Wolfgang Seraphim

Attempto


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Zwiebelschale der warmen Winterkleidung, die zuvor noch auf der Bettdecke gelegen hatte. Dabei entdeckte ich auf der Kommode einen kleinen Zettel – Relikt der Ski-Spende für das „Winterhilfswerk“ zugunsten „unserer tapfer kämpfenden Truppen an der Ostfront“. „Soll der hier liegen bleiben?“ Die Mutter schaut den Jungen verstört an: „Sonst keine Sorgen?“ Das Gesicht der Mutter, eine einzige Mischung aus Angst und gehetzt sein. Vor einer halben Stunde hatte man an die Haustür geklopft: In wenigen Stunden verließ der letzte Zug Freystadt in Richtung Westen. Vielleicht die letzte Möglichkeit, den Russen auf dem Schienenweg zu entkommen. Vor wenigen Tagen war spät abends so schemenhaft der desertierte, unrasierte und unendlich müde Landser in abgerissener Wehrmachtsuniform aufgetaucht. Am nächsten Morgen so unvermittelt verschwunden, wie zuvor hereingeschneit.

      Beim Gang zur Haustüre tragen die beiden Kinder je einen kleinen, die Mutter einen großen Rucksack. Ich habe zusätzlich einen Zettel in Cellophan um den Hals: mit Namen, Geburtsdatum, Herkunft und als Reiseziel Süddeutschland. „Falls wir uns verlieren – man kann ja nie wissen.“ Ich fühlte mich kindlich entmündigt und begehrte gegen die fürsorgliche Plakatierung auf. Doch die Mutter blockte energisch jede Diskussion ab. Sie zieht die Haustüre von außen zu, verharrt einen Moment unschlüssig auf der obersten Stufe, den Blick auf den Schlüssel in ihrer Hand gerichtet. Abschließen? Offen lassen? Für wen? Dann gibt sie sich einen Ruck, steckt entschlossen den Hausschlüssel in das Schloss ohne abzuschließen. Als sie sich umdreht, huscht ein kurzes wehmütiges Lächeln über ihr Gesicht. Es erscheint plötzlich um Jahre gealtert. Die Oberlippe zittert. Der Schlüssel in ihrer Hand: Symbol einer von Endgültigkeit geprägten Entscheidung. Besiegelt der unwiederbringliche Verlust einer stolzen Epoche. Willkommen in ungewisser Zukunft!

      1945

       Auf der Flucht

      Dann stapften drei vermummte Gestalten mit ihren Rucksäcken die Hessestraße hinunter, Richtung Bahnhof. Nach wenigen Metern ging die Mutter noch einmal in das Haus zurück. Die Schwester lief langsam weiter Richtung Bahnhof, ich sollte warten. Es dünkte eine Ewigkeit, bis die Mutter endlich zurückkam. Zum ersten Mal seit Vaters Tod sah ich wieder Tränen in ihren Augen. Sie hatte wohl vergeblich nach irgendwelchen Dokumenten gesucht. Auf dem Bahnhof gab es keinen Personenzug, sondern ausschließlich einen Güterzug mit unter Dampf stehender Lok. „Der geht Richtung Westen“, so der Stationsvorsteher. Mehr wusste auch er nicht; weder Abfahrtszeit, geschweige denn sein Ziel im Westen. Also kletterte man mit vielen anderen Freystädtern in die mit Stroh ausgelegten Viehwaggons und harrte dort, auf dem Boden sitzend, der Dinge, die da kommen sollten.

      Langsam setzte sich der Zug ruckelnd in Bewegung. Die Türe des Waggons war einen Spalt weit offen geblieben. Der Blick schweifte über die im Sonnenlicht vorbeifliegende, glitzernde Schneelandschaft. Ich fand alles nur noch spannend. Mit einem Personenzug war man ja schon oft unterwegs gewesen. Aber ein Viehwaggon mit während der Fahrt halb geöffneter Tür, das hatte schon was Besonderes, war Abenteuer pur. Immer wieder wurde, oft auf freier Strecke, angehalten und somit das Problem des „Spatenganges“ gelöst. Man schlug sich seitwärts in die Büsche, ehe der Transport nach ausgedehntem Pfeifkonzert des Lokführers wieder Fahrt aufnahm. Irgendwann war dann an einem Bahnhof Endstation. Es begann die Zeit des Wartens. Die Züge schienen alle nur noch Richtung Westen programmiert. Als ob man gewiss sein dürfte, was dort zu erwarten sei. Aber es galt wohl als Ausdruck stiller Übereinstimmung: alles, nur nicht den Russen in die Hände fallen! Auf den Bahnsteigen herrschte atemberaubendes Gedränge, gepaart mit Ungewissheit. Wann fährt welcher Zug wohin? Wenn es überhaupt Lautsprecherdurchsagen gab, waren sie in dem Tumult kaum zu verstehen und obendrein sehr vage. Im Bahnhof stehende Züge waren bis auf die Trittbretter völlig überfüllt, Mütter riefen verzweifelt die Namen ihrer abhandengekommenen Kinder. Wenn ein leerer Zug einlief, wurde dieser nach allen Regeln der Kunst gestürmt. Koffer blieben zunächst auf dem Bahnsteig stehen und wurden anschließend durchs offene Fenster nachgereicht, ehe man auf gleichem Weg folgte.

      Irgendwann bei Kattowitz tauchte ein Mädchen, ca. 14 Jahre alt, im Zugabteil auf. Ihre Augen flackerten in tief liegenden Höhlen und mit zittriger Stimme bat sie um ein Stück Brot. Dabei schwankten die Hände weit ausgestreckt flehentlich von einem Mitreisenden zum nächsten. Die Mutter griff in ihren Rucksack, zauberte einen Brotlaib hervor, schnitt einen Ranken ab und legte ihn wortlos in die Hände des Mädchens. Das blasse Gesichtchen verschwand fast vollkommen hinter dem Brot. Vor meinen staunenden Augen war das Brot nach wenigen Minuten mit beiden Händen gierig in den Mund geschoben und herunter geschlungen. Eine Mitreisende murmelte betroffen: „Mein Gott, wir wissen ja selber nicht, wann wir uns irgendwo wieder etwas zu essen besorgen können.“ Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Die Mutter war die einzige geblieben, die sich von einem Teil der Notration für sich und die Kinder getrennt hatte. Ich spürte instinktiv: Was bisher als spannendes Abenteuer erlebt wurde, barg auch bedrohliche Aspekte, die ich bisher gnädig aus meinem kindlichen Gemüt verdrängt hatte. Gleichzeitig damit verbunden geriet die Mutter neben mir zum unerschütterlichen Fels in der Brandung. Vorsorgend gegen alle Gefahren gewappnet.

      In Leipzig war vorübergehend wieder Endstation. Die Rumpffamilie – der Bruder befand sich ja noch in Breslau – landete in einem Bunker. Hier kampierten, wieder in drangvoller Enge, auf Notliegen Hunderte von Flüchtlingen in gespenstischem Halbdunkel. Die Luft zum Schneiden dick. Angstschweiß entwickelt eine besondere Duftnote. Hier geriet sie zu unverkennbarer Dominanz. Das Rote Kreuz sorgte für Nudelsuppe. Sie wurde von der Mutter vorsorglich, nach dem Motto: „Zucker sparen grundverkehrt, der Körper braucht ihn, Zucker nährt“, mit diesem Kräfte spendenden Zaubermittel aus ihrer Notration angereichert. Diese Kombination war gewöhnungsbedürftig. Aber es gab zu jener Zeit noch ganz andere Dinge, an die sich zu gewöhnen erheblich mehr Überwindung kostete … Bis auf den heutigen Tag keine Nudelsuppe, ohne den Gedanken an diesen Zuckergeschmack auf der Zunge und an diesen Bunker in Leipzig. Für ein Kind geriet dieses Szenarium bald zu einer ätzend langweiligen Komponente seines Abenteuers. Für mich nicht mehr erinnerlich, wie lange sich dieser Abschnitt der Flucht hinzog. Auf jeden Fall war ich der Mutter sehr dankbar, als sie eine innere Unruhe ergriff, uns Kinder bei der Hand nahm, um wieder dem Abenteuer Bahnhof zuzustreben.

      Der Rest der Reise ist im Gedächtnis nicht mehr abrufbar. Ich erinnere mich aber noch sehr deutlich daran, plötzlich energisch wach gerüttelt worden zu sein. Es war stockdunkel. Immer noch hundemüde stolperte ich an der Hand der Mutter durch die bitterkalte Februarnacht. Ein vor Heißhunger brennendes Feuer in der Magengegend. Da standen wir, frühmorgens gegen vier Uhr vor einem Haus neben dem Marktplatz in dem kleinen schwäbischen Städtchen Murrhardt bei Backnang. Die Mutter drückte auf eine der zahlreichen Klingelknöpfe eines großen Hauses. Schlotternd vor Kälte spähte man gebannt in die Nacht. Rührt sich was? Noch heute sehe ich beim Blick in einen klaren Sternenhimmel die Giebelumrisse dieses Hauses unter den in der Kälte flimmernden Sternen. Wer um alles in der Welt nimmt zu nachtschlafender Zeit eine unbekannte Mutter mit zwei Kindern bei sich auf!? Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle hingelegt. Schlafen und nicht mehr aufwachen, der einzige Wunsch. Dann kam alles ganz anders. Die Mutter rief zu einem sich oben öffnenden Fenster hinauf. Es schloss sich, nachdem von dort nur ein einziges Wort zu hören war: „Allmächtiger!“ Lichter gingen an, und eine Stunde später lagen die drei Wanderer zwischen den Welten mit einer großen Portion Grießbrei im Bauch in den noch warmen Betten zweier mir völlig unbekannter alter Damen. Ein Erlebnis, das in der Seele eines achtjährigen kleinen Jungen tiefe Spuren hinterlässt. Gerührt von so viel Hilfsbereitschaft beschloss ich: Sollte ich später einmal zu Geld und Einfluss kommen, will ich notleidenden Menschen wieder ein wenig von dem zurückgeben, was eben dankbar empfangen wurde. Erst am nächsten Tag wird realisiert, dass die zwei alten Damen der Mutter gar nicht so unbekannt waren. Die beiden Schwestern, Edith und Marta Horn, waren der Mutter in ihrer jugendbewegten Wandervogelzeit begegnet. Damals, so erfuhr ich später, hatten sich die beiden Schwestern Horn in den Bruder der Mutter unglücklich verliebt. Es war ein meine Zukunft prägendes Erlebnis. Ich konnte nicht ahnen, zu welchen Ufern dies später noch tragen sollte. Auf jeden Fall stand ich an der Schwelle eines völlig neuen Lebensabschnitts.