des Vaters. Nur noch sehr verschwommen die Erinnerung an die Volkslieder und die zur Weihnachtszeit vor dem munter flackernden Kaminfeuer gesungenen Lieder. Gegenüber dem Kamin die dem Garten zugewandte Fensterfront mit sehr tief nach unten gezogenem großen Fenster und einer mit Marmorplatte abgedeckten Bank. Sie bot Platz für verschiedenste Topfpflanzen.
Diese blumenbestückte Fensterbank hatte schon in frühen Jahren mein Interesse geweckt. Vor einem Spaziergang der Eltern hatten sie den kleinen Mann, angegurtet im offenen Sportwagen in, wie sie meinten, sicherer Entfernung vor den Blumen „geparkt“. Der Jüngste langweilte sich und dirigierte mit schaukelnden Bewegungen des Oberkörpers das Gefährt zielsicher in Richtung Blumenbank. Dort angekommen wurde unverzüglich, zwecks Befriedigung naturwissenschaftlichen Entdeckerdrangs, der erste Blumentopf vom Fensterbrett geangelt und fest zwischen die Beinchen gepresst. Genauere Einblicke in den Aufbau von Pflanzen erfordert deren Zerlegung. Wie beim Studium der Botanik an jeder Universität noch heutzutage beherzigt. Selbst ohne zuvor in diese wissenschaftlichen Weihen unterwiesen, zeigte ich geradezu frühreifen Forscherdrang. Dem fiel zunächst ein Usambaraveilchen zum Opfer. Nach dessen fachgerechter Entlaubung galt es, die bunten Blütenblätter einer Kostprobe zu unterziehen, die diese Gaumenprobe offensichtlich bestanden. Es konnte schon bald Totalverlust registriert werden. Das Blattgrün erwies sich allerdings als resistent und füllte binnen Kurzem beide Backentaschen. Via Hamster wird eine bescheidene erste Brücke zur Zoologie erkennbar. Der Wissenschaft nicht würdig, wer sich, nach derlei dürftigen Anfangserfolgen, durch solche Petitessen auf dem Weg zur Vermehrung weiterer Einsichten in das Naturgeschehen aufhalten ließe. Was seine Schuldigkeit getan, darf hinter sich gelassen werden: Der hartleibig in der Blumenerde verbliebene Stängel wird, samt Topf, mit kühnem Schwung – ex und hopp – aus dem Wagen befördert und damit entsorgt. Nicht jede zusätzliche Horizonterweiterung ist zwangsweise schmerzfrei. Bei dem nun folgenden Objekt der Begierde handelte es sich um einen stachelbewehrten Kaktus. Der Wunsch nach innigerem Kontakt wird, da äußerst schmerzhaft, jäh beendet. Wer sich derart undankbar erweist, verdient keine genauere Begutachtung und folgt, unbesehen kurzer Hand, dem Weg des entlaubten Usambaraveilchens. Die Fixierung von Topf Nummer drei zwischen den Beinchen wird von der Ankunft der Eltern jäh unterbrochen. Mit sicherem Griff entleert der Vater beide Backentaschen des frühreifen Naturforschers und bringt damit das pausbäckige Kindergesicht wieder auf Normalmaß. Diffiziler gestaltet sich die Frage, wie gesundheitsschädlich erweist sich möglicherweise solch ungebremster Forscherdrang? Umgehend beim Apotheker telefonisch eingeholter Rat bremst unangebrachte Panik. Gleichzeitig die Empfehlung einer Reduktion des Mageninhalts durch tief in den Rachen eingeführten Finger. Außerdem weitere Wachsamkeit im Sinne genauerer Beobachtung bezüglich eventueller Auffälligkeiten in den nächsten Tagen. Eine Inspektion des Mageninhalts signalisierte beruhigende Entwarnung: Ich hatte uneingeschränkt dem Hamstereffekt den Vorzug gegeben. Die zusätzliche fürsorgliche elterliche Zuwendung wurde wohltuend registriert.
Im Reich des Vaters – der Praxis eines Landarztes Tücken kindlicher Anpassung
Vorbei an der Patiententoilette der Zugang zum Wartezimmer, dem sich rechter Hand ein Sprech- und ein Behandlungszimmer anschlossen. Hier entfernte der Vater an meinem linken Daumen im zarten Alter von zwei Jahren einen kleinen Knorpel in der Strecksehne. Eine winzige Narbe erinnert noch heute an den kleinen Eingriff. Die Arme der Mutter hielten mich, auf ihrem Schoß sitzend, eng umschlungen. Ängstlich bemüht, mein Gesicht vom Ort des Geschehens abzuwenden. Ich reagierte mit heftiger Gegenwehr, einschließlich lautem Gebrüll. Der Vater plädierte für mehr Transparenz, die dem Opfer durch Einblick zu gewähren sei. Sieh da: Die kleine Operation nahm den Sohn so gefangen, dass er keinen Mucks mehr von sich gab – frühe Faszination für einen spannenden Beruf.
Nicht minder aufregend das im Nebenraum installierte Röntgengerät. Gelegentlich erlaubte der Vater bei eingeschalteter Röntgenröhre die Hand hinter den Bildschirm zu halten. Das ergab einen freien Blick auf die vom Fleisch befreiten, gruselig aussehenden Fingerknöchelchen, die sich beim Schließen und Öffnen der Hand magisch vor dem Bildschirm hin und her bewegten. Mit solch einem Zauberapparat täglich umgehen zu dürfen, beflügelte den frühen Wunsch des Sohnes, einmal in die beruflichen Fußstapfen des Vaters zu treten. Außerdem suggerierte das werktäglich stets gut gefüllte Wartezimmer, dass der Vater nicht zur Arbeit gehen musste, sondern diese zu ihm kam. Ein Umstand, der im krassen Gegensatz zu den väterlichen Berufen meiner Spielkameraden zutage trat. Solch feine Beobachtung klammerte allerdings die Tatsache notwendiger Hausbesuche, selbst zu nachtschlafender Zeit, großzügig aus. Aber instinktiv ahnte ich, dass dieses Privileg etwas mit dem mir später als Erwachsenen geläufigen Begriff „Sozialprestige“ zu tun haben könnte. Also kein Wunder, dass ich auf die Frage: „Was willst du denn später einmal werden?“ wie aus der Pistole geschossen verkündete: „Arzt wie mein Vati!“ Als meine Patentante, Frau Amela Unger, eine altehrwürdige Dame, die sich um den Aufbau des Roten Kreuzes in Schlesien große Verdienste erworben hatte, sich mit diesem Berufswunsch ihres Patenkindes konfrontiert sah, legte sie gerührt die Hand auf meinen Kopf und meinte: „Das ist aber schön, dass du den kranken Menschen gerne helfen möchtest, wieder gesund zu werden!“ Derlei Fehlinterpretation löste energisches Kopfschütteln aus: „Nein, ich will das werden, weil die Menschen da zu mir kommen müssen und nicht umgekehrt!“ Die Reaktion auf so viel ungebremste Ehrlichkeit war eindeutig: Die eben noch huldvoll auf dem Kopf ruhende Hand entfernte sich blitzartig. Es folgte eine etwas peinliche Stille. Ich ahnte instinktiv: Da ist was schiefgelaufen.
Meine Kinderseele bewegten, fern jeglichen Marketings des eigenen Egos, andere Probleme. Schon früh bekam ich wie die Geschwister, ein Sparschwein. Wöchentlich mit zehn Reichspfennigen durch die Eltern gefüttert. Für ein Kind, das eigentlich nichts zu entbehren hatte, kein Grund zur Unzufriedenheit – sollte man meinen. Wäre da nicht Armin gewesen, der glatt das Doppelte bekam! Dies erschien mir in Anbetracht der offen zutage liegenden höchst unterschiedlichen finanziellen Grundvoraussetzungen beider Haushalte als Gipfel der Ungerechtigkeit. In schöner Regelmäßigkeit brach am Sonnabend erneut diese schmerzhafte Wunde auf. Galt es doch an diesem Tag zu entscheiden, ob man mit Armin gemeinsam zum Bäcker Schulz in der Lorenzstraße pilgerte, um dort sein wöchentliches Sparschweindeputat gegen ein Stück Zuckerkuchen einzutauschen oder sollte es mein Schweinchen mästen? Stolz verkündete Armin dann, dass ihm derlei Skrupel fremd sind: Zehn Pfennig für den Zuckerkuchen und zehn Pfennig für das Sparschwein, lautete sein Verteilungsschlüssel. Meine Bemühungen, ähnlichen Standard zu erreichen, waren gleichermaßen zahlreich wie vergeblich. Es war Bestandteil des Erziehungsprogramms, hier kein sowohl als auch zu ermöglichen, sondern ein entweder oder zu fordern. So wurde ein Entscheidungsmuster eingeübt, das zukünftig zu erwartenden Konfliktsituationen eher entsprach, da sie auf finanzielle Sparflamme ausgerichtet waren. Derlei höchst vernünftige erzieherische Überlegungen überforderten natürlich meine kindliche Einsicht. Die zehn Reichspfennige von damals sind heute die Designerklamotten. Nur das Niveau hat sich geändert, die grundsätzliche Problematik ist uns treu geblieben.
Letzte Jahre in Schlesien
Meine Erinnerungen an den Vater sind ähnlich blass wie das Zusammenleben mit den Geschwistern zu Freystädter Zeiten. Beim Vater liegt das daran, dass ich ihn leider viel zu selten bewusst erleben durfte. Die Ausfahrten im Sportcabrio kenne ich nur von Fotografien. Neben dem Vater, gut eingepackt in den Armen der Mutter. Zuletzt besaß der Vater einen DKW, mit dem er einmal bergab mit Rückenwind stolze 80 Stundenkilometer auf den Tacho zauberte. Damit wurden Ausflüge nach Neusalz, Glogau und Sagan unternommen. Ich erinnere mich nur noch an intensiv nach Teer duftende Kähne, die bei Neusalz am Ufer der Oder festgezurrt, still vor sich hin dümpelten. Das familiäre Drumherum ist verschüttet. Ebenso gelegentliche Besuche bei der Konditorei Hanke am Marktplatz in Freystadt. Neben dieser Konditorei existierte ein Friseursalon, den die Mutter in regelmäßigen Abständen zur Erneuerung ihrer Dauerwelle aufsuchte und dabei von mir, zwecks Reduzierung der eigenen Haarpracht, begleitet wurde. Die eigene Schur gestaltete sich kurz und schmerzlos. Die Mutter saß dagegen eine gefühlte Ewigkeit unter der Haube. Ich vertrieb mir währenddessen die Zeit vor dem Laden,