Wolfgang Seraphim

Attempto


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stehen müsse. Jahre später mit den verwüsteten deutschen Städten konfrontiert, in denen beim Bombardement im Feuersturm zigtausend Menschen einen qualvollen Tod starben, tauchte immer wieder jener Abend auf der Wiese mit dem Galgen aus der Versenkung. Die damals als Happening inszenierte „Aufklärung“ erhielt einen kaum zu überbietenden bitteren Beigeschmack. Der Realität angemessen: Einzigder Galgen …

      Mit acht Jahren, 1944, bekam ich Hitlers „Mein Kampf“ in die Hände. Noch gut in Erinnerung ging es schwerpunktmäßig um zwei Dinge. Erstens „Volk ohne Raum“ und zweitens „das Judentum als Kern allen Übels“. Das erste erschien so eindrücklich begründet, dass man keinen Widerspruch dagegensetzen mochte. Es war, bei dem mir als Kind sehr begrenzten Zugang zur Realität, zumindest nachvollziehbar. Es schien dringend geboten, das Großdeutsche Reich baldmöglichst größer werden zu lassen als es schon war. Punkt zwei blieb dafür umso rätselhafter. Daraus machte ich auch gegenüber der Mutter keinen Hehl. Ihre Replik war kurz und knapp: „Das wirst du erst verstehen, wenn du älter bist!“ Später verstand ich, warum die Mutter damals nicht wagte, eindeutig Stellung zu beziehen: Es wäre viel zu gefährlich gewesen, mir recht zu geben. Kinder neigen nun einmal dazu, am falschen Ort das Richtige zu sagen … Wenn es in Freystadt Juden gegeben haben sollte, war es mir nicht bekannt. Auch von deren tatsächlicher Verfolgung erfuhr ich erst, nachdem das Tausendjährige Reich bereits seinen Geist aufgegeben hatte. Den ganzen Umfang der Gräuel sogar erst 1955 – ein Jahr vor meinem Abitur! – als im Rahmen des Geschichtsunterrichts Filme gezeigt wurden, die Amerikaner 1945 nach der Eroberung von Konzentrationslagern gedreht hatten. Das Bildmaterial machte vor Entsetzen sprachlos. Die Eltern waren sich der Gefahr, die Juden damals drohte, durchaus bewusst: Seraphim, unser Familienname, konnte als hebräischer Plural durchaus ein Hinweis auf jüdische Abstammung sein. Grund genug für Vaters Bruder, Erhardt Seraphim, sich in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts intensiv mit Ahnenforschung zu beschäftigen. Das Ergebnis seiner Bemühungen: Die Familie sei im 12. Jahrhundert, im Rahmen der Ostkolonisation, vom Rheinland aus auf Wanderschaft gegangen. Dabei hat sich der Stamm gespalten: Eine Linie ging nach Nordosten, eine nach Südosten. Inzwischen sprach alles für das Reset: Zurück auf Anfang – eine baldige Wanderung zurück Richtung Westen …

      Dementsprechend gab es im Inneren des Hauses Hessestraße 3, um den Januar 1945, auffällige Veränderungen. Der Geschützdonner der Ostfront war Anlass, meine Schlafstatt vom ersten Stock in das wohl für sicherer gehaltene Damenzimmer im Erdgeschoss zu verpflanzen. Im Nebenzimmer stapelten sich zusammengerollte Teppiche. Wofür das alles? Man wollte wohl für eine schnelle Evakuierung mit Sack und Pack vorbereitet sein. Diese lief schon seit Wochen auf vollen Touren. Aus Ostpreußen wälzten sich lange Trecks von Pferdefuhrwerken durch Schlesien. Eine Karawane des Elends mit vermummt auf dem Wagen schwankenden, unglücklichen Gestalten. Zugedeckt mit ihrem Bettzeug, dennoch nur unzureichend geschützt der bitteren Winterkälte ausgesetzt. Es kursierten bedrückende Erzählungen von erfrorenen Säuglingen, die man im Schnee längs der Straße abgelegt zurückgelassen auffand. Ein hart gefrorener Boden verhinderte die Bestattung vor dem Weiterziehen. Zusammen mit der Schwester folgten wir einer vom Roten Kreuz angekurbelten Hilfsaktion und schmierten im Akkord Schmalzbrote für die durchziehenden Flüchtlinge.

      Die Mutter hatte schon 1944, mehr oder weniger freiwillig, an der Heimatfront mitgewerkelt. Sie lötete an Schalttafeln, die in die Elektronik deutscher Flugzeuge „für den Endsieg“ eingebaut werden sollten. „Sie lötete für Deutschland“ wie Vetter Jörg einmal so nett, anlässlich einer Geburtstagsfeier der Mutter Jahrzehnte später, formulierte. Die Klimmzüge an der Heimatfront waren gleichermaßen vielfältig wie rührend und ineffektiv. Das Winterhilfswerk, kurz WHW genannt, wurde ins Leben gerufen: Man sammelte Winterbekleidung für die Truppen an der Ostfront. Alle Skiausrüstungen sollten abgegeben werden – zur angeblich besseren Mobilität der deutschen Soldaten in Russland.

      Über der Kreissparkasse in Freystadt prangte ein großes Transparent mit einem Aufruf, der an den ersten Weltkrieg erinnerte: „Gold gab ich für Eisen.“ Eines Nachts hatte jemand das Transparent entfernt und stattdessen ein anderes Plakat angebracht: „Der Adler ist ein kluges Tier, er frisst das Gold und scheißt Papier“ stand da zu lesen. Natürlich wurde dieses „Dokument übelster Volksverhetzung“ umgehend beseitigt und eine Belohnung von tausend Reichsmark für denjenigen ausgesetzt, der Angaben für die Ergreifung der Übeltäter machen konnte. Doch schon wenige Tage später prangte erneut ein im Schutze der Nacht angebrachtes Plakat an gleicher Stelle: „Tausend Mark was heißt’s? Von dem was er frisst oder von dem was er scheißt?“ Die Initiatoren dieses „Plakatkrieges“ kann man nur bewundern. Einerseits ob ihres sarkastischen Humors, der sie in dieser ernsten Zeit nicht verlassen hatte, andererseits ob ihres Mutes, denn sie mussten sich darüber im Klaren sein, dass man sie umgehend standrechtlich erschossen hätte, wäre man ihrer habhaft geworden.

      Mit dem rollenden Geschützdonner war es um die Ruhe in der verträumten kleinen Kreisstadt im Januar 1945 geschehen. Der Kampf im Osten tobte am Oderübergang, nur 14 km von Freystadt entfernt. Eine Kakophonie aus johlenden Stalinorgeln und dem Trommelfeuer deutscher Geschütze. Da tauchte eines Abends, unvermittelt wie ein Bote aus fremden Sphären, eine gespenstische Gestalt auf. Ein Landser, hereingeschneit aus winterlicher Kälte, rieb sich die klammen Finger auf dem Küchenstuhl neben dem Herd. Unrasiert und abgerissen mit aschfahlem Gesicht und unendlich müden, tief in den Höhlen liegenden Augen. Sie wirkten erloschen und schienen in der Ferne etwas zu suchen, das unerreichbar jenseits des Raumes lag. Auf die Frage nach dem Woher und Wohin strich er sich langsam die wirren Haare aus der Stirn – und schwieg. Nach einigen Minuten – so als müsse er sich jedes einzelne Wort überlegen: „Bin mit meiner Knarre nach unten zwischen russischen Panzern durchgelaufen. Haben mich überhaupt nicht registriert. Dauert nicht mehr lange, dann sind sie da.“ Wie ein monolithischer Eisblock taute er langsam in der Wärme der Küche und der spürbaren familiären Geborgenheit ihrer Bewohner auf. Nur stockend berichtete er vom fast ungeordneten Rückzug der deutschen Truppen. Während ihm die Mutter in aller Eile Spiegeleier briet, stellte sie die Frage, die sie schon seit Wochen umtrieb: „Wohin soll ich mit meinen Kindern?“ Er zuckte hilflos mit den Schultern, beugte sich langsam vor, machte eine müde, weit ausholende scheinbar ins Unendliche deutende Armbewegung. Flüsternd, kaum hörbar aber doch eindringlich, stieß er hervor: „Abhauen, in Richtung Westen, so schnell wie möglich“, um nach kurzer Pause hinzuzufügen: „Solange das noch geht.“ Mehr war nicht aus ihm heraus zu holen. Er verschlang in wenigen Minuten sein Essen. Dann wankte er wortlos in Begleitung seiner abgewetzten Umhängetasche, an der die Feldflasche neben einem leeren Kochgeschirr baumelte, zu der rasch für ihn im ersten Stock zubereiteten Schlafstatt. Am nächsten Morgen war er, so wie gekommen, still und geheimnisvoll verschwunden. Wieder untergetaucht in einer für mich irrealen Welt, die in nichts mit einem behüteten Kinderdasein in Deckung zu bringen war. Es gibt Begegnungen, die sich unauslöschlich in die Festplatte eines Menschen einprägen. Die dazu passenden Worte fand schon vor Jahrhunderten Erasmus von Rotterdam: „Dulce bellum inexpertis“ – Süß ist der Krieg nur für jene, die ihn nicht kennen.

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      Es muss in den frühen Morgenstunden Anfang Februar zwischen 5 und 6 Uhr gewesen sein. Die Türe zur Schlafstätte wurde jäh aufgerissen, das helle Deckenlicht fast gleichzeitig blendend eingeschaltet. So roh und obendrein zu noch nachtschlafender Zeit hatte mich die Mutter noch nie aus dem Schlaf gerissen. Außerdem war sie sofort wieder aus dem Zimmer gelaufen, hatte mich nicht, wie sonst morgens üblich, liebevoll auf der Bettkante sitzend, wach geküsst. Der achtjährige Junge spürte sofort: Hier war alles auf Alarm gebürstet. Eine völlig neue Erfahrung. Kontrastprogramm zur bisher so behüteten Kindheit. Ein Bündel dicker Winterkleider flog auf die Bettdecke, ehe die Mutter weiter hastete. „Aufstehen! Anziehen!“, rief sie schon im nächsten Raum entschwindend. Da schwang viel gebieterischer Druck in ihrer Stimme. Völlig neu und zusätzlich zur Prozedur des ungewöhnlichen Weckvorganges so verwirrend, dass mein anfänglich aufkeimender Unmut umgehend erlosch. Während des Anziehens tauchte die Mutter erneut auf: „Wir müssen weg! Der Russe kommt!“ Kurz daraufhatte sich die ältere Schwester gähnend neben der Mutter am Esstisch eingefunden. Vor ihnen stand dampfend eine in Windeseile mit Brühwürfeln zubereitete Nudelsuppe. „Junge, trödle nicht rum. Fraglich wann