Wolfgang Seraphim

Attempto


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Edith Horn in einer recht abgelegenen Ecke des Schwabenlandes, dem kleinen verträumten Murrhardt mit ein paar tausend Einwohnern gestrandet. Inhaber eines geradezu klassischen Tante-Emma-Ladens. Damals noch ein nicht wegzudenkender Anker des täglichen Bedarfs in einem Ozean des Mangels. In dem Geschäft „Horn am Markt“ lagerten neben einem bescheidenen Fundus an Grundnahrungsmitteln wie Mehl und Zucker für die Einwohner auf Lebensmittelkarten, Reste von Stoffballen, Häkeldecken, Nähseide, Wolle, Stricknadeln, Reinigungsmittel für den Haushalt. Unter anderem ein Pulver zur Zahnreinigung in kleinen Pappschachteln, auf dem ein Tiger mit grellweiß blitzenden Zähnen um die Gunst des Kunden buhlte. Dieser Tiger mit der Pappschachtel hatte es mir besonders angetan. Schon nach wenigen Tagen machte ich mir zur Aufgabe, den etwas schleppenden Umsatz dieses Wohltäters der Zahngesundheit anzukurbeln. Sobald ich durch das Fenster der Ladentüre einen Kunden erblickte, öffnete ich von innen und hieß ihn mit freundlichem Diener willkommen. In den ersten Tagen sorgte das für einen meist dankbar registrierten Überraschungseffekt. Später begegnete man sich mit einem freundlichen Lächeln des Wiedererkennens. Beim Verlassen des Ladens kam der Moment der Bewährung: Noch ehe ich erneut die Ladentüre öffnete, fragte ich mit einem Lächeln, das mindestens ebenso viel Zahn zeigte wie der Tiger auf der Schachtel: „Haben der Herr/die Dame auch noch einen Vorrat dieses vorzüglichen Zahnreinigungsmittels?“ Neben dem nicht zu leugnenden Klein-Jungen-Charme verfehlte das Wörtchen „Vorrat“ in einer Zeit des Hamsterns nicht seine Wirkung. Der Verkauf florierte, eine telefonische Zusatzbestellung beim Großhändler wurde fällig und ich sah mich schon als den großen Zampano, der den Laden zu ungeahnten Höhenflügen führt. Leider währte dieses Glück der Selbstbestätigung nicht lange: Entweder putzten sich Murrhardts Bürger zu selten die Zähne, oder der Schachtelinhalt war vom Hersteller zu großzügig bemessen. Vielleicht krankte es auch an der geringen Einwohnerzahl. An der Konkurrenz konnte es nicht liegen – „Horn am Markt“ war konkurrenzlos! Wie auch immer, der Umsatz stagnierte alsbald deutlich. Für mich das Signal, sich nach einer anderweitigen Spielwiese umzusehen.

      Gegenüber vom Wohn-Geschäftshaus, in dem man Obhut gefunden hatte, stand die Volksschule, aus der die Schüler – immer wenn die Sirenen „akute Luftgefahr“ signalisierten, in Scharen herausströmten. Dabei ertönte aus Dutzenden von Kehlen ein „sauet, sauet!“, worauf ich mir keinen Reim machen konnte. „Des hoißt so viel wie reufla“, wurde ich von den Geschwistern Horn beschieden, was den Tatbestand nicht transparenter machte. Die Mutter half nach: „Lauft schnell“ war die Devise und die wurde zu damaliger Zeit fast täglich ausgegeben.

      Wann immer sich feindliche Flugzeuge Murrhardt näherten, wurde dieser Mechanismus in Gang gesetzt. Sehr sinnvoll war das nicht, denn es handelte sich immer um Bomberverbände, die mittlere Großstädte mit nennenswerten Industrie- und Rüstungsanlagen zum Ziel hatten. Mit beiden Attributen konnte Murrhardt erfreulicherweise nicht dienen. So geriet die häufige Unterbrechung des Unterrichts zu einer Art Happening, was die Schüler freute. Der Rest der Bevölkerung nahm das Sirenengeheul gar nicht mehr zur Kenntnis.

      Diese Sorglosigkeit sollte sich eines Tages als trügerisch erweisen. Es war zur Zeit der Schlüsselblumen, als ich zusammen mit einem Spielkameraden, auf einer Wiese oberhalb von Murrhardt, sogenannte „Judenstrickle“ rauchte. Auf Fingerlänge zurechtgeschnittene trockene Lianen, deren Rauch die Schlüsselblumenblüten beim Durchblasen braun färbten. Wieder einmal zog einer der Bomberverbände über Murrhardt hinweg, als sich plötzlich ein begleitendes Jagdflugzeug aus dem Verband löste, um sich wie ein Habicht auf eine im Bahnhof unter Dampf stehende Lokomotive zu stürzen. Die Bordgeschütze ratterten und schlugen Löcher in den Kessel der Lok, aus denen der Dampf zischte. Fasziniert starrten wir auf das Geschehen. Der Jäger drehte ab, zog nach oben und raste bei diesem Manöver auf die Wiese zu, auf der wir saßen. Plötzlich trat die Bordkanone erneut in Aktion. Die Geschossgarbe, eine Spur aufspritzender Erde vor sich her treibend, schoss in rasender Geschwindigkeit auf uns zwei Jungen zu. Reflexartig warfen wir uns rechts und links zur Seite. Wie vom Lineal gezogen hatte die Garbe genau die Mitte unseres ursprünglichen Sitzplatzes durchpflügt. In panischer Angst rannten wir dem Waldrand entgegen. Der Jäger raste noch einmal auf die Wiese zu. Inzwischen war aber der rettende Wald erreicht; wir warfen uns mit zitternden Knien auf den Boden, minutenlang unfähig, auch nur einen Ton von uns zu geben. Betreten und immer noch vor Angst schlotternd, schlichen wir nach Hause. Man verabredete, nichts von dem Vorfall zu erzählen. Ich, um der Mutter nicht noch nachträglich Angst einzujagen. Mein Spielkamerad befürchtete Prügel wegen Herumtreibens bei „akuter Luftgefahr“.

      Die Geschwister Horn, von den beiden Kindern Tante Edith und Tante Martha genannt, bildeten ein etwas altjüngferliches, aber liebevolles Paar. Edith war die Fröhlichere von beiden. Martha meist leicht fröstelnd, mit häufig laufender Nase und unvermeidlicher Wolljacke nebst Schal ausstaffiert. Sie vermittelte immer einen Hauch von Autorität ausstrahlender Unnahbarkeit. Die Ernährung, den allgemeinen Umständen entsprechend recht spartanisch, wurde zusätzlich durch eine kräftige Prise naturverbundenen Gedankengutes angereichert. Neben Kathreiner spielten verschiedenste Teeaufgüsse und die Lehre des Sebastian Kneipp eine oft gerühmte und auch praktizierte Rolle im Tagesverlauf. Auf der lausig kalten Toilette baumelten an gebogenem Draht, sorgsam in handliche Quadrate geschnitten, ältere Ausgaben des „Murrhardter Boten“. Gelegentlich, etwas weniger benutzerfreundlich, auch Werbebroschüren auf Hochglanzpapier aus dem Laden. Daneben gemahnte ein Plakat mit der Aufschrift „Schließlich tuet jeder klug, wenn er wieder füllt den Krug“ für rechtzeitigen Wassernachschub nach Erledigung eines umfangreicheren Geschäftes Sorge zu tragen. Woraus sich ergibt, dass es sich bei der vorhandenen Toilette um einen fortschrittlichen Donnerbalken handelte, bei der Abfallgrube und Toilettenschüssel durch einen mit Handgriff zu betätigenden Metalldeckel getrennt war. Das garantierte, insbesondere in der wärmeren Jahreszeit, eine als durchaus angenehm empfundene Verringerung der Geruchsbelästigung.

      Nach dem recht regelmäßig praktizierten sonntäglichen Kirchgang in der nahe gelegenen schönen alten romanischen Walterichskapelle galt es, die im Laden eingesammelten, in Pappkartons aufbewahrten Abschnitte der Lebensmittelkarten getrennt nach Nahrungsmittel mit Kleister zu bepinseln und auf Papier zu kleben. Die Abgabe dieser Bögen im Rathaus war Voraussetzung für den Lebensmittelnachschub im Laden.

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      Es ließ sich wohl nicht vermeiden, dass eines Tages meine Anmeldung in der gegenüberliegenden Schule nicht länger zu umgehen war. Nach eingehender Ermahnung zu Fleiß und Gehorsam übergab mich die Mutter hoffnungsvoll an der Klassenzimmertüre einer Lehrerin, die gerade einen Aufsatz schreiben ließ. Das Thema prangte in großen Druckbuchstaben an der Tafel: „Wie schüre ich meinen Ofen?“ Inzwischen hatte ich zwar schon etwas intensivere Einblicke in die ortsübliche Sprache gewonnen, aber „schüren“ war mir noch nicht begegnet. Immerhin reichte der Grips schon so weit, um sich auszurechnen, dass es sich dabei wohl um das Anfeuern des Ofens handeln müsse. Was sollte man sonst auch schon mit einem Ofen, schulaufsatztauglich betrachtet, anderes anstellen?

      Ob meine Ausführungen vor der Lehrerin Gnade fanden, war später nicht mehr erinnerlich. Wohl aber der zusätzliche Sprachgewinn bei der Tage darauf erfolgten Rückgabe der Aufsätze. Hier erschloss sich mir erstmals, dass „Spächtele“ aus in Kleinstteilen zerlegten Holzscheiten gewonnen werden, und was in Schlesien raucht in Schwaben „ruaselet“. Wie auch immer: Hochdeutsch war offensichtlich nicht das bevorzugte Idiom dieser Stätte kindlicher Wissensvermittlung … Mir sollte es recht sein: Auf diese Weise beschleunigte sich die sprachliche Integration des Kindes mit Migrationshintergrund, wie man dies, medientauglich-geschliffen, später einmal formulieren würde. Auch das zwischenmenschliche Miteinander gedieh prächtig – Kinder sind sehr flexibel, wenn man sie nur lässt.

      Schräg hinter der Schule stand eine Baracke, in der – es muss wohl Anfang März 1945 gewesen sein – ein Trupp amerikanischer Kriegsgefangener untergebracht war. Bewacht von einigen deutschen Angehörigen des Volkssturms. Deutschlands verzweifeltes letztes Aufgebot an Rentnern, Asthmatikern und sonstigen nicht mehr wehrtauglichen Rettern des „Großdeutschen Reiches“. Die Bewachten fielen durch ihre hervorragende Ausrüstung auf: Die Schuhe mit hohen Profilsohlen und aus widerstandsfähigem Leder bildeten einen grotesken Kontrast zum ärmlichen Schuhwerk ihrer Bewacher. Es war auf den ersten Blick