erspäht, taten sich deren Bewohner an einer großen Schüssel mit herrlichen Brombeeren gütlich. Die Mutter hatte ihrem Sohn, quasi mit der Muttermilch, schon die elementaren Regeln kommunistischen Wohlverhaltens eingetrichtert. Auf den in dieser speziellen Situation zugeschnittenen Fall bedeutete dies: Was dein ist, ist auch mein. So sahen sich die Bewohner dieser stolzen Burg plötzlich mit zweierlei konfrontiert: erstens einem zusätzlichen Esser, zweitens einem Vielfraß, der sich, in dieser ihm sehr entgegenkommenden Konstellation, häuslich einzurichten wusste. Mit langsam einsetzender Dämmerung begannen sich die gastfreundlichen, neu gewonnenen Bekannten aber auch dahingehend Gedanken zu machen, dass ihre nicht ganz freiwillige Neuerwerbung noch irgendwo ein zweites Zuhause haben muss. Nach dieser Heimstätte befragt, drehte sich der kleine Mann kapriziös mit weit ausholender Armbewegung einmal um die eigene Achse und verkündete freudestrahlend: „Da wohnt meine Mutti!“
Eben diese Mutti war mittlerweile seit über einer Stunde verzweifelt auf der Suche nach ihrem abhanden gekommenen Sprössling. Wie dieser viele Jahre später erfuhr, war seine Großmutter nach dreiviertelstündiger ergebnisloser Suche fest davon überzeugt: „Den Jungchen hat sich das Meer geholt!“ Dass sie mit dieser Einschätzung keineswegs hinter dem Berg hielt, fand die Mutter besonders „tröstlich“… Von all diesen Abläufen hatte „der Ritter von der Brombeerburg“ nicht die geringste Ahnung. Umso überraschter war er deshalb, als plötzlich die Mutter vor ihm auftauchte, um den verlorenen Sohn, in Tränen ausbrechend, in die Arme zu schließen.
Zurück nach Freystadt. Auf praktisch autofreier Hessestraße kreuzte eher gelegentlich ein Pferdefuhrwerk auf. Als Nebenprodukt fanden sich Pferdeäpfel, von mir akkurat mit kleiner Schaufel eingesammelt und dem Gartenkompost zugeführt. Das erhebende Gefühl, auf diese Weise einen bedeutenden Beitrag zu den Erträgen des Gartens zu leisten, beflügelte mich, das Sammelgebiet auf angrenzende Straßen auszudehnen. Dieser Sammeleifer weckte bei der Mutter zwiespältige Gefühle: Einerseits wurde ein gewisses sich frühzeitig entwickelndes ökologisch-ökonomisches Verständnis anerkennend registriert. Andererseits wollte das Pferdeäpfel sammelnde Kind des Arztes nicht so richtig zu dem sozialen Status passen, den man in der kleinen Stadt einnahm. Ich registrierte auf jeden Fall einen deutlichen Rückgang anfänglicher Lobeshymnen. Der Sammeleifer erlosch. Letztendlich machte ja auch das Schleuderball- und Völkerballspielen auf der Hessestraße viel mehr Spaß. Hier konnten auch gefahrlos erste Balanceakte beim Erlernen des Radfahrens erprobt werden. Im Hinterhof von Armin Winklers Wohnung wurde im Winter eine Schneeburg gebaut, um die heftige Schneeballschlachten entbrannten.
Neben dem elterlichen Schlafzimmer im ersten Stock zelebrierten die Geschwister, oft unter Assistenz von Gisel, im Bad ihre Morgen- und Abendtoilette. Gisela Hallup, ein wahrer Engel, eigentlich als Praxishelferin gedacht, war bald voll ins Familienleben integriert und lebte auch im Haus. Von diesem Bad aus führte eine zweite Türe in das sogenannte „gelbe Zimmer“, in dem an der Decke, über einer darunter aufgestellten Liege, eine Höhensonne baumelte. Auf dieser Liege wurde jeden Abend, nach väterlichen Vorgaben, Gymnastik getrieben. Neben allgemeiner Gelenkigkeit stand die Stärkung der Rückenmuskulatur im Vordergrund. Danach hieß es: Schutzbrillen auf und unter der Höhensonne einige Minuten auf den Bauch, einige Minuten auf den Rücken. Das ganze ging meist mit großem Hallo und Gelächter über die Bühne, weil z. B. die Purzelbäume recht abenteuerlich gerieten. Zur Stärkung des Fußgewölbes, also Vorbeugung gegen Plattfuß, lief man, wann immer es ging, barfuß. Außerdem wurde im sommerlichen Garten „Kieselsteinwerfen“ gespielt: Man nahm hinter einer markierten Linie Aufstellung, krallte sich einen kleinen Kiesel abwechselnd mal unter die Zehen des rechten, mal unter die des linken Fußes und versuchte, den Stein so weit wie möglich wegzuschleudern. Als Kleinster wurde mir ein Vorsprung von mehreren Zentimetern eingeräumt. Nach zahlreichen Versuchen wurde der „Kieselsteinkönig“ ermittelt.
Es war schon recht beachtlich, was im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts rein spielerisch den Kindern in Sachen Körperertüchtigung und Prophylaxe untergejubelt wurde. Zusätzlich war geplant, eine Gouvernante einzustellen. Nur dazu ausersehen, mit den Kindern Englisch und Französisch zu sprechen. Getreu dem Motto: Als Kind spielerisch, ohne Pauken von Grammatik oder Vokabeln, Fremdsprachen zu erlernen. Dabei lag die Betonung auf spielerisch leicht. Es ging keinesfalls um Heranzüchtung früh begabter Wunderkinder! Leider machte der Krieg einen Strich durch diese Planung. Es sollte ja noch so unendlich viel mehr aus der Bahn fliegen.
Nach abendlicher Gymnastik durften die älteren Geschwister noch in ihrem Bett lesen. Als Jüngster landete ich, von der Mutter liebevoll begleitet, als Erster in den Federn. Auch dies lief nach festem Ritual ab: Beginnend mit einer kurzen Gutenachtgeschichte – meist aus Grimms Märchen. Diese besondere Schule des Herzens, die schon früh den Wertewandel im Leben aufzeigt und auf den Ritt in die Dornenhecken des Lebens vorbereitet: man denke nur an „Hans im Glück“! Es folgte ein beliebter Abzählreim, bei dem jede Silbe des Reims an den Fingern beider Hände abgezählt wurde. Es endete mit einem kurzen Nachtgebet. Darin wurde, neben allen im Hause lebenden Familienmitgliedern, jeder mit eingeschlossen, der einem gerade einfiel. Um niemand leichtfertig ungewollt auszuschließen, wurden zuletzt noch „alle lieben Menschen“ mit einbezogen. Gekrönt wurde alles mit dem Gutenachtkuss der Mutter. In diesem Zusammenhang konnte ich mich später nie an den Vater erinnern. Sei es, dass ich zu jung war, um im Gedächtnis zu bleiben, oder der Vater schon im Krieg weilte.
Die Unterbringung der Kinder im Säuglingsalter gestaltete sich differenziert: Bei Ernst-Johann, dem Erstgeborenen, stand die Wiege noch direkt neben den Ehebetten. Der nächstgeborenen Margarete wurde als Schlafdomizil das dem Elternschlafzimmer angrenzende Badezimmer zugewiesen. Als letzter im Bunde, wurde ich in die entfernteste Ecke des Hauses verfrachtet. Derlei Differenzierung durfte keineswegs als Ausdruck unterschiedlicher Elternliebe interpretiert werden. Es war vielmehr die im Laufe der Jahre gewonnene Frucht der Erkenntnis, dass derlei Distanz zur elterlichen Ruhestätte dem Schlaf von Mutter und Vater förderlich und dem Gedeihen des Kindes nicht abträglich war. Leider ist es bis heute noch nicht möglich, das letzte Kind vor dem ersten zu bekommen …
Nach dem Tod des Vaters durfte ich in das Ehebett neben die Mutter schlüpfen, was mich stolz und froh machte – ich empfand es als ausgesprochenes Privileg gegenüber den Geschwistern. Trotz aller mütterlichen Liebe entwickelte ich einige Eigenarten, die – milde formuliert – als verhaltensauffällig bezeichnet werden mussten. So war es über Jahre nicht möglich, mir das Daumenlutschen abzugewöhnen. Selbst mit Bitterstoffen getränkte Daumenverbände blieben erfolglos – ich wusste mich immer wieder davon zu befreien. Unübersehbar: Die orale Phase hatte mein kindliches Dasein voll im Griff. Zudem gewöhnte ich mir auch noch das „Kullern“ an. Ein rhythmisches Hin- und Herwenden des Kopfes unter teilweisem Miteinbeziehen des Oberkörpers. So wiegte ich mich, ohne inneren Leidensdruck, über viele Jahre mühelos in den Schlaf.
Ebenso unerklärlich die mich seit dem fünften Lebensjahr vorübergehend plagenden Nabelkoliken – gemeinhin Ausdruck irgendwelcher Verlustängste, die zu vom Vegetativum gesteuerten Krämpfen der glatten Muskulatur des Verdauungstrakts führen. Diesen Ängsten fehlte für mich jeder erkennbare Realitätsbezug. Die heftig-krampfartigen Oberbauchschmerzen mit Übelkeit verschwanden wie von Zauberhand, sobald ich bei der Mutter unter der Bettdecke ihre beruhigende Hand auf meiner Bauchdecke fühlte.
Jahrzehnte später half mir dieses Erlebnis, Eltern zu erklären, dass es keineswegs ungewöhnlich ist, wenn eines ihrer Kinder über heftige Oberbauchschmerzen klagt, für die die Durchuntersuchung keinerlei klärenden Hinweis auf einen krankhaften Organbefund ergab.
Beim gemeinsamen Bad mit der Mutter wird erstmals bewusst, dass der weibliche Körper in bestimmten Einzelheiten gegenüber dem männlichen unübersehbar unterschiedlich ausgestattet ist. Lange Zeit wollte ich nicht glauben, aus der mütterlichen Brust ernährt worden zu sein; obendrein noch einst aus dem Bauch der Mama herausgeschlüpft zu sein, führte zu ungläubigem Kopfschütteln.
Im Erdgeschoss lagen, links vom Hauseingang separat, die Praxisräume des Vaters. Rechts ging es in die weitläufige Privatwohnung mit relativ dunklem Flur, von dem eine knarrende Holztreppe bogenförmig in den ersten Stock führte. Unter der Treppe ging es hinab in den Keller. Mit diesem