Wolfgang Seraphim

Attempto


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wurde – warum auch immer – im November 1931 im 14 km entfernten Krankenhaus in Neusalz entbunden. Er starb am 18.2.35 im Krankenhaus in Grünberg an den Folgen einer tuberkulösen Hirnhautentzündung. Für die Eltern war klar: Sie wollten unbedingt wieder ein drittes Kind. Diesem Wunsch – ausgelöst durch den Tod des kleinen Bruders – verdankt Wolfgang sein Leben.

      Schon der Eintritt in das irdische Dasein dokumentiert einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber den Eltern, der ihn in seiner Kindheit nur selten verlassen sollte: Artig begrüßt er pünktlich um 7:45 Uhr – 15 Minuten ehe einen Stock tiefer die Sprechstunde des Vaters beginnt – mit kräftigem Schrei das Licht der Welt in den fürsorglichen Armen des Vaters. Zuvor hatte dieser gegen 7:30 Uhr mit sorgenvollem Blick registriert, dass der Sprössling noch keine Eile erkennen ließ, den Sprung aus der Wärme mütterlicher Geborgenheit in die kalte Umwelt zu wagen.

      Fast alle Märchen beginnen mit einem traumatischen Ereignis. Der märchenhafte Vorgang einer Geburt macht da keine Ausnahme. Neues Leben beginnt mit dem Verlassen der Komfortzone. Mit der Durchtrennung der Nabelschnur beginnt erstmals, was zukünftig permanent auf uns alle zukommt: das Abschiednehmen. Ein Sich-trennen-Können, auch von Dingen, die uns vertraut und lieb geworden sind. Wenn wir genügend Zeit hatten, klug zu werden, fällt uns der letzte Akkord des Lebens, das Sterben, nicht mehr schwer. Seneca: „Das ganze Leben lang muss man lernen zu leben, das ganze Leben lang muss man lernen zu sterben.“

      Dem Vater bleibt noch genügend Zeit für eine eingehende Begutachtung des kleinen Bündels quicklebendigen Lebens vor Beginn seiner Praxis. Bei dem neuen Erdenbürger sitzt alles an der richtigen Stelle und erfüllt somit seine göttliche Ordnung. Mit diesem erfreulichen Befund landet der Junge vom stolzen Vater in den Armen einer glücklichen Mutter.

      Dieses Kind Wolfgang, das war ich.

      1897 – 1927

       Woraus der Spross entsprungen – die Wurzeln der Eltern

      Wie sehen die Wurzeln dieser Ordnung aus, in die ich da hineingeboren wurde?

      Mein Vater, Hellmut, ist der älteste von drei Brüdern, deren Vater – einer durch Generationen gepflegten Tradition treu geblieben – Jurist war. Der hatte ab 1890 eine angesehene Rechtsanwaltspraxis in Mitau, (russisches Protektorat). Er verwaltete unter anderem das Vermögen großer Rittergutsbesitzer wie den Barrings. Ab 1902 wechselte er nach Königsberg, wiederholte seine juristischen Examina, um seine Söhne davor zu bewahren, bei einer drohenden kriegerischen Auseinandersetzung im russischen Militär gegen Deutschland kämpfen zu müssen. Er muss ein bedeutender Mensch gewesen sein, dieser Großvater. Als er in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts starb, folgten seinem Sarg fünf Tausend Trauergäste – so wenigstens der Bericht einer Königsberger Zeitung. Der Kommentator konnte sich auch nicht verkneifen anzumerken, dass dem Verstorbenen die zahlreichen Lobeshymnen an seinem Grab zutiefst zuwider gewesen wären. Dem Großvater war auf jeden Fall immer ein Kummer, dass ausgerechnet sein ältester Sohn Hellmut keinen Gefallen an der Juristerei fand. Er studierte Medizin, nachdem er als Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg in Flandern das Sterben an der Front, den Mangel an qualifizierten Ärzten, erlebt hatte. Der Krieg als „Vater aller Dinge“ prägte seinen Berufswunsch, der Krieg beendete sein Leben. Als er 1941 bei Kiew zwei Sanitätern zu Hilfe eilen wollte, die verletzt wimmernd vor Schmerzen im Niemandsland zwischen den Fronten lagen, wurde er von russischen Scharfschützen tödlich getroffen. Er selbst hatte nie eine Waffe auf einen Menschen gerichtet. Er konnte nicht einmal ein Tier erschießen.

      Auf zahlreichen Wanderungen, z. B. in den Semesterferien, bewies Hellmut – wohl von der Mutter geerbt – dichterisches Talent. Als ihnen unterwegs das Geld ausgeht, textet er in einem Telegramm an den Vater: „Sie denken arglos wie sie sind, es sorgt der Vater für das Kind.“ In dem Gästebuch einer Jugendherberge an einem masurischen See fand sich ein längeres Gedicht aus seiner Feder mit dem wunderbaren Refrain: „Drum lieber Freund, mach’s wie die Heil’gen, die Heil’gen Drei vom heil’gen See, trink jeden Morgen Schnaps statt Kaffee, trink jeden Abend Wein statt Tee.“ Ein dezenter Hinweis auf das keineswegs alkoholfeindliche Ostpreußen, wo bei Einladungen an geistigen Getränken nicht gespart wurde. Im Hause des Großvaters wurde nach dem obligatorischen Toast „auf das Wohl seiner Majestät des Kaisers“ das Glas erhoben, um „auf Alle, die wir lieben“ anzustoßen.

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      Wie aus einer anderen Welt, die Herkunft der Mutter. Keineswegs ärmliche, aber doch vergleichsweise bescheidene Verhältnisse, mit Wurzeln auf der Schwäbischen Alb. Da hatten die Tochter der Wirtin vom „Gasthaus zum Rößle“ aus Berghülen und ein Schirrmeister der Ulanen in Ulm zueinander gefunden. Von ihren Ersparnissen erwarben sie im Ruhestand ein schmuckes kleines Reihenhaus mit Garten in Esslingen am Neckar. Sie drängten bei ihrer Tochter auf eine abgeschlossene Berufsausbildung als Hauswirtschaftslehrerin, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in diesem Umfeld bemerkenswert fortschrittlich. Eben typisch schwäbisch, solide, praktisch.

      Wie haben diese zwei Welten zueinander gefunden? Mutter und Vater folgten den gemeinsamen jugendbewegten Idealen, wie sie sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im „Wandervogel“ dokumentierte. Dessen geistiger Vater, Johannes Müller, Kristallisationspunkt, um den sich mehr oder weniger Gleichgesinnte scharten. In sogenannten „Nestabenden“ philosophierten sie über Gott und die Welt, pflegten das Volkslied mit der Klampfe, den Volkstanz in der Tracht. Unternahmen über Wochenende oder Ferien gemeinsame Wanderungen mit Lagerfeuer und spartanisch-einfachen Hüttenübernachtungen. Einem on dit zufolge ging es dabei gemäß dem strengen Codex des „Wandervogels“ sehr gesittet zu.

      Es war ein Wandervogeltreffen Anfang der zwanziger Jahre in Stuttgart, das die Eltern erstmals zusammen brachte. Pikanterweise verliebten sich alle drei Brüder in das Mädchen vom Lande. Bisher noch ohne festen Freund, von amourösen Abenteuern ganz zu schweigen, ereilte sie so viel geballte Zuwendung recht unvermittelt. Die drei Verehrer wurden gemeinsam in das elterliche Domizil eingeladen, auf dass der Ratlosigkeit der Unschuld vom Lande Abhilfe zuteilwerde. Für sie entwickelte sich Hellmut, der älteste und Mediziner, zum Favoriten, vor dem Juristen und dem Historiker. Praktischerweise wurde sie mit ihrer Wahl von der Mutter bestärkt, die sich für ihre Tochter „auch nur den Hellmut“ vorstellen mochte. Roma locuta, causa finita!

      Hellmut steuerte zu dieser Zeit, noch im Stocherkahn seine Hausbesuche absolvierend, über die idyllische Seenplatte von Masuren. Seine Entlohnung, bei der nicht mit Reichtümern gesegneten Landbevölkerung meist in Naturalien gewährt, ließ die Zusammenstellung des täglichen Speiseplans leichter bewerkstelligen als die Bereitstellung der morgendlichen Kleiderordnung. Er löste die Verlobung mit einer schwarzhaarigen ostpreußischen Schönheit, heiratete seine Lydia – Kosename Lylein – und entschied sich für eine Existenzgründung als niedergelassener Landarzt im niederschlesischen Freystadt. Diese verträumte kleine Kreisstadt mit noch nicht einmal siebentausend Einwohnern, war nicht mit besonderen Attraktionen gesegnet. Auch wenn es über altes Gemäuer verfügte, das sich Schloss und Kloster nannte. Aber es barg in seinen Mauern immerhin eine Schule, ein Kino, eine Apotheke, Konditorei und Friseur. Gesellschaftlich tonangebend waren in dieser kleinstädtischen Idylle ein Regierungsrat vom Landratsamt, ein Zahnarzt, Apotheker und Schulrektor Wehner, der sich gemeinsam mit dem Landarzt Seraphim eine Doppelhaushälfte in der weder gepflasterten noch geteerten Hessestraße teilte.

      1936 – 1945

       Eine traumhaft schöne Kindheit

       „Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was drin war. Aber ein ganzes Leben rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln, wie er will.“

       (Heimito von Doderer)

      Es war eine goldene Kindheit, in die ich mit meinen Geschwistern hineingeboren wurde. Fern und noch nicht zu erkennen die dunklen Wolken, die am Himmel