«

      »Und schließlich Douglas.«

      Stille.

      »Was schlägst du also vor?«, fragte Jean.

      »Ich schlage vor, wir ziehen einen anderen Buchhalter hinzu. Von den Zahlen abgesehen, braucht er gar nichts zu wissen. Wenn er uns sagen kann, wie, kommen wir dem Wo vielleicht näher.«

      »Und wenn nicht?«

      »Es sind über hundert Leute beteiligt. Wollen wir hoffen, dass sie nicht alle mit drinstecken.«

      Ich stand auf.

      »Lass uns rübergehen und etwas trinken.«

      Jean legte das Hauptbuch in die Schublade und verschloss sie.

      »Die Bertegas kommen um sieben Uhr dreißig.«

      »Was hat Harold vorgesehen?«

      »Ich habe ihm gesagt, er solle das Gleiche machen wie beim letzten Mal. Sie schienen es zu mögen. Um acht Uhr dreißig wird er servieren.«

      Im Wohnraum machte ich mich an die beiden Drinks. Jean setzte sich nicht.

      »Ich fühle mich wie aufgedreht«, seufzte sie.

      »Mach dich in Ruhe zurecht«, sagte ich. »Nimm ein Bad. Und wenn sie hier eintreffen, bist du fit.«

      Jean trank einen Schluck, kam dann hinunter in den abgesenkten Bereich und ließ sich mir gegenüber aufs Sofa fallen.

      »Erinnerst du dich an deine erste Begegnung mit den Bertegas?«, fragte ich sie.

      Sie starrte mich an.

      »Ich erinnere mich.«

      Die Bertegas waren eine weitere Etappe auf meinem Weg gewesen, Jean mit allen Aspekten meiner Umgebung und meiner Persönlichkeit vertraut zu machen – und möglicherweise mit ihren eigenen. Die Bertegas lebten an verschiedenen Orten der Welt, aber ihr wichtigster Lebensmittelpunkt war zum einen Zürich, zum anderen Rio. Bertega war einer dieser kompakten, stolzen Lateinamerikaner; einer, dessen Präsenz – selbst wenn er in Unterhosen vor einem stünde – Geld, Macht und Skru­pellosigkeit ausstrahlte, verbunden mit einem exquisiten Geschmack, wie ihn in dieser besonderen Form nur ein Mann wie er erwerben konnte. Seine Frau Christina war geradezu ein Paradebeispiel: Sie entstammte dem Teil brasilianischer Aristokratie, der englischer war als jeder Engländer, arroganter – je heißer das Klima, desto kälter der Stahl. Es war unmöglich, ihr ein Alter zuzuordnen. Mit sechzig sähe sie nicht älter aus als vierzig. Sie wusste gut Bescheid, wie Bertega ihr ein Leben ermög­lichen konnte, woran sich Generationen ihrer Familie gewöhnt hatten. Wie alle wahren Aristokraten erachtete sie es als schnöde, den Prozess zu erörtern oder zu re­flektieren, in dessen Verlauf der ihr von Natur aus zu­stehende Reichtum anwuchs. Ihr einziger moralischer Grund­satz besagte, dass der Reichtum am richtigen Ort seiner Bestimmung anlangen möge. Alles andere war nicht von Bedeutung; andere Fragen, die womöglich aufgeworfen wurden, waren nur überraschend, insofern als sie überhaupt aufgeworfen wurden. Wenn all dem auch nur ein Hauch von Peinlichkeit angehaftet haben sollte, dann eventuell der, dass Bertega hatte arbeiten müssen, um die Basis für die Quelle seines Wohlstandes zu schaffen, anstatt dem Kinderwagen zu entwachsen und das Vermögen von der vorherigen Generation zu übernehmen. Aber Bertegas natürliche aristokratische Kraft hatte alle Bedenken zerstreut, die ihr vielleicht gekommen waren. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein kraftvoller Mann, und wenn es Christina auch nicht möglich war, es preiszugeben, und sei es durch die kleinste öffentliche Geste, gab es in dem aristokratischen Schlafzimmer vermutlich doch ein Element aus der Gosse, das für die klandestine Macht verantwortlich zeichnete, die er auf sie ausübte.

      Natürlich bestand für Bertega – genau wie für mich – keinerlei Notwendigkeit mehr, seine jeweiligen Unternehmungen persönlich zu repräsentieren, dennoch gab es ein paar Angelegenheiten, die nur zwischen ihm und mir erörtert werden konnten.

      Auf eines seiner Geschäftsfelder war Bertega ganz be­sonders spezialisiert, ein Geschäftsfeld, für dessen Ware es weltweit vermutlich nicht mehr als fünfzig oder sechzig Kunden gab. Ich wusste nur von einem auf den Britischen Inseln und den versorgte ich mit dem, womit mich Bertega versorgte.

      Zum Zeitpunkt ihres ersten Zusammentreffens mit den Bertegas hatte Jean einige der Pornos gesehen, die hochklassigen, nicht die, die über die Adresskartei vertrieben und in Umlauf gebracht wurden. Die Sech­zehn­milli­meter­filme, professionell gedreht, mit Soundtrack und Handlung, was Erotik beförderte, anstatt eine Entschuldigung zu liefern. Regisseure und Darsteller wurden aus­gespro­chen gut bezahlt, sodass beispielsweise die Szenen, in denen Auspeitschungen stattfanden, ebenso überzeugend waren wie in Two Years Before the Mast. In diesen Produk­tionen hatte theatralisch-dramatisches Stummfilmgebaren keinen Platz.

      Aber Bertega, er war auf das Echte, Wahre spezialisiert.

      Es ist nicht möglich, den Voyeur zu befriedigen. Schon bald wird ihn die Aussicht darauf, was zwei Leute im Bett miteinander treiben, langweilen. Indem Erlebnisse seinen optischen Appetit steigern, müssen weitere Elemente dazukommen, um neue Erregung hervorzurufen: Vergewaltigung, Gewalt, Erniedrigung. So ist es letzten Endes nicht der Sexualakt als solcher, dem beizuwohnen den Voyeur interessiert; er braucht die Fortsetzung kreativer Verderbnis und Erniedrigungen, um seine kurzzeitige Befriedigung zu erlangen. Und da die Befriedigung nur eine kurzzeitige ist und obgleich die Suche nach Verderbnis selbst komplett verdirbt, findet die Suche danach nie ein Ende. Der Punkt, worin Mary Whitehouse und ich uns in völliger Übereinstimmung miteinander befinden. Der Prozess selbst verdirbt. Weshalb sie ihr Ge­werbe betreibt und ich meines betreibe.

      Es hat immer ein Areal des Voyeurismus gegeben, entweder bereits aktiviert oder im Schlummer befindlich, in jedem Menschen. Ein Areal, wo Opfer von Katastrophen und entsprechende Verstümmelungen in anderen das Verlangen hervorrufen, sie zu sehen, sie sich nicht mehr nur vorzustellen, diese Sequenzen, die stets dem Schnitt zum Opfer fallen in den Berichten der Wochenschauen über Auffahrunfälle auf Autobahnen oder Flugzeugunglücke oder Massaker oder öffentliche Hinrichtungen. Seit Langem schon existiert ein Schwarzmarkt, ein überaus lukratives Geschäft mit Filmen und Videos von Grausamkeiten und Unfällen.

      Bertegas Material enthielt Grausames, nur handelte es sich dabei nicht um Unfälle.

      Weshalb die Liste der Kunden so winzig war und der jeweilige Preis so astrono­misch. Selbst in dieser Welt gab es nur wenige Leute, die entsprechend geneigt waren und es sich finanziell erlauben konnten und bei denen Bertega sich erlauben konnte, ihnen zu vertrauen. Natürlich, zu Zeiten Dschingis Khans oder während der In­quisition war derlei Unterhaltung billig zu haben gewesen. Noch ein wirtschaftliches Detail: Nicht ein Produkt, das von Bertega kam, kostete weniger als hunderttausend Pfund, und das war das preiswerteste Angebot. Paradox. Wir beide, er und ich, konnten für lediglich eintausend Pfund jemanden erledigen und nachhaltig beseitigen lassen; vertraue das Gleiche einem Film an und schon sprechen wir von einer völlig anderen Preislage.