durchaus aufzutreiben. Wohl dem, der da in seiner Behausung stolzer Besitzer eines großen Kupferkessels war, wie er in Großmutters Keller stand. Wo sonst jeden Samstagnachmittag ein lustiges Feuerchen unter dem Kessel für warmes Badewasser in einer kleinen Zinkwanne sorgte, schwammen Zuckerrübenschnitzel mit Wasser vermengt über dem Feuer. In stundenlanger mühsamer Prozedur, ständig mit einem großen Holzstab rührend, gelang es, dem Rohprodukt seine süßen Seiten zu entlocken. Ein dunkelbrauner, klebrig-zäher Sirup mit unverwechselbarem Geschmack hart an der Grenze zu leicht verbranntem Karamell. Natürlich wuchs das dafür benötigte Brennholz auch nicht um die Ecke. Es musste mühsam auf einem altersschwachen Leiterwägelchen aus dem Wald herbeigeschafft werden. Dieser war von frierenden Zeitgenossen bereits nach Brennbarem durchforstet worden, und zwar umso intensiver, je näher er einer menschlichen Behausung stand. Leider ließ der liebe Gott nicht so viele morsche Zweige wie wünschenswert von den Bäumen fallen. So mutierten die rassereinen Arier, wo immer sie konnten, vorübergehend zu einer Nation der Sammler und Holzfäller. Vom Größenwahn ein Schritt zurück Richtung Steinzeit.
Dieser aus der Not geborenen Leidenschaft fiel in Esslingen gegenüber der Becelaire-Kaserne ein Baumbestand zum Opfer, der unter dem Namen Palmscher Park zum Besitz einer einst hochherrschaftlichen Familie gehörte. Die Stadtverwaltung ließ die uralten, teils gewaltigen Baumriesen fällen, deren Holz versteigern. Das dazugehörige Land, in Parzellen aufgeteilt, wurde an Bürger zur Anlage von Schrebergärten verpachtet. Diese nur wenigen Quadratmeter großen Gärtchen waren natürlich heiß begehrt. Kleiner Schönheitsfehler: Die Pächter mussten zuvor die Baumwurzeln in Eigenarbeit aus dem Boden wuchten, ehe an eine Bebauung des Grundstücks zu denken war. Es entpuppte sich als Sisyphusarbeit, mehr Kraftreserven fordernd als durch Gemüseanbau zu gewinnen. Die Axt federte auf dem mühsam im Erdreich freigelegten Wurzelwerk zurück, durchtrennte das Holz oft erst nach dem wuchtig geführten fünften oder sechsten Hieb. Der noch verbliebene Reststamm war, nur mittels Eisenkeilen zerlegt, in eine der Ofenöffnung zugängliche Portion zu zerlegen. Der anfängliche Jubel über unverhofftes Pächterglück erwies sich als verfrüht. Zu allem Übel entwickelte sich der Sommer im Jahre 1947, an dem erstmals die harte Arbeit Früchte tragen sollte, zu einem sogenannten „Jahrhundertsommer“. Zwei Monate lang brannte jeden Tag, den Gott werden ließ, von morgens bis abends gnadenlos die Sonne vom Himmel. Drohten all die mühsam erworbenen, in den Boden gebetteten Pflänzchen, zu verdorren. Vor zentraler Wasserzapfstelle sammelten sich morgens und abends ganze Menschenschlangen mit Eimer und Gießkanne, um das dürftig aus dem Hahn tröpfelnde Nass oft hunderte von Metern zum bebauten Grundstück zu schleppen. Dort sog es der durstige Boden in geradezu unverschämter Geschwindigkeit in sich auf. So fiel die Ernte erwartungsgemäß nicht üppig aus. Obendrein musste das, was die Sonnenglut heil überstand, in nächtlicher Dunkelheit vor diebischem Zugriff mit Schlagstock und anderweitig martialischem Gerät mutig verteidigt werden. Zu diesem Zweck gründete man einen nächtlichen Wachdienst, der in wechselndem Turnus zu mehreren, mit Trillerpfeifen zusätzlich ausgerüsteten Personen das Areal bewachte. Oft genug fehlte am nächsten Morgen dennoch die am Abend zuvor noch halbreife Tomate, die man im Geiste schon vorweg genüsslich geerntet und verspeist hatte. Wilde Verdächtigungen kursierten ob solch schmerzlicher Verluste. Hatte die Aufsicht ihr Mandat zum unerwünschten Erntehelfer ausgeweitet oder einfach nur geschlafen, statt zu bewachen? Wie auch immer: Mir erschloss sich die ganze Wucht von Gottes Wort gegenüber Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies – „im Schweiße Eures Angesichtes sollt ihr …“ – in sehr anschaulicher Weise. Mit dem Herrn war offensichtlich nicht gut Kirschen essen, wenn in grauer Vorzeit das erste menschliche Pärchen am Baum der Erkenntnis verbotswidrig genascht hatte. Warum allerdings auch denjenigen das Verdikt in voller Härte traf, dem solch fürwitzige Erkenntniswut auch ohne vorhergehendes Verbot nie in den Sinn gekommen wäre, blieb unbegreiflich. Die Brücke zwischen Ursache in grauer Vorzeit und harter Realität in der Gegenwart erschien zu lang, um daraus eine für mich nachvollziehbare Kausalität zu basteln. Später lernte ich, dass der Theologe in diesem und ähnlich gelagerten Fällen mit der Erklärung aufzuwarten pflegte, dass Gottes Gerechtigkeit eben eine andere sei, als die des Menschen. Wer wollte da widersprechen? Zu solch tiefgründiger Erkenntnis hätte es keines Theologen bedurft. Mich hätte weiter brennend interessiert, warum Gott der Herr das so eingerichtet hat? An dieser Frage hatten sich schon vor Thomas von Aquin die Scholastiker abgearbeitet. Er selbst war unversehens wieder am Baume der Erkenntnis angelangt. Nein, eine Verbannung aus dem Paradies genügt. Man muss das Spielchen ja nicht unaufhörlich weiter treiben.
Nicht nur der Kampf um das tägliche Brot war wenig paradiesisch. Es gab auch andere hart umkämpfte Errungenschaften des Daseins, wie zum Beispiel Schnürsenkel. Sie sprengten den Etat eines Sozialhilfeempfängers zu damaliger Zeit. Der Versuch auf Ersatz auszuweichen, z. B. durch Verwendung eines Bindfadens, erwies sich als untauglich. Bei Regen löste sich die aus Zellulose zusammengezwirbelte Nachkriegsware in Wohlgefallen auf. Nun gab es schon damals auf dem Sozialamt für solche Härtefälle die Möglichkeit des Erwerbs eines Bezugsscheines. Zum Nachweis eines wahrhaft vorliegenden Härtefalls bedurfte es allerdings eines gewissen, peinlich genau einzuhaltenden Rituals: Der verschlissene Schnürsenkel war dem Beamten unaufgefordert bei Beantragung von Ersatz vorzulegen. Hoffnung auf Bewilligung war nicht nur daran gebunden, dass man sich als Sozialhilfeempfänger auswies. Zusätzlich musste der Schnürsenkel zuvor mindestens viermal gerissen und wieder verknotet sein, um vor den gestrengen Auflagen der Sozialgesetzgebung die Anerkennung seiner Hinfälligkeit zu erlangen. Noch heute unvergessen die zitternde Hand der Mutter, mit der sie die traurigen Restbestände eines Schnürsenkels dem Beamten über den Tisch schob. Der Herr trug Schnurrbart, fingerte aus der Schublade ein Vergrößerungsglas und begann, andächtig das Corpus delicti im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe zu nehmen. „Scheint ja tatsächlich verschlissen und nicht durchgeschnitten zu sein“, ließ er sich endlich vernehmen. „Wir kennen ja unsere Pappenheimer, die sich vorzeitig den ungerechtfertigten Bezug von Volksvermögen ergaunern wollen“, fügte er wie zur Entschuldigung erklärend hinzu, während die Lupe wieder in der Schublade verschwand. Die Wortwahl stammte noch aus dem „Tausendjährigen Reich“, war noch nicht in der bitteren Realität späterer Zeitrechnung angekommen. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln die Reaktion der Mutter. Erhaschte nur ein kaum merkliches Zittern der Oberlippe, auf der ein paar kleine Schweißperlen standen, die sie sich schnell mit dem Handrücken wegwischte. Es war ein tiefer Fall von der Frau eines angesehenen Arztes mit dienstbaren Geistern, Haus und Garten hinab zur alleinstehenden Sozialhilfeempfängerin mit drei Kindern. Inzwischen brachte das verbeamtete Gegenüber ungemein schwungvoll seine fast den ganzen Bezugsschein einnehmende, großspurige Unterschrift auf das kleine Stück Papier und reichte es mit der Geste eines Menschen, der soeben ein Vermögen verschenkt hat, über den Tisch. Den Bezugsschein für einen einzigen Schnürsenkel, versteht sich. Hätte sich der Schnürsenkel zu einem Paar verdoppelt, der Sozialstaat wäre womöglich aus den Fugen geraten. Seit dieser Zeit besteht für mich eine, genau besehen, durch nichts gerechtfertigte Aversion gegen Verwaltungsbeamte mit Oberlippenbärtchen, bei gleichzeitig raumgreifender Unterschrift. Ob man mit Gottes Gerechtigkeit doch besser bedient ist als mit der menschlichen Variante? Dem Beamtentempel entronnen macht der angestaute Groll Luft: „Ich hätte den Kerl in der Luft zerreißen mögen. Wie hältst du einen solch demütigenden und beleidigenden Umgang nur aus?“ Die lächelnd gegebene Antwort der Mutter blieb ebenso tief im Gedächtnis wie das Geschehen zuvor: „Mein Junge, wer mich beleidigt, bestimme ausschließlich ich selbst, sonst niemand!“ Welch wunderbarer Schutz vor der Nichtigkeit kleiner Geister und deren bewusst oder unbewusst in Szene gesetzten Bosheiten. Derart in Drachenblut gebadet spielt auch keine Rolle mehr, wenn bei Einlösung eines solchen Bezugsscheins dem Verkäufer im Laden gleich signalisiert wird: Hier bekommt ein Sozialhilfeempfänger, was ihm großzügig gewährt wird. Obendrein winkt dem Ladenbesitzer statt Gewinn nur lästige Lauferei. Er muss auf dem Sozialamt nachweisen, dass der von ihm als Vorschuss gewährte Verkaufspreis nach Abzug einer angemessenen Bearbeitungsgebühr durch das Amt nicht als Wucher ausgelegt werden kann. Kein Wunder, dass der Mutter erst im fünften Laden gelang, ein Stück Papier in einen Schnürsenkel zu verwandeln.
Auch die Möblierung des Esslinger Hauses war natürlich nicht auf die zusätzliche Unterbringung von vier Personen eingestellt. Im Gebrauchtmöbelmarkt wurden an Flüchtlinge