Ted Lewis

Schwere Körperverletzung


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diese Monate zwischen seiner Rückkehr und seinem endgültigen Abschied, wenn man so wollte, diese Mo­nate hätten eine Belastung dargestellt. Es war nicht mehr das Gleiche, was immer sie sich auch eingeredet habe. Seltsamerweise, sagte sie, sei ein großer Teil der Belastung auf ihn zurückzuführen gewesen, auf seinen Versuch, ihr zu zeigen, wie ernst es ihm mit seinen Ankündigungen gewesen sei. Natürlich hätte sie sich darüber klar werden müssen, warum er versucht habe, ihr zu imponieren. Ironie des Schicksals, sagte sie. Hätte es den Unfall nicht gegeben, wäre sie nie dahintergekommen. Um wen es sich bei dem Mädchen gehandelt hatte, das herauszufinden war der Polizei nie gelungen. Beide Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, aber man sollte doch meinen, dass sich jemand ir­gend­wo meldet, um das Verschwinden eines Mädchens ihres Alters anzuzeigen. Sie kam nicht aus seiner Hauptgeschäftsstelle oder aus einer der Filialen. Sie hätte aus einer der Firmen stammen können, die er aufgesucht hatte, aber, so Jean, wäre dem so gewesen, hätte jemand die beiden irgendwann miteinander in Verbindung ge­bracht. Der einzige Hinweis auf ihre Exi­stenz, von ihren Überresten abgesehen, kam von dem Wirt des Pubs in der Nähe seiner Hauptgeschäftsstelle, wo er öfter aufschlug, um etwas zu trinken. Der Wirt konnte jedoch nur angeben, dass in der fraglichen Nacht, der Nacht des Unfalls, Jeans Mann an der Bar entspannt einen getrunken habe, als dieses Mädchen hereingekommen sei, ohne Begleitung ... nichts Ungewöhnliches heutzutage. Die beiden seien miteinander ins Gespräch gekommen. Auch das nichts Ungewöhnliches. Der Wirt hatte etwas aufgeschnappt, als die beiden aufbrechen wollten ... ob er sie irgendwo absetzen könne, so in etwa. Jean war dem ausgesprochen zynisch begegnet: Er sei so vorsichtig gewesen, selbst in einem Laden, den sie nie gemeinsam besucht hätten.

      Niemand hatte eine erschöpfende Erklärung für den Unfall. Nun, ein Dutzend Zeugen sehen ein Dutzend unterschiedlicher Dinge. Einige sagten aus, der Wagen habe sich verhalten, als sei ein Reifen geplatzt – ausgeschlossen, das zu rekonstruieren in Anbetracht des Zu­standes, in dem sich der Wagen befand. Aber sie alle stimmten darin überein, dass er mit mindestens siebzig Meilen über den Mittelstreifen geschossen war. Erstaunlich, wie er in der daraus resultierenden Karambolage nur zwei Leute hatte mich sich reißen können, das Mädchen eingeschlossen.

      Was das betraf, war Jean besonders verbittert. Die un­schul­digen Toten trugen hauptsächlich dazu bei, dass die Erinnerung an ihn flüchtiger wurde als die buchstäbliche Asche, zu der er bereits geworden war.

      Hör mal, hatte ich zu ihr gesagt, du darfst an solche Dinge keinen Gedanken verschwenden. Ein Unfall ist ein Unfall. So etwas passiert jeden Tag.

      DER RAUCH

      Nachdem Mickey sich verabschiedet hatte, ging ich hi­nüber ins Büro.

      Jean lehnte sich hinter ihrem Schreibtisch im Stuhl zurück. Einige der Bücher lagen offen vor ihr. Sohos graues Tageslicht unter­strich ihre Nachdenklichkeit. Mein Eintreten trug nicht dazu bei, sie in ihrem Vertieftsein zu stören.

      Ich setzte mich ans Fenster.

      »Du hast deinen Kaffee noch nicht getrunken«, sagte ich.

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Möchtest du, dass ich Gerry rufe?«

      Wieder schüttelte sie den Kopf.

      »Der Postversand«, sagte sie.

      »Was ist damit?«

      »Nun, zur Zeit sind es vierundachtzig Agenten.«

      Das war korrekt: Überall im Land gab es diese Büros, aktuell vierundachtzig, betrieben von jeweils einem Agenten mit Telefon und Schreibmaschine und einer Adressiermaschine und darüber hinaus mit nichts als braunen Umschlägen, von Wand zu Wand. Und natürlich die Ware – Pornos. Diese Seite des Geschäfts machte ihres speziellen Charakters wegen häufige Bürowechsel notwendig, trotz der Summen, die wir den Gesetzeshütern zahlten; doch ansonsten waren die Kosten äußerst gering. Sie würden nicht glauben, wie viel dieser Ge­schäftszweig abwirft. Über eine Million zweihunderttausend Pfund pro Jahr. Ich sagte ja, Sie würden mir nicht glauben. Niemand tut das, nicht einmal die Agenten, die keine Vorstellung davon haben, wie viele andere Agenten es noch gibt. Anders die Polizei natürlich, die mit ihren zehn Prozent in gewisser Weise einen zusätzlichen Agenten darstellt. Die wissen es. Darum verlangen sie so viel. Wenn Sie’s noch immer nicht glauben, dann be­trachten Sie es einmal so: Jeder Agent hat eine Liste mit rund tausend Kunden. Einmal im Monat gibt es einen neuen Film, manchmal mehr als einen Film – zu unseren konkurrenzfähigen Konditionen von zehn Pfund pro Film. Die Agenten versorgen die Kunden automatisch mit den neuen Filmen. Sie können also Ihre eigene Re­ch­nung aufmachen.

      Das war nur eins unserer Geschäfte.

      Jean prüfte die Bücher. Es gab Angestellte, die sie führten, aber Jean prüfte sie. Sie war gut darin. Der einzige weitere Geschäftsbereich, der ihr unterstand, betraf die Qualitätskontrolle der Mädchen, und zwar nicht der Mädchen, die man für hundert Pfund pro Einsatz be­kam. Sie kümmerte sich um die teuren.

      Mit den anderen geschäftlichen Dingen waren Mickey und ich befasst.

      Ich zündete mir eine Zigarette an und bestätigte die Anzahl unserer Büros mit einem Kopfnicken.

      »Ja«, sagte sie, denn es war keine Frage gewesen.

      Ich wartete.

      »Und keins davon hat kürzlich dichtgemacht«, sagte sie.

      Auch dies keine Frage. Ich wartete weiter.

      »In dem Fall ergeben diese Zahlen für mich wenig Sinn«, sagte sie. »Natürlich stimmen sie rein rechnerisch. Aber verglichen mit den Zahlen der letzten drei Monate stimmen sie nicht.«

      »McDermott hat mir gesagt, dass er in der Region rund um Coventry etwas jonglieren musste. Wir mussten ein paar neue Adressen beschaffen.«

      »Von solchen Dingen spreche ich nicht. Komm her und sieh dir das an.«

      Ich erhob mich, stellte mich neben sie und beugte mich über den Schreibtisch.

      Jean schob zwei Bücher nebeneinander. Ich sah mir eine Zahlenkolonne an, dann die andere. Dann sah ich mir beide noch einmal an.

      Ich sagte nichts.

      »Du verstehst, was ich meine«, sagte sie.

      DIE SEE

      Ich klettere auf den Panzer und setze mich auf den Ge­schützturm, der durch den Einschlag der Raketen auf ewig mit dem Rest des Metalls verschmolzen ist. Die Ebene ringsum sorgt dafür, dass meine aktuelle Position doppelt so hoch erscheint und die See mehr Tiefe vorgaukelt.

      Ich zünde mir eine Zigarette an und ziehe den Flachmann aus der Tasche meines Anoraks, nehme einen großen Schluck und warte, bis er wirkt. Ich nehme noch einen Schluck und stelle die Flasche auf den Rand des Geschützturms. Wie eine metallene Parodie auf Millais’ Die Kindheit von Raleigh ragt das geschwärzte Geschütz aufs Meer hinaus.

      Sicherlich, in vielerlei Hinsicht wäre Jean eine ideale Wahl gewesen, hätte ich eine Partnerin gesucht, die sich ums Geschäft kümmert, und nicht allein eine Ehefrau. Da ich keins von beidem gesucht hatte, stellte ihr Ge­schäftssinn einen zusätzlichen Pluspunkt dar. Doch ich hätte sie niemals für eins von beiden in Betracht ziehen können, solange ich mir im Unklaren darüber war, wie sie auf meine wahre Natur und meine Tätigkeit reagieren würde.

      Für lange Zeit hielt ich mich zurück. Für sehr, sehr lange Zeit. Selbst was den normalen Umgang betraf, ging ich nach der Tragödie für sechs Wochen auf Ab­stand.

      Und danach, als die Entwicklung den Verlauf genommen hatte, wie von mir vermutet, war es ein schrittweiser Prozess gewesen – denn bevor der Stein richtig ins Rollen kam, musste ich so viel über sie herausgefun­den haben, wie sie über mich erfahren würde.

      Doch ich hätte niemals von ihr erwartet, dass sie in die ihr meinerseits nach und nach gewährte Rolle auf die Weise hineinwachse, wie sie es tat. Menschen stellen immer wieder eine Überraschung dar; alles Erdenkliche steckt in ihnen, doch nur sehr wenige wissen um die Möglichkeiten, die sich unterhalb der Oberfläche verbergen, von der sie meinen, dass die