Wolfgang Seraphim

Attempto


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zum Lokomotivführer wechselte. Man sollte sich mit der Realisierung seiner Berufswünsche Zeit lassen.

      Nur aus Schilderungen der Mutter – von den Geschwistern bestätigt – erfuhr ich, dass man den Jüngsten gerne bezüglich seiner Strapazierfähigkeit auf die Probe stellte. Im Sportwagen angegurtet bot die Kurve beim Übergang von der Hesse- in die Lorenzstraße das richtige Terrain zur Erprobung des „Elchtestes“, den der Sportwagen nicht bestand, der kleine Bruder aber unbeschadet über sich ergehen ließ. Auch die Fahrt mit demselben Vehikel die steile Bodentreppe hinab verlief ohne ernsthaftere Blessuren.

      Es herrschte eine wohltuende kindliche Sorglosigkeit, die z. B. den älteren Bruder dazu ermunterte, bei seiner jüngeren Schwester als Figaro tätig zu werden. Mit kühnem Schnitt ging er der weiblichen Lockenpracht zu Leibe – das Schwesterchen trug einige Wochen eine recht futuristische Frisur …Zur Weihnachtszeit hatte das Krippenspiel Konjunktur: Unter der Bettdecke leuchtete der ältere Bruder mit der Taschenlampe auf die Geschwister herab und rief nicht ohne Pathos: „Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ Die Freude war etwas einseitig, als die Mutter dahinterkam. Eigentlich hätten die Kinder zu dieser Zeit längst schlafen sollen.

      Wie alte Fotografien zeigen, hat der Vater wohl sehr liebevoll mit den beiden älteren Geschwistern gespielt, ich war dafür einfach noch zu klein. Mein Vater geriet zur Konkurrenz, wenn er für kurze Zeit von der Front auf Heimaturlaub nach Hause kam. Dann fiel das nachmittägliche Spielen mit der Mutter aus, weil sich – für mich völlig unverständlich! – die Eltern nach dem Mittagessen zu Bett begeben wollten. Als ich dann hinter verschlossener Schlafzimmertür geradezu beängstigende, sehr ungewöhnliche Geräusche vernahm, war meine Geduld erschöpft: Wütend trommelte ich mit den kleinen Fäusten gegen die Tür und forderte Einlass. Es gibt Dinge, für die sich der Sohn noch heute gerne bei seinen Eltern entschuldigen würde …

      Auch die Begleitung des Vaters durch das kleine Städtchen anlässlich eines Heimaturlaubs, blieb in keiner guten Erinnerung. Er trug zwar eine ungemein schicke Uniform, die er aber mit solch raumgreifenden Schritten spazieren führte, dass ich kaum zu folgen vermochte. Dieser Dauerlauf wurde immer wieder durch zeitraubende Gespräche mit irgendwelchen Bekannten unterbrochen, wobei man sich sehr angelegentlich nach dem jeweiligen Befinden erkundigte. Dies war wiederum für den Sohnemann geradezu ätzend langweilig. Weil er das sehr deutlich zu erkennen gab, konnte der Vater noch nicht einmal mit einem gut erzogenen Sprössling glänzen. Nein, die Beziehung zwischen Vater und seinem Jüngsten war nicht gerade das, was man als Erfolgsgeschichte bezeichnen würde. Die Verhältnisse, sie waren halt nicht so …

       Die Schatten des Krieges

       „Homo homini lupus.“

       Titus Maccius Plautus (ca. 254 – 184 v. Chr.) Nach der Übersetzung von Artur Brückmann: „Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein Mensch. Das gilt zum mindesten solange als man sich nicht kennt.“

      Ich war gerade fünf Jahre alt, als die Nachricht eintraf, dass der Vater in Russland „auf dem Feld der Ehre gefallen“ war, wie das damals so betulich heroisch formuliert wurde. „Dulce et decorum est pro patria mori …“ („Süß und ehrenvoll ist es, fürs Vaterland zu sterben.“). Auch ihm hatte man das sicher Jahre zuvor im Gymnasium vordeklamiert. Es hätte mich später einmal brennend interessiert, was der Vater von diesem Schwachsinn gehalten hat. Kurz zuvor war Gisela Hallup, die Sprechstundenhilfe, noch zu nächtlicher Stunde in Freystadt durch das Haus getanzt und jubelte: „Kiew ist gefallen!“ Ich konnte diesen Jubel nicht nachvollziehen. Daran hat sich bis in die Gegenwart nicht das Geringste geändert …

      Auch der letzte Feldpostbrief des Vaters ist noch erhalten. Hier ein Auszug:

       „Liebe Lydia! Wir stehen im Rücken der ukrainischen Hauptstadt und greifen heute an. Nach einem Tagesbefehl des Generals Reichenau steht die russische Südfront vor dem Zusammenbruch. Ein schöner klarer Herbsttag bricht an, die Nebel sind gesunken, heute früh ein kaltes Hühnchen verzehrt, das nächste Quartier heißt wohl für 8 bis 10 Tage wieder Erdloch. Wenn Du diesen Brief hast, dann ist Kiew bestimmt schon genommen und unsere Truppen vielleicht schon am Don. Es scheint hier wohl vor dem Winter schon Schluss zu werden, viele herzliche Grüße an Dich, Liebste, an Ernst-Johann und Mäuschen und Wölfi – eben war Fliegeralarm – ist schon vorbei! In Treue und Liebe Dein Hellmut. 22.9. Es geht mir gut. Viele Grüße aus Kämpfen südöstlich von Kiew. Hellmut“

      Stunden später für ihn das Erdloch, nicht für 8 bis 10 Tage – ein Erdloch für die Ewigkeit …

      Trotz des dünnen Eises, auf dem sich die Beziehung zwischen Vater und Sohn bewegte, ist mir bis auf den heutigen Tag kaum nachvollziehbar, warum mich der Tod des Vaters innerlich so wenig berührt hat, dass ich mich geradezu dafür schäme. Dieser Tod war damals, wie in späteren Jahren, nur deshalb schmerzlich präsent, weil es einfach unübersehbar war, wie sehr die Mutter unter diesem Verlust litt. Unendlich schwerer geriet ihr Leben in den Nachkriegswirren als Flüchtling und Sozialhilfeempfängerin mit drei Kindern ohne den starken Mann an ihrer Seite. Noch heute steht das entsetzte Gesicht von Armins Eltern vor mir, als ich ihnen, wie beiläufig, vom Tod meines Vaters berichtete. Armins Mutter schüttelte ungläubig den Kopf: „Mein Gott, der Junge weiß noch gar nicht, was das für ihn bedeutet!“, platzte es aus ihr heraus. Mutter und Gisel schlichen tagelang weinend durch das Haus. Es bedrückte furchtbar. Der ältere Bruder ging mit seinen 14 Jahren auf die Mutter zu und versuchte zu trösten: Ab sofort werde er an Vaters Stelle treten und für die Familie sorgen! Wie rührend diese kindliche Fürsorglichkeit des älteren Bruders. Ausdruck bemühter Ernsthaftigkeit in schon sehr jungen Jahren. Ein Spiegel höchst unterschiedlicher Wesensart der Brüder: Mir wäre selbst in weit fortgeschrittenem Alter so viel Verantwortungsbewusstsein nicht in den Sinn gekommen. Zwei Jahre später wurde der Bruder als Flakhelfer nach Breslau abkommandiert. Wie auf alten Bildern dokumentiert, ein schmächtiges kleines Bürschchen, dem das Kind noch aus allen Knopflöchern schaute. Ich habe ihn zusammen mit der Mutter dort in Kraftborn bei Breslau besucht. Die Flakgeschütze haben schon sehr beeindruckt. Ursprünglich hätte sich der Bruder zur Waffen-SS melden sollen. Irgendwie war es gelungen, dies zu umgehen.

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      Zu dieser Zeit setzte die Kinderverschickung ein, mit der man Kinder aus den bombardierten Rüstungszentren im Ruhrgebiet in ländliche Regionen verfrachtete. Man wähnte sie dort sicherer untergebracht. So marschierte man eines Tages auf den kleinen Freystädter Bahnhof, um eine Schar von Kindern in Augenschein zu nehmen, die dort etwas verlassen auf dem Bahnsteig herumstanden und darauf warteten, von einer Freystädter Familie auf Zeit „adoptiert“ zu werden. Das Ganze erinnerte bedrückend an eine Art Sklavenmarkt. Unvergessen ein kleiner Junge, der einen Spielbaukasten in die Höhe hob: Seht her, wer mich nimmt, der kriegt den Baukasten gratis frei Haus! Beim Blick zurück wird deutlich: Zum ersten Mal entstanden Risse in meiner bisher so heilen kleinen Welt.

      Lustiger ein Spektakel, das sich zu gleicher Zeit vor den Toren des Städtchens ankündigte. Nach vorab durch Lautsprecherwagen bekannt gemachtem Event pilgerte man zu einer grünen Wiese, auf der ein Galgen errichtet war, an dem eine mit Phosphor gefüllte Stabbombe baumelte. Die Feuerwehr war aufgefahren, aus dem Lautsprecher klang fröhliche Musik: „Am Abend auf der Heide, da küssten wir uns beide …“ Trotz der Absperrung, die das erwartungsvolle Publikum in gebührendem Abstand hielt, kam so etwas wie Volksfeststimmung auf. Nach einem Hornsignal löste sich die Stabbombe vom Galgen und landete ohne sonderlich spektakulärem Knall auf dem Boden. Aber es brannte wenigstens ein bescheidenes Feuerchen. Dies war das Signal für die Feuerwehr, in Aktion zu treten. Begleitend von erklärenden Worten aus dem Lautsprecher wurden die nutzlosen Löschversuche mit Wasser demonstriert. Anschauungsmaterial für die „Hinterlist des Feindes, der solch diabolisches Machwerk zum Einsatz bringt, um scheinbar hilflose Bürger umzubringen“, so schallte es über die Wiese. Aber eben nur scheinbar hilflos: Der deutsche Volksgenosse ist clever und weiß sich zu wehren, mit einigen Schaufeln Sand wird dem Spuk ein Ende bereitet. Mit dieser Botschaft: Seht her, der